M. Schöning: Versprengte Gemeinschaft

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Titel
Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33


Autor(en)
Schöning, Matthias
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hoeres, Justus-Liebig-Universität Gießen

Mit seiner germanistischen Konstanzer Habilitationsschrift betritt Matthias Schöning schon recht genau kartographiertes Gelände: Die „Ideen von 1914“ in der Ausformulierung von Philosophen wie Bruno Bauch, Paul Natorp und Ernst Troeltsch fanden ebenso wie die Kriegsliteratur von Ernst Jünger, Thomas Mann, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig et. al. gerade in den letzten Jahren vielfache Beachtung in der Geschichts- und Literaturwissenschaft.1 Auch zur Verarbeitung von August- und Kriegserlebnis in der Zeit bis 1933 (eigenartigerweise enden mit diesem Jahr die meisten Studien, so als ob es auf diesem Feld eine Zäsur bilden würde) liegen einige Studien vor.2 Schöning geht es um das „Nachleben der Kernidee“ der „Ideen von 1914“ (S. 7), als welche er das Konzept der Formung der modernen Gesellschaft zur Gemeinschaft ausmacht. Historisch könnte man das sicherlich präzisieren: Der Erfinder der „Ideen von 1914“, Johann Plenge, benannte als deren zentrale Elemente die Begriffe Organisation und (nationalen) Sozialismus.3 Auch in der englischen Gesellschaft war die deutsche Organisation als Vorbild für eine moderne Gesellschaft schon vor dem Krieg ein wichtiges und viel diskutiertes Thema.4 Andere deutsche und auch schwedische Kriegsdeuter (Rudolf Kjellén) entwarfen die „Ideen von 1914“ als Gegen- oder besser: als Aufhebungsideen zum Westen und seinen „Ideen von 1789“. Heuristisch wäre es vielleicht besser, die „Ideen von 1914“ als dezidierte Kriegsphilosophie vom „Geist von 1914“ bzw. vom „Augusterlebnis“ zu unterscheiden, auch wenn beides natürlich zusammenhängt.

Zweifellos hat Schöning recht, dass das Fortwirken des „Augusterlebnisses“ als „Geist von 1914“ und der Versuch seiner Revitalisierung eine entscheidende Dominante für die Kriegsliteratur vor und nach 1918 bildete. Überzeugend ist auch Schönings Position, das „Augusterlebnis“ von 1914 nicht vollständig als erst nachträgliche Stilisierung aus dem Erfahrungsraum der deutschen Gesellschaft zu eskamotieren, wie es ein gewisser, stark redundanter Ehrgeiz der Forschung geworden ist: „Es bleibt richtig, dass es eine enorme kollektive Erregung gegeben hat und das Narrativ vom ‚Augusterlebnis‘ darauf ‚irgendwie‘ referiert“ (S. 37).

Ungeachtet der politischen Polarisierung – Schöning folgt mit guten Gründen nicht der trivialisierenden Einteilung in „affirmative“ und „kritische“ Kriegsliteratur – beschrieben die Kriegsromane den Krieg nicht als Gemeinschaftsstifter, sondern als den Hobbes‘schen Naturzustand, als bellum omnium contra omnes. Doch auf diesen Befund antworteten die meisten Romanciers nicht wie von Schöning gewünscht: sie hielten nichts von einer Konstruktion des „Einzelnen als des sozialen und politischen Kernelements“, auch nichts von der „daraus folgende[n] Reduktion gesellschaftlicher Integrationserwartungen auf ein Minimum an Institutionen, die durch Befriedigung der primären Individualinteressen wie insbesondere Selbsterhaltung legitimiert werden“ (S. 292). Stattdessen radikalisierten sie die Suche nach der Gemeinschaft mit allen Mitteln. Statt sich also gefälligst auf Hobbes und – antizipierend – auf Arnold Gehlen zu beschränken, versuchten es die Kriegsliteraten weiter mit dem Deutschen Idealismus. Die Eindeutigkeit, mit der Schöning hier eine bestimmte philosophische Position privilegiert und mit überwunden geglaubten ideologiekritischen Formulierungen wie „falsches Gemeinschaftsversprechen“ (S. 279) oder „gigantischer Trug“ (S. 292) garniert, verwundert. Denkt man an aktuelle Debatten der Kommunitaristen, an die konservative, neoliberale, sozialdemokratische und globalisierungskritische Suche nach dem, „was die Gesellschaft zusammenhält“, denkt man ferner in historischer Perspektive an die Transformation, welche der englische Liberalismus um die „lange“ Jahrhundertwende 1900 zum „New Liberalism“ mit einem starken Akzent auf die sozialen Bindekräfte der Gesellschaft vollzog, so erscheint die philosophische Position Schönings nicht konkurrenzlos zu sein und als normativer Maßstab für historische Diskurse problematisch.

Gleichwohl trifft Schönings These eines Grundwiderspruchs zwischen „tatsächlich gemachter und ideologisch gewollter Kriegserfahrung“ (S. 295) eine über das Genre des Kriegsromans hinausgehende Konstellation in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Dass der nicht nur literarisch, sondern auch philosophisch und soziologisch sehr bewanderte Autor viele kluge Einzelanalysen zu einhundert deutschen Kriegsbüchern liefert, kann hier nur anerkennend konstatiert werden.

Anmerkungen:
1 Zu den genannten, auch von Schöning behandelten Philosophen: Nils Bruhn, Vom Kulturkritiker zum „Kulturkrieger“. Paul Natorps Weg in den „Krieg der Geister“, Würzburg 2007; Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004; Sven Schlotter, Die Totalität der Kultur. Philosophisches Denken und politisches Handeln bei Bruno Bauch, Würzburg 2004. Zu den Schriftstellern vgl. neben der umfangreichen Biographik an neueren Arbeiten vor allem Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, 2 Bde., Konstanz 1994/95; Franz K. Stanzel / Martin Löschnigg (Hrsg.), Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914-1918, Heidelberg 1993; Uwe Schneider / Andreas Schumann (Hrsg.), „Krieg der Geister“. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000. Nicht berücksichtigt wurden von Schöning leider die wegweisenden Arbeiten von Jürgen von Ungern-Sternberg, die den defensiven Charakter der deutschen Kriegsliteratur und den kulturliberalen Hintergrund vieler Kriegsliteraten herausgearbeitet haben, vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wie gibt man dem Sinnlosen einen Sinn? Zum Gebrauch der Begriffe ,deutsche Kultur’ und ,Militarismus’ im Herbst 1914, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 76-96; Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf ,An die Kulturwelt!’. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996.
2 Vgl. bspw. Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.
3 Vgl. Johann Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915; ders., Eine Kriegsvorlesung über die Volkswirtschaft. Das Zeitalter der Volksgenossenschaft, Berlin 1915; ders., 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916. Zu Plenge vgl. Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), S. 523-570.
4 Vgl. Karl Rohe, Von ,englischer Freiheit’ zu ,deutscher Organisation’? Liberales Reformdenken in Großbritannien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und deutsche politische Kultur, in: ders. (Hrsg.), Englischer Liberalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Bochum 1987, S. 269-292.

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