W. Blockmans u.a. (Hrsg.): Empowering Interactions

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Titel
Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300-1900


Herausgeber
Blockmans, Wim; Holenstein, André; Mathieu, Jon
Erschienen
Aldershot 2009: Ashgate
Anzahl Seiten
XXXIV, 338 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ronald G. Asch, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Idee, dass der Prozess der Staatsbildung sich „von unten“ vollzogen habe, ist ein Gedanke, der in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Forschungen inspiriert hat. Im Gegensatz zu einer Geschichtsdeutung, die im modernen Verwaltungs-, aber auch Machtstaat des 19. Jahrhunderts das Ziel der Geschichte glaubte erkennen zu können, will dieser Forschungsansatz die Rolle der Untertanen und der lokalen politischen Korporationen aufwerten.

In seiner Einleitung expliziert André Holenstein noch einmal die zentralen Thesen dieses Ansatzes. Er geht davon aus, dass politische Strukturen nicht einfach objektive Gegebenheiten sind, sondern nur in sozialen Praktiken, durch die sie reproduziert werden, greifbar sind. Zum anderen setzt er sich von der Definition des modernen Staates, wie sie Max Weber vertreten hat, ab. Staat, das sei im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit eher eine „societas civilis cum imperio“, also eine soziale Gemeinschaft mit politischer Handlungsfähigkeit, nicht ein Anstaltsstaat mit einem ausgeprägten Gewaltmonopol. Ein solches Gewaltmonopol habe es in der frühen Neuzeit ebenso wenig gegeben wie zum Beispiel ein klar definierbares Staatsgebiet. Der Webersche Staatsbegriff verstelle daher den Blick auf den Pluralismus von Herrschaftsinstanzen, der selbst Länder wie Frankreich bis 1789 gekennzeichnet habe, sei aber auch zu teleologisch orientiert.

Holensteins Einleitung ist am Ende des Bandes eine Erwiderung von Wolfgang Reinhard gegenübergestellt. Reinhard ist kein Mann unklarer Formulierungen, und sein Beitrag trägt den Titel „No Statebuilding from Below! A Critical Commentary“. Er weist darauf hin, dass die Autoren des Bandes einen weichen, flexiblen Staatsbegriff verwenden, der es ihnen erlaube, viele Formen der politischen Interaktion auch auf der lokalen Ebene als „staatlich“ zu deklarieren, zugleich aber dies alles doch zumindest implizit als Vorgeschichte des viel enger definierten modernen Anstaltstaates zu verbuchen. Überdies stellt er fest: „Most of the activities of subjects presented by recent research and by the papers of the conference did not build anything, and certainly not a state.“ Ja mehr noch: „Subjects […] never had the intention of increasing central power. Demand for more state on the part of political consumers was the exception and not the rule.“ (S. 301) Wenn Untertanen nach dem Staat gerufen hätten, dann oft deshalb, weil ein größeres Angebot an Intervention von oben auch eine größere Nachfrage hervorgerufen habe – eine Form von supply side economics, wenn man so will. Dieser Einwand mag etwas zugespitzt sein, stimmt aber dennoch nachdenklich.

Wenn Reinhard freilich dazu aufruft, sich ganz von der vorgeblichen Erfolgsgeschichte des „Molochs“ Staat abzuwenden, um statt dessen alternative politische Organisationsformen wie die der freien Polis als lokaler „face-to-face“-Gemeinschaft wiederzuentdecken, so wäre man geneigt zu bemerken, dass wir heute wohl eher unter einem Defizit staatlicher Kontrolle in manchen Bereichen, man denke an die Finanzwirtschaft, leiden. Und auch wenn Reinhard es möglicherweise als Erfolg ansehen wird, dass es in Ländern wie Afghanistan oder Somalia gelungen ist, weitgehend staatsfreie Räume zu bewahren (in denen sich wohl manche traditionelle face-to-face-Gemeinschaft finden ließe), wird das vielleicht nicht jeder so sehen wollen. Mit Blick auf neue Formen des nicht-staatlichen Gewaltunternehmertums und der wiederbelebten Piraterie mag man sich eher fragen, ob nicht Max Webers Modell des modernen Staates gerade wegen der impliziten Wertungen, die damit verbunden sind, heute erneut eine deutliche Attraktivität besitzt.

Solche Wertungsfragen klingen allerdings in den meisten Beiträgen zu dem vorliegenden Band, der im Kern aus einer Tagung in Ascona im Jahre 2005 hervorgegangen ist, nur gelegentlich an. Relativ viele dieser Beiträge behandeln entweder Formen von Herrschaft, die man nicht im eigentlichen Sinne des Wortes als staatlich betrachten wird, wie etwa reine Adelsherrschaften (z. B. Caroline Castiglione über die Barberini in der römischen Campagna im 18. Jahrhundert), oder ausgesprochene Sonderfälle, wie etwa die Schweizer Kantone und Untertanenlande (vertreten durch vier Beiträge) oder das durch starke Stände geprägte Ostfriesland vor 1744 (Reemda Tieben). Umgekehrt sind die klassischen Fälle von Staatsbildung in der frühen Neuzeit kaum oder nur schwach vertreten. Man stößt auf nur einen einzigen Beitrag zu Frankreich (Vincent Challet über Bauernrevolten im späten Mittelalter) und einen Beitrag zu Spanien (Arndt Brendecke: Informing the Council. Central Institutions and Local Knowledge in the Spanish Empire). Preußen fehlt ganz, andererseits ist Italien durch eine Reihe hoch interessanter Einzelstudien gut repräsentiert.

Insgesamt ist diese Zuspitzung auf das eher Untypische aber dennoch bedauerlich, denn so liegt es für einen Kritiker nahe zu argumentieren, die Autoren hätten durch die Auswahl der vielfach mikrohistorischen Beispielfälle das Ergebnis ihrer Tagung schon vorweggenommen. Gerade der französische Fall wäre natürlich interessant gewesen, denn entgegen der Thesen Holensteins gelang es dem französischen König durchaus, sich nach 1660 ein Monopol militärischer Gewalt, wenn auch nicht juristischer potestas, zu sichern. Und gar so unscharf waren die Grenzen des französischen Staatsgebietes um 1700 auch nicht mehr. Ebenso wenig sind England oder die Niederlande behandelt, dabei wäre die Republik der Niederlande – auch wenn Wolfgang Reinhard ihr in seinem Kommentar genau wie der Schweiz jeden staatlichen Charakter bestreitet – ein sehr gutes Beispiel dafür gewesen, wie es einer lockeren Gemeinschaft von Kommunen und ständischen Korporationen doch gelang, für die Zwecke der Kriegsführung im 17. Jahrhundert einen schlagkräftigen Staatsapparat in Gestalt eines professionellen Heeres und einer großen Flotte zu schaffen. Dies könnte man durchaus als gelungene Staatsbildung von unten ansehen, eher vielleicht als im Falle der Schweiz.

Trotz dieser Einschränkungen sind viele der Beiträge zu dem Band für sich genommen sehr erhellend. Dies gilt etwa für Bertrand Forclaz’ Ausführungen über „Local Conflicts and Political Authorities in the Papal State in the Second Half of the Seventeenth Century“. Es geht hier im Wesentlichen um die Adelsherrschaft der Borghese, die ihre starke Stellung im päpstlichen Staat nicht zuletzt der Tatsache verdankten, dass sie mit Paul V. selbst im frühen 17. Jahrhundert einen wichtigen Inhaber der Cathedra Petri gestellt hatten. Forclaz lässt deutlich werden, wie die Untertanen der Borghese nicht ohne Erfolg versuchten, unterschiedliche Herrschaftsinstanzen gegeneinander auszuspielen und zu manipulieren. Namentlich die Vertreter der päpstlichen Regierung, nach 1680 verkörpert durch die Congregazione del Buon Governo, mussten sich auf dieses Spiel einlassen, um überhaupt an die notwendigen Informationen über lokale Vorgänge zu gelangen – ein Phänomen, zu dem sich Parallelen auch anderswo finden. Eine gewisse, allerdings recht eingeschränkte Stärkung der Aufsicht staatlicher, das heißt päpstlicher Instanzen über die neo-feudalen Adelsfamilien und ihre Herrschaften trat auf diesem Wege im 18. Jahrhundert allerdings doch ein (S. 73f.).

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Niels Grüne für die von ihm untersuchte rechtsrheinische Rheinpfalz im späten 18. Jahrhundert. Die pfälzische Regierung in Mannheim war letztlich nur deshalb in der Lage, in den Dörfern Agrarreformen durchzusetzen, weil sie sich gegen die eigenen lokalen Amtsträger und die wohlhabenden Bauern auf eine Koalition mit der unter- oder kleinbäuerlichen Schicht, die Interventionen des Staates einforderte, stützen konnte. Eine stärkere „Individualisierung“ der ländlichen Gesellschaft, wie André Holenstein sie für Baden als Voraussetzung staatlicher Interventionen konstatiert hat, glaubt Grüne hingegen nicht feststellen zu können. Nach 1810 nahmen auch dank der durchgeführten Reformen die sozialen Spannungen in den Dörfern ab, und auch deshalb wurde es für den nunmehr badischen Beamtenapparat immer schwieriger, in die Dörfer hineinzuregieren.

Dem Sammelband gelingt es zu zeigen, dass sich adlige, korporative und staatliche Herrschaft auf der lokalen Ebene nur als ein Prozess der Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten verstehen lässt, in dem oft offen blieb, wer wen erfolgreich instrumentalisierte. Die Makroebene tritt dabei allerdings eher in den Hintergrund, auch wenn sie sich vielleicht, wie Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Beitrag meint, mit der Mikroebene über eine Theorie der sozialen Kommunikation zusammenbinden ließe. Am Ende scheinen die Einwände Wolfgang Reinhards aber doch in etlichen Punkten unwiderlegt.

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