M. Schwartz u.a. (Hrsg.): Laien, Lektüren, Laboratorien

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Titel
Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860-1960


Herausgeber
Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 71,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Wessely, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Zeitgleich mit der Spezialisierung naturwissenschaftlichen Wissens und der Ausdifferenzierung der akademischen Fachdisziplinen verstärkte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts seitens einer breiten Öffentlichkeit der Wunsch nach einer Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissen und damit einhergehend die Forderung, darauf außerhalb der Akademien und Universitäten auf „gemeinverständliche“ Art und Weise Zugang zu erlangen. Die Popularisierung von Wissen schien geeignet, diesem Verlangen Rechnung zu tragen. Dem Begriff der Wissenschaftspopularisierung scheint seither ein solches Potential zu eigen, dass er nicht nur zu einem zeitgenössisch ubiquitär eingesetzten Schlagwort geriet, sondern bis heute im Zentrum wissenschaftshistorischer Untersuchungen zu finden ist, die sich für das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, für die Verfahren der Kommunikation und Distribution wissenschaftlichen Wissens und dessen damit stets einhergehenden inhaltlichen und ästhetischen Transformationen interessieren.

Bereits vor mehr als zehn Jahren hat Andreas Daum eine wegweisende Studie zur Geschichte der Wissenschaftspopularisierung in Deutschland zwischen 1848 und 1914 vorgelegt, die den bezeichnenden Untertitel „Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit“ trägt. Die Entwicklung der Wissenschaftspopularisierung in Deutschland sei dabei nur in ihrer Eigenschaft „als essentielle[r] Bestandteil der bürgerlichen Kultur“ zu verstehen, wobei „Wissenspräsentation und ideologische Interpretation“ im Sinne eines dezidiert bürgerlichen Welt- und Gesellschaftsverständnisse „nie zu trennen“ wären.1 Angesichts der unauflöslichen Verschränkung bürgerlicher Kultur und populären Wissens nimmt es nicht Wunder, dass die Forderung, „die entstehenden Fachwissenschaften auf ein größeres Publikum hin zu öffnen und allgemeinverständliche Informations- und Rezeptionsmöglichkeiten zu schaffen“ in Ländern mit anders gelagerten sozialen und politischen Kontexten grundlegend anders formuliert wurde.2 Gleichzeitig legt diese Feststellung nahe, dass auch die künstlerischen und literarischen Aneignungen wissenschaftlichen Wissens anderen Logiken folgten.

Der von Matthias Schwartz, Wladimir Velminski und Torben Philipp herausgegebene und auf den Workshop „Laien, Lektüren, Laboratorien. Populäre Diskurse in Russland zwischen Wissenschaftstransposition und Wissenstransformation 1860-1960“ zurückgehende Sammelband widmet sich der Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens und dem Wechselverhältnis von Künsten und Wissenschaften in Russland und der Sowjetunion von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Anhand von insgesamt dreizehn Fallstudien wird dabei deutlich, dass tatsächlich „an das bisher anhand von westeuropäischen Beispielen erarbeitete Interpretationsparadigma der (Natur)Wissenschaftspopularisierung [...] unmittelbar nicht angeknüpft werden“ kann, und dass die wechselseitigen Diskursaneignungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Populärkultur teilweise strukturell völlig anders gelagert waren als dies in westeuropäischen Ländern, insbesondere in Deutschland, der Fall war (Polianski, S. 72).

Folgt man etwa der Analyse von Igor J. Polianski, der in seinem Beitrag die in den 1920er-Jahren betriebene sozialistische „Umwandlung“ der Wissenschaft, ihrer Begriffe und Methoden beschreibt sowie das damit zusammenhängende Bestreben, die Wissenshierarchie zwischen wissenschaftlichen Experten und „dem Volk“ im Rahmen einer genuin „sowjetischen Populärwissenschaft“ neu zu bestimmen, wird klar, dass die Geschichte der Wissenschaftspopularisierung in Russland und der Sowjetunion nicht einfach als Um- oder Neucodierung von aus dem westeuropäischen Diskurs bekannten Kategorien zu denken ist. Auch die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst in Russland und der Sowjetunion waren, wie der Band anhand einiger sehr erhellender Studien zu diesem Verhältnis zeigt, nicht zuletzt aufgrund des spezifischen politischen Kontextes anders verfasst als dies bisher für westeuropäische Beispiele beschrieben wurde. Anhand der Herausbildung und den Genreeigenschaften der „Wissenschaftlichen Fantastik“, die sich in den 1920er-Jahren etablierte, macht etwa der Beitrag von Matthias Schwartz deutlich, dass im sowjetischen Fall „’Wissenschaftlichkeit’ nicht einfach [eine] Metaphernressource für die schönen Künste sein konnte, sondern die Prämisse für jede künstlerische Konstruktion und das ideologische Selbstverständnis einer Gesellschaft bilden sollte, in der die bürgerliche Trennung von Arbeit und Leben, Fabrik und Freizeit, Privatem und Öffentlichem, Wissenschaften und Gesellschaft aufgehoben wurde.“ (Schwartz, S. 416)

Der Band ist dabei durchgängig an der Beschreibung des während seines hundert Jahre umfassenden Untersuchungszeitraumes sich historisch je wandelnden, kompliziert strukturierten und heterogenen Geflechts dieser Felder interessiert. Indem er versucht, darin einen „gemeinsame[n] diskursive[n] Raum [...] subjektive[r] und objektive[r], imaginäre[r] und exakte[r] Wissenskategorien“ auszuloten, schließt er an neuere Forschungen zur Poetologie des Wissens an, die auf die fließenden und unscharfen Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, Laborwissen und literarischer Praxis verweisen und die Formation von Wissensobjekten immer mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpfen (Schwartz, Velminski, Philipp, S. 21).

