Titel
The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin's Special Settlements


Autor(en)
Viola, Lynne
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
£17.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Elie, Centre franco-russe de recherche en sciences humaines et sociales, Moskau

Mit ihrer jüngsten Monographie schließt Lynne Viola, eine der ausgewiesensten Kennerinnen der Russischen Agrarwelt in der Zeit der Kollektivierung, ein Jahrzehnt Forschungsarbeit zum Thema der Entkulakisierung in den 1930er-Jahren ab. Das Resultat ist eine 251seitige, sorgfältig recherchierte Abhandlung, die den letzten Stand der heutigen Forschung zu diesem zentralen Kapitel der Sowjetgeschichte markiert.

Der Buchtitel „The Unknown Gulag“ deutet nicht nur darauf hin, dass das Thema Entkulakisierung noch relativ wenig erforscht ist, sondern vielmehr auf den Umstand, dass das Netz von Siedlungsdörfern für deportierte Kulaken ein Experimentierfeld war, das die offizielle Einführung des Gulag-Systems vorwegnahm. Zunächst galten nämlich die Sondersiedlungen Stalins und der OGPU als universales Straf- und Wirtschaftsinstrument, um die ‚Liquidierung sozial fremder Elemente’ und die Erschließung der ressourcenreichen, aber entlegenen Gebiete Sibiriens, Kasachstans, des Nordens und des Urals voranzutreiben. Für Lynne Viola erklärt gerade das Fiasko der Kulaken-Deportation, gekennzeichnet durch miserable wirtschaftliche Erträge, Massensterben und Massenflucht, warum schließlich ein geschlossenes und mit überwiegend arbeitsfähigen Zwangsarbeitern funktionierendes Lagersystem den auf Familienarbeit basierenden Siedlungsdörfern ab 1934 vorgezogen wurde.

Lynne Violas Buch gräbt dabei kein völlig ignoriertes oder vergessenes Thema aus. Über die in der vorliegenden Monographie analysierten Aspekte der Stalinschen Entkulakisierungspolitik ist bisher zwar wenig bekannt. Vieles ist aber nicht so unerforscht wie Lynne Viola in der Einleitung behauptet (S. 3-4). Es liegen bereits umfangreiche und gut kommentierte Dokumentensammlungen und auch einige Monographien zum Thema vor, auf die sich Viola stützen kann.1 Auch Lynne Violas Behauptung in ihrem sonst sehr instruktiven Forschungsüberblick, die ‚Massenoperationen’ der Jahre 1937 und 1938 seien wesentlich besser erforscht als die Geschichte der Kulaken (S. 249), trifft nicht zu. Immerhin wurden diese Operationen überhaupt erst 1992 im Zuge der Archivrevolution bekannt. Bis zu diesem Zeitpunkt erschien der Terror mangels Archivzugangs als ein Phänomen, das auf eliteninterne Säuberungen beschränkt war. Somit ist der konstatierte relative Mangel an Forschungen zu den Deportationen der ersten Hälfte der 1930er-Jahre bei weitem nicht einzigartig.

Nichtsdestotrotz fügt sich Viola’s Studie hervorragend in die jüngsten historiographischen Bemühungen ein, wichtige Fragestellungen der repressiven Sowjetgeschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten und der breiten Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Dafür hat Lynne Viola eine enorme Archivrecherche geleistet, nicht nur in den Moskauer Zentralbeständen, sondern auch in zwei nördlichen Regionen, den Gebieten Archangelsk und Wologda. Der Fokus liegt also auf dem ehemaligen Nord-krai, der zu Beginn der 1930er-Jahre mit 285.609 Deportierten eine der größten Siedlungsregionen auf dem Gebiet der Sowjetunion bildete. Viola kann zudem direkte Vergleiche zu anderen Regionen einflechten. Darüber hinaus hat sie in großem Umfang Memoirenliteratur ausgewertet. Der Materialreichtum schlägt sich auch in den statistischen Anhängen sowie dem abgedruckten Bildmaterial nieder.

Thematisch und chronologisch widmet sie zwei Drittel ihrer Monographie der Aussiedlung der Kulaken aus ihren Herkunftsdörfern und deren ersten Jahren als Sondersiedler (Ende 1929 - Sommer 1931). Die wenig erforschte Frage nach der Anpassung der Sondersiedler, die das schreckliche Massensterben der ersten Siedlungsjahre überlebten, wird hingegen nicht aufgeworfen. Die Auswirkungen der Hungersnot der Jahre 1932-1933 (Kapitel 7) werden nur kurz aber sehr prägnant behandelt. Besonders interessant sind die Passagen zur Rolle der Schule als Möglichkeit zur Befreiung aus dem Sondersiedlerstatus und als Ort der Sowjetisierung (S. 170-178). Gleiches gilt für ihre Ausführungen zu den Siedlungskommandanten als Täter, Ideologieträger und ‚kleine Führer’ in den entlegenen Gebieten der Taiga (S. 104-112).

