A. Holzem u.a. (Hrsg.): Ehe - Familie - Verwandtschaft

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Titel
Ehe - Familie - Verwandtschaft. Vergesellschaftung zwischen Religion und sozialer Lebenswelt


Herausgeber
Holzem, Andreas; Weber, Ines
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Rohmann, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Seit der Sozialanthropologe Jack Goody 1983 die Mittelalterforschung mit seinen Thesen über die systematische Schwächung der verwandtschaftlichen Loyalitäten durch die christliche Kirche provozierte, ist die Diskussion über die Verwandtschaftsstrukturen im vormodernen (westlichen) Europa nicht mehr abgerissen. In jüngster Zeit hat ein internationaler Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um David Warren Sabean und Simon Teuscher Max Webers These von der Verwandtschaftsfeindlichkeit des Christentums zu Ende gedacht und eine massive Zunahme familialer Bindungen in der Neuzeit postuliert.1 Auch Albrecht Koschorke rekurriert in seinem viel diskutierten Essay „Die Heilige Familie und ihre Folgen“ auf die Diskussionen über den Einfluss des Christentums auf die gesellschaftlichen Grundstrukturen Europas.2 Ebenso hat Michael Mitterauer eine Akzentverschiebung von den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ursprüngen der Familienforschung zu den religiösen und kulturellen Deutungsmustern vollzogen.3

So ist es nur folgerichtig, wenn nun auch die Kirchengeschichte nach den Wechselwirkungen von religiösem Diskurs und verwandtschaftlichen Strukturen fragt. Sie tut dies im vorliegenden Band allerdings ausdrücklich weniger aus theologischer als wiederum aus sozialgeschichtlicher Perspektive. Drei zentrale Aufgaben haben die Herausgeberin und der Herausgeber ihren Beiträgern gestellt: Sie fragen nach 1.) den religiösen Begriffen, Normen und Deutungsmustern im Feld von Familie und Verwandtschaft; 2.) dem Verhältnis zu Herrschaft und Ökonomie und der Eigengesetzlichkeit der Lebenswelt; 3.) dem Verhältnis von religiösem Ideal und sozialen Prozessen. In grob chronologischer Ordnung, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, werden diese Fragen für das europäische Christentum und Judentum von der Antike bis zur Moderne durchgespielt.

Auf die eben erwähnten aktuellen Forschungstrends beziehen sich nur die Einführung und Joseph Morsel, der nicht nur seine viel diskutierte These über die spätmittelalterliche Soziogenese des Adels als sozialer Formation und des adeligen Geschlechts als spezifischer Herrschaftsstruktur auf die Fragestellung des Bandes hin fokussiert4, sondern zudem einen stupend informierten Überblick zur neueren mediävistischen Forschung zum Themenkreis bietet. Die „Entverwandtschaftlichung“, so Morsel abschließend, ging weniger auf die Rechnung des Christentums als auf die der Kirche. Nicht religiöse Sinnsysteme, sondern soziale Strukturen konfligieren demnach miteinander,– womit er droht, sich von der ihm eigenen analytischen Trennschärfe in die Aporien eines eindimensionalen Basis-Überbau-Denkens treiben zu lassen. Der tridentinische Katholizismus war, anders als der Protestantismus, bis ins 18. Jahrhundert nicht auf die Familie fokussiert, sondern einerseits auf die individuelle Glaubenspraxis, andererseits auf die kirchliche Frömmigkeit und ihre öffentliche Performanz, wie Andreas Holzem zeigt. Dies könnte helfen, die These von der Verwandtschaftsfeindlichkeit des Christentums zu differenzieren. Weiter zeichnet Holzem nach, wie die kirchliche Gerichtsbarkeit vergeblich versuchte, ihr sakramentales Konzept der Ehe und die damit verbundenen sexuellen Reinheitsansprüche gegen die traditionalen Eheanbahnungsstrategien der ländlichen Gesellschaft durchzusetzen. Ehe, Familie und Verwandtschaft, so Holzem, entwickelten sich weitgehend überkonfessionell. Aber wurden, so bleibt zu fragen, die Modelle für diese Entwicklung nicht doch eher auf protestantischer Seite entworfen? Denn, so Thomas Kaufmann im Gefolge Stephen E. Buckwalters, die Wittenberger Reformation richtete sich früh auf Familie und Ehe als zentrale Instanzen der frommen Lebensführung aus. Das „Haus“, zunächst durchaus noch im Sinne der mittelalterlichen familia, ersetzte das Kloster als Zentrum des christlichen Lebens. Mit dem Ideal asketischer Jungfräulichkeit verlor das Christentum in seinen reformatorischen Ausprägungen also einige seiner verwandtschaftsfeindlichen Aspekte – wobei der Stellenwert dieser besonderen Entwicklung in der allgemeineren Bewegung zur Linearisierung und Intensivierung von verwandtschaftlichen Strukturen seit dem 15. Jahrhundert erst noch zu erforschen wäre. Andreas Gestrich postuliert hingegen (unter Rekurs auf Luther), dass in christlicher Tradition die Familie ein zentraler Ort der religiösen und moralisch-ethischen Unterweisung gewesen sei. Für seinen Untersuchungszeitraum, das 18. und 19. Jahrhundert, gilt dies sicherlich, wie Gestrich in einem materialgesättigten Aufriss zeigt. Seit der Industrialisierung entstand mit der Arbeiterfamilie eine spezifische Form des Zusammenlebens, derer sich die katholische Seelsorge annehmen konnte. Wie Claudia Hiepel für das Kaiserreich und Josef Mooser für die Weimarer Zeit ausführen, war die Betonung der Familie als „Keimzelle“ der Gesellschaft auf katholischer Seite ein genuines Produkt des „zweiten konfessionellen Zeitalters“. Auch Till van Rahdens Beitrag über die Kritik am autoritären Patriarchat im Zeichen einer „demokratischen Vaterschaft“, wie sie nicht etwa erst von den notorischen Achtundsechzigern, sondern bereits 20 Jahre zuvor in der katholischen Familienpastoral formuliert wurde, ließe sich für die Diskussion über den Einfluss der Religion auf den Wandel der Verwandtschaftsstrukturen in der europäischen Geschichte nutzbar machen. Hugh McLeod hingegen untersucht für Großbritannien in den 1960er-Jahren weniger den Einfluss der Religion auf die Familie als vielmehr die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die Religiosität.

Einige andere Beiträge stehen in der Tradition der Kontroverse um Otto Brunners „Ganzes Haus“ (auch: Holzem, unkritisch: Hiepel), oder lassen sich zumindest bei der Lektüre auf diese beziehen. Georg Schöllgen thematisiert das „Haus“ als ekklesiologische Metapher in der Spätantike. Der Bischof wurde als Verwalter im Auftrag des Hausvaters Gott konzipiert. Diese Vorstellung war verbunden mit der Ausbildung umfassender Solidaritätsverpflichtungen auch gegenüber Nichtverwandten – worin ein zentraler Anknüpfungspunkt für die Suche nach den Hintergründen der christlichen Verwandtschaftsfeindlichkeit liegen dürfte. Nicht erwähnt werden die ähnlichen Untersuchungen Ulrich Meyers.5 Heike Grieser beschreibt das Zusammenleben von Herrn, verwandtschaftlich konstituierter Kernfamilie, Freigelassenen und Sklaven in der spätantiken Hausgemeinschaft der familia. Kirche und Christentum durchbrechen diese Struktur: Kleriker verlassen ihre familia; in der Hausgemeinschaft Gottes ist der pater familias ein Bruder seines eigenen Sklaven; andererseits legitimiert Gott als pater familias auch den weltlichen Hausvater. Heinrich Richard Schmidt (mit gutem Forschungsüberblick) weist am Beispiel des reformierten Milieus darauf hin, dass unbeschadet der Kritik an Brunners Projektionen in der Frühneuzeit das „Haus“ als Leitidee zentrale Bedeutung hatte. Der Patriarchalismus war also Programm, wenn schon nicht soziale Realität.

Zum zentralen Problem für die kirchliche Einflussnahme auf die Lebenswelt wurde früh die Ehe. Judith Evans Grubbs zeichnet die vielschichtigen Aushandlungsprozesse zwischen Kaiser, senatorischem Adel, christlicher Kirche und Bevölkerung nach, die zwischen Konstantin und Justinian im Ergebnis zu einer Christianisierung des Eherechts führten. In der Forschung weit verbreitet ist die Vorstellung, in der frühmittelalterlichen Gesellschaft sei die formelle, religiös begründete monogame Eheschließung die Ausnahme und eine in der Rechtsform variable, ressourcenorientierte Polygamie die Regel gewesen. Ines Weber hingegen postuliert nun schon für das Frankenreich eine durch christliche Wertvorstellungen geprägte Regelhaftigkeit der monogamen Konsensehe als Produkt einer Aushandlung zwischen den beteiligten Gruppen. Zu überprüfen wäre freilich, inwieweit die von ihr präsentierte Fülle von normativen Quellen tatsächlich Rückschlüsse auf die soziale Realität zulässt, inwieweit nur auf die Wünsche von Kirche und Hof. Und wie wurde in der Ehe mit dem Besitz umgegangen? Zumindest schlaglichtartig beleuchtet Gabriela Signori, was ehedidaktische Schriften des 15. Jahrhunderts für den Umgang mit dem von den Eheleuten gewonnenen Gut empfahlen.

