C. Vietzke: Funktionäre und Arbeiter in Großbetrieben der DDR

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Titel
Konfrontation und Kooperation. Funktionäre und Arbeiter in Großbetrieben der DDR vor und nach dem Mauerbau


Autor(en)
Vietzke, Christoph
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen - Schriftenreihe A: Darstellungen 36
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Müller, Ravensburg

Ein zentrales Thema der sozialgeschichtlichen DDR-Forschung ist seit nunmehr 20 Jahren die Durchsetzung und Abwehr von Herrschaftsansprüchen der Staats- und Parteiführung in den Betrieben, die wichtige Rückschlüsse auf den Charakter und die reale Machtfülle der SED-Diktatur insgesamt zulässt. In dieser Diskussion verortet sich auch Christoph Vietzkes Dissertation zu "Konfrontation und Kooperation" von Arbeitern und Funktionären in ausgewählten Großbetrieben. Vietzke baut dabei auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Mikrostudien auf, von denen viele am oder um das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung entstanden sind.1 Gegenstand seiner Studie sind drei Großbetriebe im Zeitraum 1959 bis 1965. In diesen Jahren durchlief die DDR-Wirtschaft entscheidende Entwicklungen und Krisen, von denen der auch im Titel genannte Mauerbau 1961 sicherlich der von außen sichtbarste Einschnitt war.

Die drei untersuchten Betriebe sind der VEB Carl Zeiss Jena, der VEB Transformatorenwerk "Karl Liebknecht" Oberschöneweide (TRO) in Berlin und der VEB Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) in Eisenhüttenstadt (bis 1961 Stalinstadt), die sich in zentralen Punkten deutlich unterscheiden: Zeiss war wohl eines der traditionsbewusstesten Unternehmen der DDR, dessen Entwicklung durch die spezifischen Verknüpfungen mit der Carl Zeiss-Stiftung und dem Zeiss-Schwesterbetrieb in Westdeutschland geprägt wurde. EKO markierte als SED-gesteuerte Neugründung das andere Ende des Spektrums, und das TRO stand als ehemaliges Werk des AEG-Konzerns irgendwo dazwischen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Verhalten der Funktionäre und der Arbeiter auf den Ebenen der zentralen Betriebsführung, der Betriebsteile und der einzelnen Brigaden bzw. Abteilungen. Vietzke beobachtet vor allem ihre Konflikt- und Konfliktvermeidungsstrategien und fragt nach potenziellen Bündnissen zwischen Funktionären und Belegschaften gegen Anforderungen von außen.

Die Arbeit gliedert sich nach einer Einleitung, in der die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Arbeiter- und Funktionärsgeschichte der DDR reflektiert werden, in vier Kapitel mit einzelnen Fallstudien aus den drei Beispielbetrieben. Die Fallstudien widmen sich in Kapitel 2 der Betriebsverbundenheit bei Werkleitern und Parteifunktionären, in Kapitel 3 wird der Frage nach der Existenz von "Abteilungspakten" gegen die Betriebsführungen nachgegangen. In Kapitel 4 werden Strategien der Herrschaftssicherung in den Jahren vor und nach dem Mauerbau vorgestellt, hier wird insbesondere der Einsatz von "Brigaden der sozialistischen Arbeit" thematisiert. Schließlich werden in Kapitel 5 verschiedene Beispiele von Arbeiterverhalten innerhalb und außerhalb der Brigaden vorgeführt, um die Bedingungen eines Zusammenhalts der Arbeiter zu beobachten.

Für die Gruppe der Werkleiter und Parteisekretäre bestätigt Vietzke bisherige Forschungsergebnisse, die eine weitgehende Handlungs- und Entscheidungsfreiheit betonen. Die Mitglieder dieser Führungsebene waren keineswegs nur Rädchen im Planungsprozess, sondern strategisch handelnde Akteure, die gegen übergeordnete Stellen ihre Interessen und die ihrer Betriebe formulierten. In den präsentierten Beispielen wird deutlich, welche Energien Partei- und Staatsorgane entfalteten, um vor Ort ihre Macht zur Geltung zu bringen und "Betriebsegoismen" zu bekämpfen, und wie sie dabei an Grenzen stießen. Das gilt unter unterschiedlichen Vorzeichen für alle drei Betriebe.

Ein Schlüsselthema war dabei die Kaderpolitik. Bei Zeiss wird am Beispiel des stellvertretenden Werkleiters Herbert Weiz nachgezeichnet, wie stark die Betriebsverbundenheit wirkte und wie stumpf die Waffen der SED dagegen waren. Ursprünglich war Weiz nach Jena geschickt worden, um den Zeiss-loyalen Werkleiter abzulösen, aber nach wenigen Jahren wurde er selbst vom Virus der Betriebsloyalität ergriffen. Am Beispiel EKO zeigt Vietzke hingegen, wie der neu errichtete sozialistische Vorzeigebetrieb seine starke Stellung in der Region nutzte, um die Gremien und Institutionen von Staat und Partei personell zu unterwandern und eigene Interessen durchzusetzen. Im TRO war die Lage wiederum anders, ökonomische Probleme führten zu wachsendem Misstrauen in der Partei und zunehmenden Einsätzen von Sonderbrigaden vor Ort.

Vietzkes Studie liefert wichtige Erkenntnisse zur Gruppe der Parteisekretäre, die oft nur kurz auf ihren Posten verweilten. Obwohl sie explizit der SED und damit den übergeordneten Zielen verpflichtet waren, entwickelten sie sich fast ebenso häufig wie die ökonomischen Leiter zu Interessenvertretern ihrer Betriebe. Fragwürdig ist allerdings die Aussage, dass die meisten Parteisekretäre aus dem Betrieb selbst kamen, während bei den Werkleitern die Regel galt, externe Kandidaten zu ernennen: Vietzke selbst kann dies nur für sieben von zwölf Parteisekretären nachweisen, während fünf nicht aus den Betrieben selbst kamen. Für eine klare Aussage scheint das eine etwas dünne Datenbasis zu sein. Bei den Werkleitern fügt sich insbesondere der erste und 20 Jahre lang bestimmende Zeiss-Chef Hugo Schrade nicht in die Argumentation ein; bei einem Betrieb wie EKO, der gerade erst neu gegründet wurde, ist es schwierig, von "internen" Kandidaten zu sprechen. Insgesamt wünscht man sich hier etwas mehr biografisches Material über die Funktionäre und ihr Verhältnis zum Betrieb oder zur Branche.

Ein schöner Beleg für die Handlungsfreiheit des Managements zeigt sich in der Untersuchung der Lohnpolitik: In einer Zeit, als in der DDR dezentrale Organisationsformen als "revisionistisch" galten, delegierten alle drei Werkleitungen die Normpolitik an die Betriebsteile. Dies führte aber nicht zu einer besseren Kontrolle der Normarbeit, sondern zu einer Solidarisierung zwischen dem mittleren Management und den Arbeitern in den Betriebsteilen, die Vietzke als "Planerfüllungspakt" beschreibt. Damit arbeitet er heraus, dass auch das mittlere Management Möglichkeiten hatte, gegen die Planpolitik Lohnerhöhungen durchzusetzen. Vietzke betont hier die Bedeutung eines "Abteilungspaktes" zwischen Funktionären und eigenen Arbeitern, also der auf das eigene soziale Umfeld begrenzten Solidarität der Belegschaften. Interessanterweise trat dieses Phänomen vor allem im EKO auf, während es bei Zeiss nur schwach ausgeprägt war. Gerade der Betrieb mit der größten "SED-Ferne" setzte daher die Lohnpolitik ganz im Sinne des Regimes um.

Zu den Brigaden der sozialistischen Arbeit stellt Vietzke fest, dass es kaum zu "Verselbständigungstendenzen" kam, wie sie in der älteren Literatur behauptet werden: Die Brigaden funktionierten als "weiches" Herrschaftsinstrument zur Einbindung der Belegschaften und lösten damit repressive Instrumente ab. Zu betonen ist, dass für diese Entwicklung der Mauerbau keine wichtige Zäsur darstellte, insofern ist seine Nennung im Buchtitel ein Hinweis auf Kontinuitäten und nicht auf einen Bruch. Das gilt ebenso für den Zusammenhalt der Arbeiter, dessen verschiedene Formen auch außerhalb der Betriebe beleuchtet werden. Wichtig waren hier alltägliche soziale Kontakte und nicht übergeordnete Kollektividentitäten wie Staat, Partei oder Gesamtbetrieb. Von älteren Konfliktlagen wirkte vor allem noch der Gegensatz zwischen Arbeitern und Intelligenz fort.

Insgesamt hat Vietzke zu allen drei Betrieben umfangreiche Quellen erschlossen und wichtige Erkenntnisse zu ihren Unternehmensgeschichten sowie zur Gesamtdiskussion um Herrschaftsstrukturen und Rollen bzw. Verhalten von Arbeitern und Funktionären in der DDR-Wirtschaft erarbeitet. Die empirischen Ergebnisse werden im Kontext der sozialgeschichtlichen Forschung diskutiert und schlüssig eingeordnet. Einiges hätte aber auch in einen weiteren Rahmen kulturwissenschaftlicher Modelle und Diskussionen eingebunden werden können, denn letztlich geht es bei der Untersuchung von Macht und Interessen immer auch um Fragen der Identität, der Sinnstiftung, der Kollektiv- und Teilkulturen sowie der Kommunikationsmedien und ihrer Rezeption. Diese Begriffe und Konzepte bleiben aber leider außen vor, obwohl sich viele der beschriebenen Phänomene nicht aus rein materiellen Interessenlagen ableiten lassen. Doch bleibt festzuhalten, dass der gewählte Ansatz einer vergleichenden Mikrostudie auch ohne diese Modelle trägt und im Rahmen des formulierten Anspruchs neue Erkenntnisse für die DDR-Forschung bereitstellt.

Anmerkung:
1 Zuletzt zusammengefasst bei Christoph Kleßmann, Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn 2007.

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