Cover
Titel
Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust


Autor(en)
Elm, Michael
Erschienen
Berlin 2008: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Zentrum für Medien und Interaktivität, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Titel der hier zu besprechenden Monographie verspricht eine umfassende Untersuchung der Darstellung und Inszenierung von (Zeit-)Zeugen im Dokumentar- bzw. Spielfilm, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als wenig stringente Melange aus gesellschaftstheoretischer Diskussion kulturwissenschaftlicher Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte, pädagogischer Reflexion über den Einsatz filmischer Repräsentationen des Holocaust in der politischen Bildungsarbeit sowie exemplarischer Filmanalyse. So setzt sich Michael Elm in seiner an der Universität Frankfurt eingereichten erziehungswissenschaftlichen Dissertation mit der Frage auseinander, wie „Zeugnisse und Berichte von Opfern, aber auch diejenigen von Mitläufern und Tätern der NS-Zeit in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben werden, welche historiografischen wie medienpolitischen Strategien hier zum Zuge kommen und welche Bedeutung die veränderte erinnerungskulturelle Situation für den Umgang mit der Thematik in der politischen Bildung hat“. (S. 12) Den Hintergrund bildet dabei die immer größer werdende zeitliche Distanz zum nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden und die damit zusammenhängende „Verschiebung von der kommunikativen Tradierung der Erinnerung durch die Zeitgenossen zu einer medialen Vermittlung von Geschichte durch die Instanzen des sogenannten kulturellen Gedächtnisses“. (S. 11) Als Untersuchungsthese dient Elm die Beobachtung, dass ungefähr seit Mitte der 1990er-Jahre eine Entgrenzung des Zeugenschaftsbegriffes stattgefunden habe, der nun nicht mehr nur ausschließlich die jüdischen Überlebenden des Holocaust umfasse, sondern tendenziell alle Zeitgenossen des Nationalsozialismus integriere.

Bevor Elm diese These insbesondere anhand exemplarischer Filmanalysen zu erhärten sucht, wendet er sich im ersten, äußerst umfänglichen und mit „Historiografie nach Auschwitz“ betitelten Kapitel zunächst der begrifflichen Explikation gängiger erinnerungskultureller Termini und Theorien zu, die vor allem einer „zeitgeschichtlichen Aktualisierung der Problemstellungen der politischen Bildung“ (S. 22) dienen sollen. Dabei verweist der Autor zum einen im Anschluss an die Theorien von Aleida und Jan Assmann sowie Maurice Halbwachs auf die „[b]esondere erinnerungskulturelle Qualität der Bildmedien“ (S. 52), die nicht zuletzt auf ihr höheres Affektpotenzial zurückzuführen sei und deshalb „didaktischer Aufbereitung“ (S. 50) bedürfe. Zweitens hebt Elm mit Bezug auf empirische Untersuchungen zum Familiengedächtnis hervor, dass dieses aufgrund seiner emotionalen, Identifikation stiftenden Funktionsweise eine Film und Fernsehen ähnelnde starke erinnerungskulturelle Prägekraft aufweise und daher historisch-politische Bildung in außerschulischen Kontexten besser aufgehoben sei, weil dort im Vergleich zu schulischen Lernsituationen deutlich mehr Zeit für Gruppenprozesse bestünde. Drittens formuliert der Autor mit Rückgriff auf das psychoanalytische Modell der Nachträglichkeit sowie die theoretischen Überlegungen Adornos und Horkheimers eine dezidierte Kritik am Konstruktivismus der aktuellen Gedächtnis- und Erinnerungstheorien. Dabei beanstandet er angesichts der durch Krieg und Massenvernichtung erzeugten Traumata, die sich tief in die von ihnen betroffenen Kulturen eingeschrieben und zu einer „Nachträglichkeit der Erfahrung“ (S. 61) geführt hätten, dass in der Theorie des kulturellen Gedächtnisses die vergangenen Ereignisse zugunsten eines ausgeprägten Gegenwartsbezugs ins „Hintertreffen“ (S. 63) geraten seien. Die „historische Realität als objektives Erkenntnisideal“ durchaus im Visier, plädiert Elm dafür, danach zu fragen, „wie sich die Vergangenheit in die Gegenwart einschreibt und wie sich diese Schattenseite des Erkenntnisprozesses methodologisch formulieren lässt“ (S. 64). Hierzu bedient er sich des begrifflichen Arsenals der Kritischen Theorie und kommt unter Rückgriff auf Adornos dialektische Geschichtskonzeption zu dem Urteil, dass „die Vergangenheit, ob man es nun will oder nicht, immer gegenwärtig“ (S. 70) sei. Darin mag man dem Autor durchaus zustimmen, doch stellt sich die Frage, ob es dazu wirklich einer extensiven Auseinandersetzung mit den Positionen zentraler Akteure der „Frankfurter Schule“ bedurft hätte. Für jeden Historiker ist das Problem der Kontinuität ein zentrales, und auch konstruktivistisch geschulte Historiker/innen werden kaum das „Fortleben des Alten im Neuen“ (S. 305) leugnen. Allerdings würden letztere darauf insistieren, dass die „Vergangenheit“ eben keine gegebene Bezugsgröße darstellt, sondern vielmehr in der Gegenwart durch verschiedene Praktiken, darunter auch und nicht zuletzt die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, hervorgebracht wird und gewissermaßen als „externe[r] Standpunkt zur Selbstbeobachtung“1 der Gesellschaft fungiert.

Das erste Kapitel schließt mit einer Diskussion der Frage, „wie sich kulturelle Traumata auf eine Erinnerungstheorie nach Auschwitz beziehen lassen und wie sie sich in der postnazistischen Gesellschaft wiederfinden und fortbestehen beziehungsweise einer Transformation vor allem im Medium Film unterliegen (S. 75). Erörtert wird dieser Fragenkomplex unter anderem anhand eines Vergleichs zwischen der Verfilmung von Primo Levis Zeugenbericht „Die Atempause“ (Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 1996/97) durch Francesco Rosi sowie dem US-amerikanischen Horrorthriller „Virus“ (1998), wobei letzterer imstande sei, Traumaerfahrungen filmisch zugänglich zu machen, während erstere die Traumatisierung, welcher Levi in seinem Text große Bedeutung beimaß, unberücksichtigt lasse.

Das zweite Kapitel widmet sich der Bedeutung und Transformation des Zeugenschaftsbegriffes, wobei zunächst dessen religionsgeschichtliche und etymologische Wurzeln rekapituliert werden, um sodann auf die dramatischen Veränderungen hinzuweisen, die das Verständnis von Holocaust-Überlebenden im Zuge des Eichmann-Prozesses genommen hat. Am Beispiel der Filme „Zeugin aus der Hölle“ (BRD/Jugoslawien 1965-67) von Zica Mitrovic und Wolfgangs Harichs „Mord in Frankfurt“ (WDR 1968), die beide im Kontext des Frankfurter Auschwitz-Prozesses entstanden, sowie Claude Lanzmanns „Shoah“ zeigt Elm frühe filmische Adaptionen der Zeugenschaft auf. Dem schließt sich unter Konsultation psychoanalytischer Fachliteratur eine Rekapitulation des Traumabegriffs an, um dergestalt Einblicke in die besondere Ausprägung der Traumata von Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager zu gewinnen.

Darüber hinaus fokussiert dieses Kapitel die Rezeption und Analyse von „Der Untergang“, wobei sich das Interesse vorrangig auf den Niederschlag „der gegenwärtigen Transformationsprozesse des Verständnisses von Zeugenschaft“ (S. 104) konzentriert. Dabei vermag Elm aufzuzeigen, dass in „Der Untergang“ Zeitzeugenberichte (etwa von Traudl Junge) die Funktion erfüllen, die historische Authentizität der filmischen Erzählung zu beglaubigen und zugleich eine „Verwandlung von Tätern in Zeitzeugen und Opfer“ (S. 144) vollzogen wird. Ob diese markante erinnerungskulturelle Verschiebung allerdings erst ein Phänomen der Gegenwart darstellt, lässt sich beispielsweise mit Blick auf die 1985 erfolgte Ausstrahlung der 6-teiligen, vom Bayerischen, Südwestdeutschen und Österreichischen Rundfunk koproduzierten Dokumentarreihe „Die Deutschen im Zweiten Weltkrieg“ durchaus bezweifeln.2 Das Kapitel wird mit einem Exkurs zur „Entgrenzung des Pädagogischen“ beendet, in dem diskutiert wird, ob und wie sich pädagogische Kommunikationsformen in Filme über den Holocaust und Nationalsozialismus eingeschrieben haben.

Den beiden ersten theoretisch ausgerichteten Kapiteln folgen zwei weitere, die sich empirischen Fallbeispielen zuwenden und diskutieren, wie „die Zeugenschaft des Holocaust in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wird und welche medienpädagogischen und bildungstheoretischen Potenziale beziehungsweise Gefahren erinnerungstheoretisch zu vergegenwärtigen sind“ (S. 12). Dabei unterzieht Elm zunächst das auf Video aufgezeichnete Zeugnis des Holocaust-Überlebenden Menachem S. aus dem Jahre 1979 einer „dichte[n] Beschreibung“ (S. 224) und kommt zu dem Schluss, dass die video testimonies des Fortunoff Video Archive den Schock der Überlebenden konservieren, „indem sie den Prozess des Zeugnis-Ablegens ins Bild setzen und ihn so einer gesellschaftlichen Erfahrung zugänglich machen“ (ebd.). Aufgrund seiner verstörenden Wirkung sei, so der Autor, bei der Nutzung der Videointerviews aber eine reflektierende pädagogische Begleitung vonnöten, die solcherart zwar eine sekundäre Zeugenschaft initiieren und moderieren könne, aber schlussendlich nur durch das generationelle Interesse lebendig bleibe.

Das letzte Kapitel behandelt schließlich die mehrteilige ZDF-Sendereihe „Holokaust“ (2000), die vom Autor einer Patternanalyse unterzogen wird. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Elm dabei dem Thema „verstrickte Wehrmacht“ sowie der Hitler-zentrierten Darstellung und zieht daraus die bildungstheoretisch und medienpädagogisch wenig überraschende Schlussfolgerung, dass „zunächst nur die Kritik am dargestellten Format Knoppscher Prägung zu empfehlen“ sei, was vor allem „ein Sehen-Lernen des neuen Fernsehformats“ (S. 299) impliziere.

Auch wenn die hier vorgestellte Arbeit zum Teil recht spannende Einsichten sowie eine auf hohem Niveau geführte Theoriedebatte bietet, muss das Gesamturteil doch zwiespältig ausfallen. Zu selten gelingt es dem Autor, die bisweilen ziemlich disparaten Argumentationsstränge miteinander zu verknüpfen, zu wenig mag er sich entscheiden, ob seine Arbeit nun zuvorderst ein soziologisch informierter Beitrag zur theoretischen Erörterung zentraler erinnerungskultureller Begrifflichkeiten, eine systematische Filmanalyse oder aber eine Handreichung für die politische Bildungsarbeit darstellen soll. Während ersteres über weite Strecken durchaus funktioniert, verbleiben die Filmanalysen zumeist an der Oberfläche und dienen tendenziell der Illustration zuvor gewonnener theoretischer Erkenntnisse. Und ob mit diesem Buch die „Grundlagen“ dafür geschaffen worden sind, „um die affektive Wirkungsweise neuerer filmischer Repräsentationen von Nationalsozialismus und Holocaust zu verstehen und auf transgenerationelle Bildungsprozesse im Rahmen politischer Bildung zu beziehen“ (S. 303), mag angesichts des zumeist äußerst hohen Abstraktionsgrades der Arbeit bezweifelt werden.

Anmerkungen:
1 Thomas Etzemüller, „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68, hier S. 68. Vgl. die Rezensionen von Philipp Sarasin, in: H-Soz-u-Kult, 08.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-021>, und von Georg G. Iggers, in: H-Soz-u-Kult, 19.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=9948>.
2 Vgl. hierzu Judith Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Münster 2008, S. 202-211. Vgl. die Rezension von Frank Bösch, in: H-Soz-u-Kult, 17.04.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-041>.

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