A. Grafton: The Art of History in Early Modern Europe

Titel
What was History?. The Art of History in Early Modern Europe


Autor(en)
Grafton, Anthony
Erschienen
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
£35.00, $68.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Droste, Department of History, Södertörns University College, Stockholm

Was war Geschichte? Anthony Grafton stellt diese Frage in Anlehnung an die noch immer lesenswerte Einführung „Was ist Geschichte?“ von E. H. Carr aus dem Jahr 1961.1 Carr skizzierte sein Fach als von Methoden und Theorien gesteuerte Wissenschaft. Grafton formuliert denselben Anspruch für die Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit. Er tut dies zudem an derselben Stelle wie Carr, im Rahmen der G. M. Trevelyan Lectures an der Cambridge University. Grafton hielt dort im Winter 2005 vier Vorlesungen, 44 Jahre nach Carr.

Grafton setzt sich damit ein hohes Ziel. Die von ihm skizzierte ars historica war eine primär an rhetorischen Fähigkeiten geschulte Kunst der Geschichtsschreibung. Sie hatte ihren Vorläufer in der humanistischen Gelehrsamkeit und erlebte eine lange Blüte vom 16. bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert. Aus heutiger Sicht verschwindet sie allerdings im Windschatten der seit dem 18. Jahrhundert etablierten Geschichtswissenschaft als einer ars critica. Die meisten der hier vorgestellten Historiker sind daher selbst unter Fachhistorikern unbekannt. Graftons Buch ist eine mit Leidenschaft vorgetragene Ehrenrettung. Er will zeigen, dass diese Historiker, die über Europa verteilt waren – mit dem üblichen Schwerpunkt im Süden und Westen Europas – intensiv über ihre Kunst nachdachten, dass sie miteinander um die beste Form der Geschichtsschreibung stritten und dass „none of them was a dull dog“ (S. 125).

Folglich hebt er etwa den hohen Stellenwert der Quellenarbeit hervor, die sich keineswegs nur auf schriftliche Quellen beschränkte. Damit einher gingen Diskussionen über den Wert der jeweiligen Quellen. Einzelne Historiker verwandten zudem viel Mühe auf umfangreiche Quelleneditionen. Diese Quellenarbeit basierte auf detaillierten methodischen Überlegungen, die wiederum in ausführlicher Form von verschiedenen Historikern veröffentlicht wurden. Grafton bietet weitere Beispiele für die Wissenschaftlichkeit dieser Historiker, die stark an heutige Diskussionen erinnern.

Die ars historica war freilich keine eigenständige Kunst. Sie stand vielmehr in enger Beziehung zur Rhetorik wie zur Jurisprudenz, wobei beide wiederum klare Vorgaben an den Nutzen der Geschichtsschreibung machten. Sie sollte rhetorisches Vorbild sein und verwertbares Wissen zu rhetorischen Zwecken bereithalten. Dieser Bezug zur Rhetorik fand etwa seinen Niederschlag in langen Debatten zur Rolle der direkten Rede innerhalb historischer Darstellungen. Diese Reden, die von den Historikern zumeist bewusst entworfen oder auf der Grundlage von Vorlagen gestaltet wurden, erfüllten eine wichtige Funktion innerhalb der Darstellung. Sie sollten rhetorische Vorbilder liefern, an denen die Leser sich abarbeiten konnten. Darüber hinaus sollten sie Politikern klare Anweisungen geben, wie sie sich in ähnlichen Situationen unter Bezug auf das historische Vorbild zu verhalten hatten. Ebenso nützlich war die Geschichte für die Jurisprudenz, die selbst gänzlich durch eine historische Betrachtungsweise geprägt war. Geschichte und Jurisprudenz gingen eine Art Ehe ein, die laut Grafton als „ancient, natural and necessary“ (S. 70-71) aufgefasst wurde.

Eine andere Form der rhetorischen Verwendung von Geschichte lag in der Erstellung von Zitatensammlungen, die die Geschichte in Bausteine aufteilte, loci communes, die wiederum zur Gestaltung von Texten oder Reden eingesetzt werden konnten. Der größere historische Zusammenhang trat dabei ganz hinter der Schönheit der Zitate und Exempla zurück. Grafton ist sich selbstverständlich bewusst, dass diese Methode aus heutiger Sicht höchst zweifelhaft ist. Es hat allerdings den Anschein, als sehnte er sich nach einer rhetorisch lebendigeren Form der Geschichtsschreibung, die den zuweilen trockenen Stil der strengen Wissenschaftlichkeit verlässt: “Wolfgang Lazius, the immensely learned medical man whose inky spoor marks hundreds of manuscripts in the Austrian National Library, was a genuinely erudite collector and antiquary, and he desperately sought solid information about such burning questions as the exact size of the Roman foot. But when he set out to trace the origins of the German peoples, he too felt the hot, intoxicating breath of the spirit of invention on his cheek, and succumbed.” (S. 150)

An die Seite analytischer Kapitel zu Fragen von Methode und Theorie stellt Grafton auch drei Fallstudien, drei biographische Skizzen von Historikern des 16. Jahrhunderts. Francesco Patrizi (1529/30-1597) war ein italienischer Philosoph, der in Ferrara und Rom lehrte. Reiner Reineck (1541-1595), ein Melanchthon-Schüler, unterrichtete in Helmstedt; er war zudem Hofhistoriker der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg. Jean Bodin (1530-1596) schließlich war französischer Jurist und einflussreicher Staatstheoretiker. Alle drei werden von Grafton in Biographie und Werk skizziert; tatsächlich erweist sich keiner von ihnen als ein ‚langweiliger Hund’.

Grafton versucht freilich nicht nur, die Blüte der ars historica zu beschreiben. Er will darüber hinaus aufzeigen, in welcher Weise deren Vertreter sich von ihren humanistischen Vorgängern unterschieden und – wichtiger noch – inwiefern die Vertreter der ars critica seit dem 18. Jahrhundert auf ihrem Erbe aufbauen konnten. Die sich im 18. Jahrhundert ausbildende kritische Geschichtswissenschaft weigerte sich freilich, das von Grafton beschriebene Erbe anzuerkennen, was zu dem eingangs erwähnten Verdrängen der Erinnerung an diese Historiker führte. Hier liegt die mit Verve vorgetragene Aufgabe Graftons, wobei sich gelegentlich der Verdacht einstellt, Grafton könnte die methodische wie theoretische Originalität der Historiker des 16. und 17. Jahrhunderts rhetorisch anreichern, um diesem Ziel gerecht zu werden.

Nichtsdestoweniger hat Grafton eine äußerst anregende, durch viele Quellenzitate lebendig gestaltete wie lesenswerte Studie vorgelegt. Sie beschreibt alternative Modelle von Wissenschaftlichkeit sowie eine Tradition des Fachs, die weit über das 18. Jahrhundert hinausreicht. Das ist ein wichtiges Projekt, zumal es zum Nachdenken über die Grundlagen moderner Wissenschaftlichkeit anregt. Heutige Debatten über den gesellschaftlichen Nutzen historischer Erkenntnisse wie ihre Verwertbarkeit, aber auch über die Rolle der Geschichtswissenschaft in der Politikberatung kommen seltsam bekannt vor. Es ist Zeit, die Zukunft der kritischen Wissenschaft Geschichte zu überdenken. Grafton bietet reichen Stoff zu ihrer Herkunft und ein echtes Lesevergnügen.

Anmerkung:
1 Edward Hallet Carr, What is history? London 1961.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension