M. Aust u.a. (Hrsg.): Feindschaften und Kulturtransfers

Cover
Titel
Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Aust, Martin; Schönpflug, Daniel
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabelle de Keghel, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Das Anliegen, vom Gegner zu lernen, anstatt ihn zu bekämpfen oder zu vernichten, klingt zunächst paradox. Dennoch waren solche Lernprozesse historisch keine Seltenheit. Der von Martin Aust und Daniel Schönpflug herausgegebene Sammelband geht diesem Phänomen erstmals ausführlicher nach und analysiert die dahinter stehenden Akteurskonstellationen und Motivationen. Damit verbindet er auf innovative Weise zwei bisher in der Regel isoliert voneinander betrachtete Themenfelder, die in der Geschichtswissenschaft Tradition haben: die Erforschung von Feindschaften und Feindbildern sowie die Analyse von Transferprozessen.1 Im Mittelpunkt des Sammelbands steht die Frage, ob sich ein kausaler Zusammenhang zwischen Feindschaft und Lernen feststellen lässt. Aust und Schönpflug plädieren für eine positive Antwort und meinen, „dass es Austausch nicht nur trotz, sondern gerade wegen konfliktreicher Beziehungen geben kann“ (S. 14). Zu Recht sehen sie darin eine produktive Perspektive zur Erforschung der europäischen Geschichte, die oft allzu einseitig und harmonisierend als erfolgreiche Integrationsgeschichte geschrieben wird.

Das Buch enthält Fallbeispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert und konzentriert sich territorial auf die Geschichte Europas, die punktuell um die US-amerikanische Geschichte erweitert wird. Meist stehen bilaterale Beziehungen im Mittelpunkt, vereinzelt werden auch multilaterale Beziehungsgeflechte behandelt. Besonders großen Raum nehmen Transfers zwischen Deutschland und Frankreich sowie zwischen ost- und westeuropäischen Ländern ein. Darüber hinaus kommen auch die deutsch-britischen, die deutsch-amerikanischen und die innerdeutschen Beziehungen zur Sprache.

Um die Leitfrage ihrer Untersuchung, „ob, und wenn ja, wie vom Gegner gelernt wird“ (S. 17), genauer zu fassen, übernehmen Aust und Schönpflug aus der Psychologie ein auch für die Transferforschung durchaus sinnvolles Vier-Phasen-Modell, das Lernen als kreativen, sozial-kognitiven Akt beschreibt. Auf die Wahrnehmung des potenziellen Vorbilds folgt seine intensive Beobachtung und die Konstruktion einer mentalen Repräsentation des „Anderen“. Schließlich wird auf dieser Grundlage ein Handlungskonzept entwickelt und umgesetzt.

In der Einleitung werden die einzelnen Beiträge anhand einer vierteiligen Typologie des Lernens systematisiert, wobei die empirischen Studien erwartungsgemäß häufig Mischformen repräsentieren. Unter den vorgestellten Lerntypen scheint mir vor allem das „sektorale Lernen“ aufschlussreich zu sein (S. 25-27). Eine solche Form selektiven Transfers ist nur deshalb möglich, weil eine gegnerische bzw. feindliche Gesellschaft in der Regel nicht völlig abgelehnt wird. Vielmehr werden ihr in einzelnen Teilbereichen oft auch positive Eigenschaften zugeschrieben, die einen Lernprozess erstrebenswert erscheinen lassen. Weitere Elemente der Typologie sind das „Negativlernen“ (S. 29-31), also das Lernen aus den Fehlern anderer, sowie das Lernen aus Gegnerschaft, also mit dem Ziel, den Gegner zu übertrumpfen sowie – für mich am wenigsten überzeugend – das unbewusste Lernen.

Anschließend wird reflektiert, welche Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen, damit es trotz Gegnerschaft bzw. sogar Feindschaft zu Lernprozessen kommen kann. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Prestige des Gegners und die Motivation des Lernenden für den Transfer (etwa das Bedürfnis, akute Probleme zu lösen oder das Bewusstsein früherer bzw. antizipierter Lernerfolge).

Chronologisch beginnt der Sammelband mit Studien zum „Zeitalter der Revolution“ und zum „Zeitalter des Nationalismus“. Sie weisen – vorwiegend anhand der deutsch-französischen Beziehungen – nach, dass trotz der damals ausgeprägten ideologischen, machtpolitischen und nationalen Antagonismen Transfers über Ländergrenzen hinweg stattfanden. Als Beispiel dient hier die Militärgeschichte, insbesondere das bekannte Phänomen, dass verlorene Kriege tief greifende Lernprozesse auslösen können. Hier lautet die Devise: „Vom Sieger lernen heißt siegen lernen“ (S. 61).2 Bezogen auf das „Zeitalter der Extreme“ wird die Wahrnehmung des Nationalsozialismus und Kommunismus außerhalb Deutschlands beziehungsweise der UdSSR analysiert, wobei bedauerlicherweise das für die Epoche zentrale Thema der deutsch-sowjetischen Beziehungen weitgehend ausgeblendet bleibt. Für die Zeit des Kalten Krieges macht die Publikation deutlich, wie genau sich die gegnerischen Protagonisten vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz beobachteten und dass es seitens der Sowjetunion durchaus den Willen gab, selektiv vom Westen zu lernen. Die USA, die eingeholt und überholt werden sollten, waren hier Konkurrent und Referenzpunkt zugleich. Bei den Untersuchungen zu Transferprozessen zwischen Ost- und Westdeutschland steht die Wissenschafts- und Mediengeschichte stark im Vordergrund. Ein wichtiges Ergebnis ist hier die manchmal unerwartete Richtung des Transfers: So orientierte sich die westdeutsche Krebsforschung zeitweise an einem ostdeutschen Vorbild. Wie vielschichtig Beobachtungs-, Rezeptions- und Transferprozesse sein können, macht der Beitrag über das Westfernsehen in der DDR von Hanno Hochmuth deutlich, in dem gleich alle vier Typen des Lernens enthalten sind.

Meines Erachtens können die Beiträge des Sammelbands die Hypothese, dass Feindschaft Lernprozesse auslöst, nicht durchweg in dieser zugespitzten Form bestätigen. Sehr wohl demonstrieren sie aber überzeugend, dass gelernt wird, um den Gegner oder Feind zu überflügeln und dass ausgeprägte ideologische Feindschaften Transfer- und Lernprozesse nicht unbedingt verhindern. Jutta Scherrer zeigt dies anhand der sowjetischen Übernahme von tayloristischen Arbeitsmethoden aus den USA, die nur ein Beispiel für den in der UdSSR zeitweise weit verbreiteten „Amerikanismus“ sind.3 Kiran Klaus Patel rekonstruiert, wie während Roosevelts „New Deal“ geprüft wurde, ob der US-amerikanische Arbeitsdienst von seinem nationalsozialistischen Pendant etwas lernen könne. Zwar fiel die Antwort weitgehend negativ aus, dennoch bleibt die – freilich nur kurzfristige – Offenheit der US-amerikanischen Administration für eine NS-Organisation erstaunlich, vor allem wegen der ideologischen Gegensätze zwischen beiden Ländern und wegen der konträren Wertesysteme, die sie repräsentierten. Letztlich verhinderte diese Inkompatibilität allerdings umfangreichere Transfers.

Wie möglichen Einwänden gegen das „Lernen vom Gegner“ bereits im Vorfeld vorgebaut wurde, lässt sich anhand der Strategie der „Nostrifizierung“ erkennen, die – wie Jakob Vogel feststellt – etwa in Preußen kurz nach der Niederlage gegen Napoleon angewandt wurde (S. 103). Sie lief darauf hinaus, Transfers aus einem gegnerischen Staat als Reimport eigener Traditionen zu „tarnen“, um sie dadurch innenpolitisch akzeptabel zu machen (S. 32).

Neben vielen Stärken hat diese Publikation einige wenige Schwächen, wie auch der renommierte Transferforscher Johannes Paulmann in seinem aufschlussreichen Schlusswort feststellt. So bleibt der Titel, in dem einerseits vom „Gegner“, andererseits von „Feindschaft“ die Rede ist, zu ungenau. Möglicherweise wäre es günstiger gewesen, einen übergeordneten Begriff zu verwenden, der die gesamte Bandbreite der im Sammelband behandelten Beispiele abdeckt, etwa den im Einleitungstext verwendeten Oberbegriff der „Alteritäten“ oder auch – etwas weniger prätentiös – der „Antagonismen“. Im Hinblick auf die im Sammelband vorgenommenen geografischen Zuordnungen hätte betont werden können, dass die „mental map“ Europas ständig im Fluss war: So galt Russland bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht als ost-, sondern als nordeuropäisches Land.4 Schließlich fällt auf, dass es in manchen Beiträgen weniger um Transfers und Lernprozesse als um gegenseitige Wahrnehmung geht. Hier bleibt der Vorgang also in der ersten Phase des Lernprozesses stecken. Dass dies dennoch hochinteressant sein kann, zeigt das Beispiel Berlins im Kalten Krieg, das für Ost und West eine Schaufensterfunktion hatte. Dort behielten sich die Protagonisten beider Seiten genauestens im Blick. Dies hatte allerdings keine Transfers zur Folge, sondern vielmehr ein Wechselspiel aufeinander bezogener Selbstinszenierungen.

Insgesamt enthält der Sammelband anregende, zum Teil überraschende Erkenntnisse und zeigt, in welche Richtung die Transferforschung weiterarbeiten könnte. So wäre es sicherlich lohnend, dem Hinweis von Aust und Schönpflug genauer nachzugehen, dass einige Nationalsozialisten von der sowjetischen Propaganda fasziniert waren, woraus sich möglicherweise Lernprozesse ergeben haben. Zu Recht heißt es in der Einleitung, dass dieser Aspekt wegen Noltes fragwürdiger These vom Kausalnexus zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus bisher zu wenig beachtet worden ist. Vertiefen ließe sich auch die Frage, ob „sektorales Lernen“ nicht häufig zu einem Dominoeffekt führen kann, nämlich zu einem Ausstrahlen in andere, benachbarte Bereiche der Gesellschaft, das von den Initiator/innen des Transfers nicht beabsichtigt ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa die inzwischen klassische Publikation von Michel Espagne / Michael Werner (Hrsg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988.
2 Diese Formulierung Michael Sikoras spielt auf das wohl berühmteste offizielle Motto der (ost)deutsch-sowjetischen Freundschaft an: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“.
3 Vgl. für ein anderes Beispiel: Sabine Hänsgen, Verfremdungen / Aneignungen. Zum Amerikanismus im sowjetischen Film der 20er und 30er Jahre, in: Wolfgang Stephan Kissel / Franziska Thun / Dirk Uffelmann (Hrsg.), Kultur als Übersetzung. Festschrift für Klaus Städtke zum 65. Geburtstag, Würzburg 1999, S. 203-219.
4 Vgl. hierzu Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48-91.

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