T. Lahusen u.a. (Hrsg.): What Is Soviet Now?

Cover
Titel
What Is Soviet Now?. Identities, Legacies, Memories


Herausgeber
Lahusen, Thomas; Solomon, Peter H.
Reihe
Geschichte: Forschung und Wissenschaft 27
Erschienen
Münster 2008: LIT Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Noack, Department of History, National University of Ireland, Maynooth

Zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion würden „Russland und die Nachfolgestaaten immer noch von deren moralischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mustern heimgesucht“. Die Autoren der „Bausteine“ dieses Bandes, so die Herausgeber, setzten sich mit der Frage auseinander, was damals und heute „sowjetisch“ war und ist (S. 2-3).

Der erste Teil des Bandes befasst sich mit Märkten. Den impressionistischen Beobachtungen Robert Johnsons über den sowjetischen Bazar und sein postsowjetisches Echo folgt eine nüchterne Analyse James R. Millars. Er verdeutlicht, dass in der sowjetischen Periode nur Verbrauchermärkte fortbestanden. Es ist ein Verdienst der Reformen der neunziger Jahre, dass andere Märkte (Finanzen, Produktionsmittel, Arbeit) wiederbelebt wurden. Selbst nach der Renaissance des Staates als Wirtschaftsakteur unter Putin sei das Verhältnis zwischen Staat und Markt im heutigen Russland allenfalls mit der Phase der NEP in den zwanziger Jahre vergleichbar. Millar differenziert damit zwischen unterschiedlichen Phasen der sowjetischen Geschichte - eine Mühe, der sich nicht alle Autoren unterziehen.

Jessica Allina-Pisano beschäftigt sich mit der Schaffung institutioneller Fassaden. In ihren Fallbeispielen wie den Wahlen oder der Bodenprivatisierung wird jedoch nicht recht klar, worin die Kontinuitäten bestehen sollen: Schuf die sowjetische Praxis im Falle der Wahlen nicht ein unfehlbares System, das zugleich Legitimationsansprüchen genügte? Dagegen höhlt die postsowjetische Praxis demokratische Prozeduren aus, ohne dabei völlig anders geartete (internationale) Adressaten vor den Kopf stoßen zu wollen. Auch die problematische Besitzfrage wird leider nur für die Phase nach 1989 eingehend betrachtet, nicht aber in Bezug auf die private plots oder die Datschen der sowjetischen Zeit.

Alena Ledenevas hier republizierte „Topographie informeller Netzwerke in postkommunistischen Ökonomien“1 setzt eine gewisse Vertrautheit mit ihren bisherigen Studien voraus.2 So bietet die hier entworfene Typologie nur in der Gesamtsicht ihrer Studien interessante Ansätze für komparative Studien zu Netzwerken in der sowjetischen und postsowjetischen Epoche.

Peter Solomon bedient sich schließlich in seiner Betrachtung eines sowjetischen „Verwaltungsstils“ Weberscher Begrifflichkeit, um die Herausbildung einer „patrimonialen Rationalität“ zu beschreiben. Den Nährboden hierfür hätten die Bürokratisierung und Netzwerkbildung der Stalinzeit bereitet. Solomon betont, dass dann die „Verwissenschaftlichung“ von bürokratischen Entscheidungen der Breschnew-Zeit instrumental für die Herausbildung eines „Spezialistentums“ wurde. Dieses wusste seine Position nach dem Zusammenbruch des Regimes zu behaupten.

Der zweite Abschnitt ist der Suche nach einer „brauchbaren Vergangenheit“ gewidmet. Einleitend verteidigt Ben Eklof Boris Mironows modernisierungstheoretische „Sozialgeschichte des Russischen Reiches“ als legitimen Versuch einer neuen historischen Sinnstiftung. Eklof erhellt Vorzüge und Unzulänglichkeiten in Konzeption und Details in Mironovs opus magnum. Dieses sei „weitläufig, inklusiv und offen“ – und damit eben nicht sowjetisch.

Nikolai Krementsov beleuchtet die Entwicklung des populären Genres von Wissenschaftler-Biographien. Sein Vergleich von Biographien des Biologen Ilja Iwanow verdeutlicht, dass die Strickmuster des Genres den Zusammenbruch der Sowjetunion unbeschadet überstanden haben. Für Krementsov ist damit aber noch nicht die Frage beantwortet, wie „sowjetisch“ sie eigentlich gewesen sind.

Anhand eines Fallbeispiels aus den Kollektivierungskampagnen des Jahres 1930 und seines Widerhalls in Primärquellen, Literatur und Erinnerungen von Zeitzeugen umzirkelt Tracy McDonald die engen Grenzen historischer Rekonstruktion. Ihre Interviews verdeutlichen die Präsenz sowjetischer Geschichte im Leben derjenigen, die sie durch- oder überlebt haben.

Vor diesem Hintergrund fragt sich schließlich Kathleen Smith, wie die Stalin-Kritik der Perestroika-Zeit und die folgende historische Aufarbeitung so folgenlos für den politischen Diskurs bleiben konnte. Sie wirft den liberalen Kritikern die Vernachlässigung der Popularisierung historischer Erkenntnisse vor. Gleichzeitig ist sie optimistisch, dass die synthetische und selektive Geschichtsaneignung der Putin-Ära nicht notwendigerweise eine Rehabilitierung Stalins impliziert.

Sektion drei ist mit „Verteilung von Wohlfahrt und Bestrafung“ überschrieben. Dan Healys Aufsatz über das Fortleben des sowjetischen Diskurses über Sex und Aberration verdeutlicht, dass die 1960er-Jahre in der Sowjetunion weder in der Theorie noch in der Praxis zu einer sexuellen Befreiung geführt haben. Am Beispiel der Tuberkulosebehandlung demonstriert Michael David, wie die spezifische sowjetische Variante des Modernisierungsprojektes es Spezialisten ermöglichte, vorrevolutionäre Agenden ihres Fachgebietes ideologisch zu verankern. Deren Normsetzung und Reproduktion unter sowjetischen Vorzeichen machte solche Konzepte außerordentlich veränderungsresistent.

Andrea Chandler beleuchtet die komplexen Wechselbeziehungen zwischen „sowjetisch“ und „postsowjetisch“ am Beispiel der Entwicklung sozialer Privilegien: Viele der Prinzipien der Vergabe von sowjetischen lgoty stehen in eklatantem Widerspruch zu nachsowjetischen Verteilungsmechanismen. Zugleich macht ihre tiefe Verwurzelung in Ideologie und Alltagspraxis sie fast unangreifbar. So regelt Sozialpolitik im postkommunistischen Russland die Grundlagen des Bezugs neu und unterminiert so etablierte kollektive Vorstellungen der Sowjetzeit (z.B. was einem „Veteranen“ zukommt), ohne dass dadurch andere, im postsowjetischen Diskurs wichtigere Gruppen (z.B. Kinder) proportional profitieren.

Schließlich betrachtet Judith Pallot die geschlechterspezifischen Auswirkungen des räumlichen Arrangements in Strafverfolgung und Strafvollzug. Sie zeigt, dass traditionelle, gar vorrevolutionäre Frauenrollen vielfach reproduziert werden, vom Abschieben weiblicher Kriminalität an die Peripherie bis zur Versorgung von Gefangenen durch weibliche Angehörige. Pallots Studie zeigt auf, wie sie sich mit postsowjetischen Phänomenen wie der Vernetzung von Betroffenen und Öffentlichkeitsarbeit verbinden. Hier übernimmt etwa das Internet eine emanzipatorische Funktion.

Der abschließende Teil beschäftigt sich vordergründig mit Kunst und Architektur. Für Alexei Yurchak kann die Aufwertung der sozialistischen Epoche in der Gegenwartskunst nicht auf den Begriff der „Nostalgie“ gebracht werden. Er spürt in den Werken der ersten post-sozialistischen Künstlergeneration einer „neuen Ernsthaftigkeit“ nach, die er dem postmodernen Zynismus und Sarkasmus der neunziger Jahre gegenüberstellt. Wie repräsentativ die gewählten Beispiele sind, und ob man nicht gerade vor einem deutschen Erfahrungshintergrund fragen muss, ob „(N)ostalgie“ tatsächlich nur auf direktem Erleben aufbauen kann (S. 257), erscheint diskutabel.

Thomas Lahusen sieht bei der Ästhetisierung sozialistischer Ruinen vor allem distanzierte westliche Beobachter am Werke. Ihnen stellt er die Einwohner des von Anfang an „ruinösen“ sozialistischen Aufbauprojekts entgegen, die wenig Verständnis für eine solche Betrachtungsweise aufbrächten. So sehr Lahusens Kritik einer intellektuellen Nostalgie für den Sozialismus als Freilichtmuseum zuzustimmen ist, so problematisch ist seine Subsumption des gebauten Sozialismus unter „Ruinen“. Die realen Einwohner der Ruinen haben sich aber möglicherweise eben doch in den „kondensierten Lebensräumen“ (S. 317) eingerichtet und eigene lieux de memoire der sowjetischen Zivilisation geschaffen.

Heather DeHaans Studie zur sowjetischen Stadtplanung in Nischni Nowgorod skizziert zunächst die sowjetische Stadtplanung um den Automobilgiganten GAS. DeHaan zeigt, wie die rasche Abwendung von revolutionären Ansätzen eine zumindest ästhetisch anspruchsvoll realisierte Fabriksiedlung dysfunktional werden ließ. Zerstörungen und Veränderungen der frühneuzeitlichen Stadtplanung in der späten Zaren- und der Sowjetzeit waren sowohl ideologisch wie praktisch motiviert. Doch ein steter Wandel von Prioritäten führte dazu, dass die geplante Erneuerung Stückwerk blieb: über das „Skelett“ der alten militärisch-funktionalen, religiös-ideologischen Stadtplanung wurde nur ein notdürftig geflickter Mantel geworfen.

„Sowjetisch“ sind demnach immer nur Zeitschichten oder Fragmente, neben, unter oder über anderen. In diesem Sinne verweist Krementsov in seinem Beitrag darauf, dass nichts selbstverständlicher sei, als dass die Gegenwart von den „Geburtsmarken und Überresten der verdammten kommunistischen Vergangenheit“ geprägt sei. „Was heute noch sowjetisch ist“ könne nur in zwei Hinsichten sinnvoll behandelt werden: Zum einen reflexiv anhand des Wandels der Historiographie der vergangenen beiden Jahrzehnte: was war vor zwanzig Jahren sowjetisch, was ist es jetzt? Oder aber über eine Analyse des Bedeutungswandels sowjetischer Überreste, die Erkenntnisse über deren historischen Belang erbringen könne. Beides hält Krementsov allerdings für „verfehlt, methodisch zweifelhaft und letztendlich unproduktiv“ (S. 130). Dies wird von den Herausgebern wenig charmant kommentiert: Es sei durchaus produktiv zu fragen, so Lahusen und Solomon, inwiefern Krementsovs Polemik „selbst aus einem Kontext stamme, in dem Sowjetisches immer noch Bedeutung“ habe (S. 6).

Ich folge zwar Krementsovs fundamentaler Kritik nicht, teile aber die Auffassung, dass es schwierig zu definieren ist, was „sowjetisch“ eigentlich (gewesen) ist. Diese Frage müsste „durch gründliche komparative Analyse von Praktiken und Stilen an verschiedenen Orten“ (und zu verschiedenen Zeiten? C.N.) geklärt werden (S. 129-130). Dies haben die Herausgeber bewusst vermieden. Die sechzehn Beitraege definieren „sowjetisch“ völlig unterschiedlich – oder gar nicht. So entstand ein äußerst heterogener Band: eine tour d’horizon von Wirtschaft über Geschichte, social engineering und Städteplanung bis hin zu Literatur und Kunst.

Anmerkungen:
1 Zuerst in: Regina Bittner (Hrsg.), Transit Spaces: Frankfurt/Oder-Poznan, Warsaw, Brest, Minsk, Smolensk, Moscow, Berlin 2006.
2 Vor allem Alena V. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998.

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