Als Vergleichsfolie und zugleich als Untersuchungsfeld für mögliche Wechselwirkungen bietet sich die jüdische Parallelgesellschaft an. Eckart Ottos Darstellung von Ehe und Verwandtschaft im antiken Judentum leidet hier und da unter anachronistischen Projektionen (etwa der, sexuelle Normenbrüche fänden „in der Regel im Verborgenen statt“, S. 66) und der Orientierung an Vorannahmen der älteren Verwandtschaftsanthropologie. Wie im aschkenasischen Judentum des Mittelalters die Witwe, die zuvor vom Erbrecht ausgeschlossen und daher nur notdürftig versorgt gewesen war, de facto (nicht aber de iure) zur Alleinerbin ihres Mannes wurde, beschreibt Birgit Klein. Sie erklärt diese Tendenz zur Stärkung der materiellen Rechte der Frauen aus der zunehmenden Reduktion jüdischer Erwerbsmöglichkeiten auf Geldgeschäfte. Doch haben nicht jüngere Forschungen gezeigt, dass die jüdische Bevölkerung keineswegs auf finanzielle Tätigkeiten festgelegt war? Diese Vielfalt der Erwerbsformen klingt etwa im Beitrag von Frauke von Rohden an. Dass vor dem Hintergrund der weiblichen Berufstätigkeit das Verhältnis der Eheleute auch in vom Anspruch her normativen Texten sehr unterschiedlich geschildert werden kann, zeigt von Rohden für das Umfeld der Prager Jüdischen Gemeinde im späten 16. Jahrhundert. Auch in Thomas Lackmanns Schilderung der langwierigen und vielfältigen Konversionsbewegungen im Hause Mendelsohn (-Bartholdy) im 19. Jahrhundert schließlich finden die Schlüsselbegriffe des Bandes Erwähnung.

Wie im Tagungsbetrieb üblich, wird eine Kohärenz der Beiträge recht eigentlich erst durch die sehr instruktive Einführung der Herausgeberin und des Herausgebers hergestellt. Der weite Untersuchungszeitraum, die Zusammenschau von christlicher und jüdischer Gesellschaft, zudem die Versammlung von verschiedenen Disziplinen – all dies führt zu einem methodischen, theoretischen und inhaltlichen Konglomerat, angesichts dessen bei der Lektüre gelegentlich aus dem Blick zu geraten droht, worüber überhaupt zu sprechen ist: Verwandtschaftsstrukturen? Ehe- oder Ehegüterrecht? Familienleben? Frömmigkeit in der Familie? Der chronologische Aufbau suggeriert zudem eine Entwicklungsgeschichte, die von den zum Teil sehr speziellen Beiträgen nicht eingelöst wird, zumal für die Zeit vom Ende des Karolingerreiches bis zum 14. Jahrhundert eine Lücke klafft. Und auch handwerklich liegen Licht und Schatten nahe beieinander: Manche Beiträge bieten elaborierte Untersuchungen von hohem Erkenntniswert, manche fassen die Ergebnisse von Monografien problemorientiert zusammen. Andere jedoch zeigen, gelinde ausgedrückt, eher das Gepräge einer gewissen Vorläufigkeit. Studierende, so steht zu hoffen, werden sich diese nicht zum Vorbild nehmen. Die erhebliche Zahl von Lektoratsfehlern zeigt die Sparsamkeit des Verlages. Den Herausgebern wird man all diese Beanstandungen nicht anlasten wollen; allenfalls dieses: zuviel gewollt zu haben.

Anmerkungen:
1 David Warren Sabean / Simon Teuscher / Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term-Development (1300-1900), New York 2007.
2 Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2001 (1. Aufl. 2000).
3 Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, 4. Aufl. München 2004 (1. Auflage 2003), S. 83-86.
4 Vgl. ausführlicher: Joseph Morsel, L’aristocratie médievale. La domination sociale en Occident (Ve-XVe siècle), Paris 2004.
5 Ulrich Meyer, Soziales Handeln im Zeichen des „Hauses“. Zur Ökonomik in der Spätantike und im früheren Mittelalter, Göttingen 1998.

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