T. Schmidt-Lux: Wissenschaft als Religion

Titel
Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess


Autor(en)
Schmidt-Lux, Thomas
Reihe
Religion in der Gesellschaft 22
Erschienen
Würzburg 2008: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Religionswissenschaftliches Institut, Universität Leipzig

Die Leipziger Religions- und Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr betreibt seit einigen Jahren intensive Studien zur Säkularisierung in der DDR und im Ostdeutschland seit der Wende. Aus diesen Arbeiten entstand mittlerweile eine vorzeigbare Anzahl an quantitativen wie qualitativen Studien; „Wissenschaft und Religion“ ist eine innerhalb dieses Themenkomplexes entstandene Dissertation zur Bedeutung des Szientismus bei der weitgehenden Säkularisierung des ostdeutschen Raums, der sich bekanntlich unter anderem in einer Konfessionslosigkeit von sechzig Prozent niederschlägt.

Auf den 413 Seiten des Buches nähert sich der Autor seinem Thema aus verschiedenen Richtungen: In einem ersten Teil verortet er den Szientismus als Weltanschauung sowohl systematisch als auch historisch. Daran schließt ein zweiter Teil an, der Vorgeschichte, Entstehung und Bestehen der DDR-Urania, der Organisation zur Verbreitung (natur)wissenschaftlicher Erkenntnisse, beschreibt. In einem dritten Teil bearbeitet der Verfasser das Thema sozialwissenschaftlich, indem er mit Funktionären der Urania geführte Interviews auswertet. Es sei vorweggeschickt, dass alle Techniken, sowohl die archivische Kleinarbeit wie die Begriffsbildung und die qualitative Methode sicher gehandhabt sind, was im Hinblick auf die gesammelten Daten beeindruckt – sowohl die organisatorischen Abläufe, die Programmatiken wie auch die Akteursebene geraten so ausgewogen in den Blick von Autor und Leser.

Der erste typisierende und historische Teil will das Phänomen „Szientismus“ definitorisch erfassen und von anderen Erscheinungen abgrenzen. Szientismus ist danach eine „besondere Form der Weltanschauung“, „die sich auf Wissenschaft beruft, aber weit über deren Deutungsanspruch hinausgeht.“ (S. 66) Dieser äußert sich in zwei Dimensionen: dem Anspruch, Wissenschaft zum totalen Deutungsprinzip zu erheben, und damit verbunden in einer antireligiösen Grundhaltung (S. 125 f.). Definitorisch überschreitet die Wissenschaft und die wissenschaftliche Weltanschauung die Grenze zum Szientismus, wenn aus der Wissenschaft Handlungsanweisungen abstrahiert werden, wenn die Wissenschaft die Lebensmaxime liefert und wenn die Beantwortung der Sinnfrage menschlichen Daseins aus der Wissenschaft gezogen wird (bzw. transzendente Sinnstiftungen als absurd zurückgewiesen werden).

Historisch betrachtet der Autor „wissenschaftliche Weltanschauungen“ seit der Aufklärung: diese selbst, den französischen Positivismus des 19. Jahrhunderts, den deutschen Monismus um 1900, den Wiener Kreis der 1920er-Jahre und letztlich den Marxismus-Leninismus. Sämtliche Strömungen sowie der damit verbundene Säkularismus werden verschieden ausführlich in ihrem Zeitgeist und ihrem politischen Alltag kontextualisiert. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Ende des Optimismus: Während positivistischer und monistischer Szientismus sich mit dem Glauben an den menschlichen Fortschritt verbanden und daher (auch sprachlich) Parallelen zum Erlösungsglauben annehmen, manifestiert sich der Szientismus des 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht zurückhaltender und gar pessimistisch – die selbsttätige Durchsetzung des erkenntnistheoretischen Primats der Wissenschaft wird nicht mehr propagiert; der rationalistische Missionseifer, der bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein den Szientismus prägte, ist gebrochen.

Der zweite Teil (S. 185-287) erarbeitet die Geschichte der verschiedenen Urania-Vereine, die sich der Popularisierung der Wissenschaft und ihrer Erkenntnis verschrieben hatten. Der Beginn dieser Tradition lässt sich im Jahre 1888 markieren, als sich in Berlin ein Verein zur Bekanntmachung der Astronomie (daher auch der Vereinsname: nach der Muse Urania) gründete, der eine öffentliche Sternwarte sowie später ein Ausstellungsgebäude baute und betrieb. Die Arbeit dieser Urania währte bis circa 1941. Parallel dazu gründete sich 1924 in Jena eine Urania, die prononciert marxistischer Provenienz war und neben die Popularisierung der Naturwissenschaft die ideologische, also die religions- und idealismuskritische, Arbeit setzte; das Institut wurde 1933 geschlossen. Letztlich gibt es zwei Urania-Vereine nach 1945: ein kleinerer, in Westberlin sitzender Verein, der sich dezidiert der Tradition der wilhelminisch-weimarischen Urania verschrieb, und eine stark vom Staat subventionierte Großorganisation in der DDR, die bald nach ihrer Gründung die wissenschaftlich-weltanschauliche Basisarbeit leistete – auf letzterer Urania liegt der Fokus.