Lynne Viola legt eine Interpretation der Geschichte der Kulakendeportation und der Sondersiedlungen vor, die als Ansatz für eine Gesamtbewertung des Stalinismus gelten kann. In ihrer Sicht ist die Stalinsche Herrschaft durch ein Wettrennen zwischen Utopie und Repression gekennzeichnet. Die vielen Entwürfe von Satzungen der Sondersiedlungen bis hin zu den Bauplänen für Siedlungsdörfer oder die Regelungen, die auf eine formale Gleichstellung der Sondersiedler mit der freien Bevölkerung abzielten, gehören für Viola zur Sphäre des Utopischen. Diese Planungen, die nie umgesetzt wurden, beschränkten sich aber nicht auf die Produktion von Mythen, sondern hatten, laut Viola, auch eine psychologische Funktion für Stalin und seine Entourage. Die utopischen Entwürfe ermöglichten ihnen, das allgegenwärtige Chaos zu rationalisieren und sogar die eigene Verantwortung für das Geschehen zu ignorieren und von sich zu schieben. Das riesige agrarisch geprägte Territorium Russlands war nach Viola traditionell unterverwaltet und konnte auch von der Sowjetmacht kaum effektiv durchherrscht werden. Repressionen sind für sie folglich „das einzige wirksame Herrschaftsinstrument“ der Stalinschen Führung gewesen. Wenn die ‚Wunschprojektion’ der utopischen Planungen („rule by abstraction“) gegen diese Realität prallten, wurden repressive Instrumente in Gang gesetzt („rule by repression“, S. 188).

Lynne Viola macht darauf aufmerksam, wie unvorbereitet die Stalinsche Führung und die Administration auf die Massendeportationen waren und streicht das Ausmaß der Improvisation in für Sondersiedler lebenswichtigen Entscheidungen sowie das politische Versagen bei der Lösung dringender Probleme heraus. Es gab keinen ausgearbeiteten Plan zur Deportation und Ansiedlung der Kulakenfamilien, man wusste zunächst weder, wie man mit den betroffenen Menschen umgehen sollte, wo sie leben und welche Aufgaben sie erfüllen sollten. Es wurden weder ausreichende personelle noch infrastrukturelle Voraussetzungen für die massenhafte Deportation dieser Menschen geschaffen: Die Siedlungsgelände wurden häufig willkürlich ausgewählt. Oft waren sie zum Leben und zum Wirtschaften vollständig ungeeignet. Der Transport verlief chaotisch. Familien wurden auseinander gerissen, so dass viele ohne arbeitsfähige Mitglieder verblieben. In der Folge entstanden Epidemien, Hunger und Massensterben. Die Kommissionen, die sich mit geringem Erfolg mit der Wiederherstellung der Ordnung befassten, versuchten zwar, auf diese Probleme zu reagieren. Jedoch weist Viola darauf hin, dass diese Untersuchungen und Maßnahmen weniger das Ziel einer tatsächlichen Besserung der Lage in den Siedlungen zum Ziel hatten, sondern vielmehr die Benennung und Bestrafung von Sündenböcken, die für die Misserfolge und gravierenden Fehleinschätzungen verantwortlich gemacht werden konnten.

Des Weiteren verweist Lynne Viola auf den „reagierenden Charakter“ der Politik Stalins: Oft sah sich die politische Führung gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um auf selbst ausgelöste Krisensituation zu reagieren und die Kontrolle wiederzugewinnen. Diese Maßnahmen führten aber wiederum zu neuen Exzessen. Diese Dynamik spielte während der so genannten „zweiten Entkulakisierung“ im Großen Terror 1937/38 eine wichtige Rolle (S. 150-151). Die ‚Porosität’ der Siedlungen beunruhigte Stalin und die Verantwortlichen der OGPU-NKWD. Die Massenflucht aus den Siedlungen als Konsequenz des Hungers und die offiziellen Rehabilitierungsmaßnahmen, die es Kulaken erlaubten, unter bestimmten Bedingungen den Sondersiedlerstatus abzulegen, ließen Stalin glauben, dass die Kulaken trotz Entkulakisierung das gesamte Territorium der Sowjetunion ‚infiltrierten’. Von konspirativen Deutungsmustern besessen, sah Stalin in den Kulaken, ob Sondersiedler, rehabilitiert oder entflohen, eine hervorragend vernetzte konterrevolutionäre Mannschaft, die zum Angriff gegen die Sowjetmacht bereit war. Als eine ‚fünfte Kolonne’, die sich im Falle eines drohenden Krieges mit den kapitalistisch-faschistischen Aggressoren gegen die Sowjetunion verbünden würde. Die 1937 lancierte ‚Kulaken-Operation’ war aus der Perspektive Stalins und seiner Mitstreiter eine präventive Maßnahme zur definitiven Lösung dieser von den ‚Kulaken’ ausgehenden Gefahr.

Mit „The Unknown Gulag“ hat Lynne Viola ein Standardwerk zur Entkulakisierungs- und Siedlungspolitik in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre vorgelegt. Die Menge und die Durchdringung des verwendeten Archiv-Materials sind beeindruckend. Auf dieser Grundlage gelingt es der Autorin, die Stalinsche Dorfpolitik im Kontext der gesamten Sowjetgeschichte zu verorten. Viola kann zeigen, dass die Haltung der Stalinschen Führungsgruppe gegenüber dem Dorf paradigmatisch für die Herausbildung des Stalinschen Systems insgesamt war.

Anmerkung:
1 Sergei Krasil'nikov, Serp i molokh: Krest'ianskaia ssylka v Zapadnoi Sibiri v 1930-e gody, Moskau 2003 (Neuauflage 2009); Nikolaj Ivnitskii, Kollektivizatsiia i raskulachivanie (nachalo 30-kh godov), Moskau, 1994; ders., Repressivnaia politika Sovetskoi vlasti v derevne (1928-1932 gg.), Moskau 2000; ders., Sud'ba raskulachennykh v SSSR, Moskau 2004; Olga Nikitina, Kollektivizatsiia i raskulachivanie v Karelii, Petrozavodsk 1997; Viktor Zemskov, Spetsposelentsy v SSSR, 1930-1960, Moskau 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension