A. Landwehr: Die Erschaffung Venedigs

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Titel
Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750


Autor(en)
Landwehr, Achim
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Urte Weeber, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Eine „Kulturgeschichte des Staates“ will Achim Landwehr in seiner Habilitationsschrift über das frühneuzeitliche Venedig vorlegen und dies gelingt ihm in eindrucksvoller Weise. Der „Staat“ als „Element historischer Veränderung“ (S. 13), als soziokulturelles Produkt und damit als diskursives Phänomen steht dabei im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Dieser „Staat“, so Landwehrs These, wird ständig neu „erschaffen“, er ist Produkt und zugleich auch Produzent von Wissen und Wirklichkeiten. Mit dieser Betrachtungsweise stellt sich der Autor klar in eine neue und auch jüngst immer wieder von ihm selbst vertretene Auffassung einer Kulturgeschichte (S. 16f.) 1, die vor allem nach Prozessen individueller und kollektiver Sinngebung mit Blick auf die Wirklichkeit fragt. Wichtigstes Hilfsmittel dieser „Entselbstverständlichungsarbeit“ des Historikers (S. 11) sei die historische Diskursanalyse. Es gelte „Prozesse zu identifizieren“, die zu einer „Verknappung von Aussagemöglichkeiten“ über einen bestimmten Gegenstand führen würden, „sowie die Regeln aufzudecken, nach denen dies vor sich geht“ (S. 14f.).

Landwehr führt diese Methode anhand dreier nicht unbedingt hinreichender, wie er selbst sagt, aber doch „eminenter“ Untersuchungsaspekte für die Konstitution eines Staates – dem „Raum“, der „Bevölkerung“ und dem „Mythos“ – vor. Dabei kommen sowohl Staatsbildungsprozesse als auch wirklichkeits- und wissensproduzierende Prozesse des bildenden Staates zu Tage. Warum gerade Venedig als exemplarisch für die „Staaten der Frühen Neuzeit“ (S. 14) gelten kann, führt Landwehr nicht explizit aus. Er setzt es vielmehr stillschweigend voraus und versucht durch immer wiederkehrende Bezüge zu verschiedenen europäischen Kontexten, diese Beispielhaftigkeit der Serenissima – mal mehr, mal weniger überzeugend – zu untermauern.

Die Jahrzehnte um 1700 kristallisieren sich dabei im Laufe der Studie als Kernzeit diskursiver Brüche mit Blick auf gesellschaftliche Wissens- und Wirklichkeitsproduktion heraus – nicht nur im Bereich der Philosophie und Wissenschaften, sondern vor allem auch im Bereich der gesellschaftlichen Praxis (S. 496), wie die vorliegende Studie belegt.

Dies führt Landwehr zunächst am Beispiel venezianisch-habsburgerischer Grenzstreitigkeiten im Friaul aus. Im 16. und 17. Jahrhundert waren es zunächst ausgewählte Diplomaten und Kommissionsvertreter, die nicht um die eine durchgehende Grenze verhandelten, sondern vielmehr um viele Grenzabschnitte in vor allem ökonomisch interessanten Teilabschnitten. Den Grenzverhandlungen lag dabei ein punktuelles, „partiell durchlässiges“ Raumverständnis (S. 88) zugrunde, welches immer auch in einer interdiskursiven Verflechtung etwa durch juristische und theologische Debatten der Zeit beeinflusst wurde. Grenzen, die Landwehr klar als „soziale Gebilde“ (S. 42) klassifiziert, wurden als bestehend gedacht, konnten deshalb nicht neu „gemacht“, sondern mussten „wiedergefunden“ werden, was sich – wie Landwehr überzeugend darlegt – auch in den vorhandenen Quellengattungen, oder wie er es nennt, „Medien des Wissensproduktionsvorgangs“ (S. 88) niederschlug. So waren es zunächst weniger Karten oder Protokolle, die für die Verhandlungen herangezogen wurden, sondern Briefe und Zeugenbefragungen der Bevölkerung vor Ort. Doch auch dieses „Wiederfinden“ kann als „Erschaffen“ gedeutet werden, denn man produzierte auf diese Weise bereits Wissen über das Territorium und damit über die Wirklichkeit des Staates (S. 89).

Als im späten 17. Jahrhundert die Reflexion darüber einsetzte, dass die bisher verwendeten kulturellen Techniken zur Grenzziehung die bestehenden Konflikte nicht ausreichend zu lösen vermochten, wurden mit Landvermessern und Ingenieuren neue „Gruppen von Wissensproduzenten“ (S. 150) sowie mit modifizierten Karten auch neue Techniken der Wissensproduktion eingesetzt. Letztere geben auch Hinweise auf ein gänzlich neues Raumverständnis, dass nun viel stärker den Raum als Fläche betrachtete und damit auch auf eine Grenze als durchgängige Linie zielte. Diese Grenze konnte nun nach eigenem Verständnis „gemacht“ werden (S. 142f.). Der bildende Staat trat fortan verstärkt in Funktion und begann im Zuge dieser herrschaftlichen Wissensproduktion auch erste Gruppen, wie hier die Grenzbevölkerung im Friaul, aus diesem Prozess auszuschließen.

Solche Inklusions- und Exklusionsmechanismen zeigt Landwehr ebenfalls als Kennzeichen desjenigen Prozesses auf, der die Idee der „Bevölkerung“ als ein „soziopolitisches Konstrukt“ (S. 225) im selben Zeitraum hervorbringt. Welche Gruppen jeweils innerhalb der obrigkeitlichen Bevölkerungszählungen erfasst wurden und welche nicht, hing allerdings – dies zeigt Landwehr deutlich – von der jeweiligen Motivation für diese Erhebungen ab (S. 198). Vor dem Hintergrund der Pest wurde die Bevölkerung im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert als (christlicher) Sozialkörper gesehen, den es vor äußeren Gefahren zu schützen galt. „Fremdkörper“ wie Bettler oder auch Juden tauchten in den Listen nicht auf. Dieser gesundheitspolitische Fokus wich am Ende des 17. Jahrhunderts einem verstärkt wirtschaftlichen Interesse. Arme und Bettler als ausgemachter „ökonomischer Gefahrenherd“ (S. 293) vereinten nun die geballte Aufmerksamkeit der Zuständigen auf sich. Die Kategorie der „Bevölkerung“ erschien zunehmend als „politisch formbar“ (S. 292). Im Laufe des 18. Jahrhunderts sollten fortan nicht mehr allein Probleme identifiziert, sondern auch Potentiale nutzbar gemacht werden. Öfter als bisher wurden deshalb neue Gruppen wie die Juden oder
die Bewohner der Terraferma in die Bevölkerungserhebungen integriert. Außerdem wurde auch hier das Personal der „Wissensproduzenten“ geändert, indem man die Aufgabe der Erhebungen von den provveditori alla sanità auf die deputati e aggiunti alla provvision del denaro pubblico übertrug.

Erfrischend und durchaus anregend ist, dass Landwehr in diesen Betrachtungen immer wieder einzelne Begriffe und die sprachliche Gestaltung der Quellen reflektiert (auch wenn dies zuweilen nicht mit letzter Konsequenz verfolgt wird: so beim Begriff der „Seele“ (vgl. S. 265 vs. S. 300)). Inspirierend ist aber vor allem, dass er versucht, auch den „Lücken“ historischer Überlieferung auf den Grund zu gehen und dabei „Vermutungen, Querverbindungen und Kontextualisierungen“ (S. 271) wagt.

So deutet er beispielsweise im dritten und letzten Kapitel der Studie die Lücke als Indikator für einen diskursiven Bruch um 1700. Es sei nämlich in den europäischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts gerade das Ausbleiben emphatischer Hinweise auf Elemente des seit 1500 in Selbst- und Fremdwahrnehmung verdichteten venezianischen Mythos, das auf einen Bruch verweise. Allerdings wird dieser Bruch auch anhand klarer kritischer Aussagen ausländischer Reisender deutlich, die ab 1675 immer stärker auftreten. Warum aber, so fragt Landwehr, werden solche Aussagen erst ab dem Ende des 17. Jahrhunderts möglich, wenn doch etwa die wirtschaftliche Blüte Venedigs bereits seit 100 Jahren stagnierte und auch die militärischen Erfolge seit längerem ausblieben? Sein Erklärungsansatz – und damit wendet er sich auch gegen das in der Forschung immer noch verbreitete Narrativ vom tatsächlichen Niedergang Venedigs 2 – liegt dabei weniger bei konkreten Ereignissen, als vielmehr in der Veränderung des Mediums des Reiseberichtes am Ende des 17. Jahrhunderts. Eine „Sättigung des Buchmarktes“ (S. 422) sowie der Einzug „erkenntnistheoretischer Werkzeuge wie dem methodischen Zweifel und der wissenschaftlich inspirierten Kritik“ (S. 491) in diese Form der Wissensproduktion hätten maßgeblich zu einem veränderten Bild von Venedig beigetragen und damit auch erneut eine andere Wirklichkeit geschaffen. Diesmal, so wird es in Landwehrs Ausführungen deutlich, verläuft die Entwicklung dieses Erschaffungsprozesses aber in umgekehrter Richtung: weg vom bildenden Staat, der Historiographen bewusst beauftragt, hin zu einem neuen gesellschaftlichen – ja hier sogar von einer gesamteuropäischen Basis getragenen – Staatsbildungsprozess.

Während Landwehr in diesem Kapitel seine Quellenauswahl durchaus europäisch gestaltet, diese Auswahl allerdings vielleicht nicht hinreichend reflektiert und legitimiert, unterlässt er eine Einordnung des Gesamtphänomens in einen europäischen Kontext – wie beispielsweise in denjenigen der von Franco Venturi konstatierten „Krise“ der europäischen Republiken im 18. Jahrhundert. 3 Eine solche Einordnung würde eventuell noch mehr interdiskursive Zusammenhänge und damit auch mehr Gründe für den diskursiven Bruch mit dem Mythos Venedig zu Tage bringen.

Insgesamt zeichnet sich Landwehrs Werk durch eine gute Lesbarkeit, eine fundierte Quellenarbeit und eine immer wieder klare Einordnung in aktuelle Forschungsperspektiven aus. Es ist mehr als empfehlenswert für alle, die Lust haben, eine konkrete historische Diskursanalyse zu lesen, und die einen neuen Blick auf eine bisher oftmals durch historiographische Stereotypen überfrachtete Geschichte des frühneuzeitlichen Venedigs wagen möchten.

Anmerkungen:
1 Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Stuttgart 2009; ders. / Stefanie Stockhorst, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004; vgl. bspw. auch Silvia Serena Tschopp (Hrsg.), Kulturgeschichte, Stuttgart 2008.
2 Siehe z.B. Gerhard Rösch, Venedig. Geschichte einer Seerepublik, Stuttgart 2000.
3 Franco Venturi, Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge 1971.

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