Bei aller weltanschaulichen Diversität gleichen sich die Methoden aller Urania-Vereine: Neben Ausstellungen und Publikationen in Buch- und Zeitschriftenform bestand die Arbeit in allen Fällen vor allem in der Veranstaltung öffentlicher Vorträge. Die DDR-Urania war in diesem Sinne die erfolgreichste: „Zum Ende der DDR wies sie jährlich 400.000 Veranstaltungen bei 12 Millionen Besuchern auf, war zudem in jedem Kreis der DDR mit einer Zweigstelle vertreten“ (S. 216). Ausführlich und durchweg nach Aktenlage rekonstruiert der Autor die historischen Verläufe der Gesellschaft, ihre strukturellen und programmatischen Veränderungen, dabei sein Hauptaugenmerk, die Positionierung zu den Religionen und zur Religion überhaupt in Form des Szientismus stets berücksichtigend.

Der dritte Teil letztlich widmet sich der individuellen Ebene, indem die erarbeiteten Programme und ihre Wechsel zu den Akteuren in Bezug gesetzt werden. Der Autor führte dazu Interviews mit verschiedenen ehemaligen Funktionären der DDR-Urania, die Verbreitung einer szientistischen Grundeinstellung bei ihren hauptberuflichen Popularisierern annehmend. Aus diesen Interviews konstruiert der Autor letztlich drei Typen szientistischer Weltsicht; den „pessimistischen Szientismus“, den „säkularistischen Materialismus“ und einen dritten unbenannten, vergleichsweise gemäßigten Typus. Ersterer ist dabei der restriktivste, indem er der Wissenschaft die weltanschauliche Leitfunktion zuerkennt und Wissenschaft und Religion in direkter Konkurrenz verortet; die wissenschaftliche Erkenntnis ist dabei grundsätzlich der religiösen überlegen. Dass es sie, die Religion und die Religiösen, trotzdem noch gibt, liegt – hier spielt der namensgebende Pessimismus auf – am Menschen, der eben nicht immer die richtige Lösung wähle. Der zweite Typ ist da differenzierter: Grundsätzlich ist er sich mit dem Vertreter des ersten Typs in der Frage des Erkenntnisprimats der Wissenschaft einig, doch ist er im Gegensatz zu diesem geneigt, der Religion private Refugien zuzuerkennen; Öffentlichkeit und Gesellschaft nimmt er allerdings auch völlig säkularisiert wahr. Der dritte Typ letztlich ist der liberalste; er erkennt voll und ganz das Bestehensrecht der Religion an und lehnt den totalen Deutungsanspruch der Wissenschaft ab; sein Gesellschaftsbezug ist funktional differenziert – er anerkennt gleichsam mehrere, auf verschiedene Systeme beschränkte und gleichzeitig gerechtfertigte Rationalitäten.

Das Ergebnis der Studie ist einfach: In der individuellen weltanschaulichen Perspektive variiert das Verhältnis von Religion und Wissenschaft bzw. die Rezeption und Anerkennung des Szientismus erheblich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit in ihrer ganzen Fülle alles andere als banal; vielmehr ermöglicht die Verbindung von historischer und interviewbasierter biografischer Forschung angewandt auf die freidenkerischen Milieus die Überwindung der Ideen- und Klassikergeschichte, die bisher die Frage des Szientismus vielmals als philosophische Frage nach der Erkenntnisbreite begriff: Auch wenn Religion und Wissenschaft nicht in direktem Konkurrenzverhältnis stehen müssen, so sagt dies nichts über individuelle Weltanschauungen aus, die diese Konkurrenz durchaus deutlich beinhalten können. Gleichfalls – und auch das zeigt die Arbeit – führt das Leben in einem sich dezidiert szientistisch gebenden Staat keinesfalls zur mechanischen Übernahme szientistischer Denkmuster, wenngleich diese etwaige bestehende Säkularisierungstendenzen offenbar verstärken und konsolidieren.

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