In insgesamt fünf Abschnitten – „Diskurse und Lektüren“, „Experimentelle Konfigurationen“, „Mathematische Transkriptionen“, „Psychotechnische Laboratorien“ und „Wissenschaftspopularisierung für Laien“ – wird die epistemologische Verschränkung und wechselseitige Instrumentalisierung von Wissenschaft, Kunst, Politik und Gesellschaft in Russland und der Sowjetunion untersucht. Erweist sich die Strukturierung des Bandes um derartige Begriffe bzw. größere Themenfelder einerseits als lohnend, weil sie ermöglicht, das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst betreffende Kontinuitäten zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen bzw. den Bedeutungswandel dieser Kategorien zu untersuchen, geht sie zum Teil jedoch auch auf Kosten einer systematischen Analyse der Differenz zwischen dem vorrevolutionären Russland und der Sowjetunion in dieser Hinsicht. Hier wäre eine klarere Bezeichnung auch der zeitlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Brüche wünschenswert gewesen.
Ungeachtet dieser Anmerkung erweisen sich die von den drei Herausgebern gewählten titelgebenden Kategorien Laien, Lektüren und Laboratorien insgesamt als gut geeignet, sich dem Gegenstand zu nähern.

Beschrieben wird dabei etwa die systematische Verwischung bzw. Aufhebung der Grenzen zwischen Laien- und Expertentum im Feld der Kunst, das in der Sowjetunion als ideologisch vorgelagerter Bereich verstanden wurde. Auch die Lektüren populärwissenschaftlicher bzw. literarischer Texte, die wissenschaftliches Wissen verhandelten, dienten der Profilierung in Russland bzw. der Sowjetunion je anders formulierter ideologischer Positionen und ästhetischer Maximen, während deren Analyse gleichzeitig deutlich macht, dass gerade die exakten Wissenschaften mitunter das größte Imaginationspotential freizusetzen in der Lage waren (Schwartz, Velminski, Philipp, S. 23). Nicht zuletzt zeigt die zentrale Stellung, die der Begriff des Laboratoriums in dem Band zu Recht einnimmt, dass Wissens- und Wissenschaftspopularisierung in Russland und der Sowjetunion programmatisch als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu gelten hatte. Wenn, wie etwa der Beitrag von Torsten Rütling zeigt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Russland als „Laboratorium der Revolution“ vorgestellt wurde, in dem die „Grenzen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Experimenten wie in keinem anderen Staat aufgelöst werden sollten“ (Rütling, S. 40), so ist damit nur eine Facette einer Entwicklung beschrieben, die experimentelle Laborpraktiken systematisch auf andere Bereiche ausdehnte: Laboratorien und Künste funktionierten dabei, wie Ute Holl in ihrem Text zur „Bildung des Menschen im Kino-Experiment“ in der Sowjetunion ausführt, „komplementär in der Bildung neuer Menschenbilder“ (Holl, S. 300). Ebenso, wie sich wissenschaftliche Innovationen aus der Integration ästhetischer Praktiken speisten (wie etwa Julia Kursell am Beispiel Nikolai Kubins zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Notationsverfahren zeigt, in dem sich musikalisches und medizinisches Wissen wechselseitig informierten), war (angewandte) künstlerische Produktion mitunter nicht ohne den Rückgriff auf experimentelles Laborwissen zu denken, wofür etwa Margarete Vöhringers Text über das von Nikolai Ladowski gegründete Psychotechnische Labor für Architektur ein Beispiel aus der Sowjetunion gibt.

Insgesamt versammelt der Band durchwegs gut geschriebene und spannend zu lesende Aufsätze und stellt einen relevanten Beitrag zur Geschichte der Wissenspopularisierung sowie zum Verhältnis von Kunst, Literatur und Wissenschaft dar. In einzelnen Fällen wäre es wünschenswert gewesen, die Fallbeispiele, die manchmal recht isoliert stehen, stärker an die größer dimensionierte Fragestellung des Bandes nach den strukturellen Merkmalen des Verhältnisses von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Kunst in Russland und der Sowjetunion anzubinden. Grundsätzlich liefert das Buch aber nicht zuletzt deshalb eine wertvolle Ergänzung zu neueren Forschungen in diesem Bereich, weil es aufschlussreiches Material für eine vergleichende Perspektive auf Wissenskulturen liefert.3

Anmerkungen:
1 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1914, München 1998, S. 5.
2 Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 2.
3 Vgl. etwa Sybilla Nikolow / Arne Schirrmacher (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008; Safia Azzouni / Uwe Wirth (Hrsg.), Dilettantismus als Beruf, Berlin, im Erscheinen.

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