Titel
Criminal Intimacy. Prison and the Uneven History of Modern American Sexuality


Autor(en)
Kunzel, Regina
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
$29.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Stieglitz, Historisches Seminar, Universität Köln

Im Jahr 1826 machte sich Reverend Louis Dwight von Boston aus zu Pferd auf eine Reise, die ihn in zahlreiche Gefängnisse Neuenglands und der übrigen Staaten an der Ostküste Nordamerikas führen sollte. Dwight war Mitglied der American Bible Society sowie Mitbegründer der Boston Prison Discipline Society, eine der ersten Organisationen, die sich die Reform der noch jungen Institution Gefängnis zum Ziel gesetzt hatte. Was der Geistliche auf seiner Reise sah und erlebte, fasste er danach in einem Bericht zusammen, der nur verantwortlichen Menschen aus Politik, Justizwesen, Gefängnisverwaltung und Religion zugänglich gemacht wurde, denn seinen Inhalt erachtete Dwight als „too horrible to be exhibited more publicly“. Neben der Dokumentation von Elend und brutaler Gewalt hinter den Gefängnismauern ging es dem Autor vor allem darum, Zeugnis von Vorkommnissen abzulegen, die er wegen ihrer Unfassbarkeit nur in Grossbuchstaben auszudrücken vermochte: „THE SIN OF SODOM IS THE VICE OF PRISONERS, AND BOYS ARE THE FAVORITE PROSTITUTES“ (S. 27).

Dieser Bericht eines schockierten Reformers gilt als die erste detaillierte Darstellung von Sex zwischen Gefängnisinsassen in den USA; er markiert somit eine erste zentrale Quelle in Regina Kunzels neuem Buch, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Zusammenhang der Geschichten des Gefängnisses und der Sexualität zu analysieren. Kunzel, Professorin für Geschlechtergeschichte und Geschichte der Sexualität an der University of Minnesota in Minneapolis, legt damit den insgesamt sehr gelungenen Versuch vor, zwei vielschichtige und zuletzt umfangreich studierte Themenbereiche für den US-Kontext aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Denn obgleich das Sexleben von Strafgefangenen seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in ebenso aufgeregten wie offenkundig faszinierten, wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten imaginiert, repräsentiert und diskutiert wurde, sind historiografische Studien zu diesem Komplex noch immer rar.

Ausgangspunkt für Kunzels Überlegungen ist die Geschichte der Sexualität(en), wie sie im Anschluss an und in Nachfolge von Michel Foucault geschrieben wird. Eine der Grundthesen dieser Forschung lautet bekanntlich, dass das Macht-/Wissensregime der “modernen Sexualität“ an die Annahme gekoppelt ist, das sexuelle Begehren eines Menschen spiegele dessen Wesen: Wen oder was ein Mensch begehrt und welche Sexpraktiken er oder sie ausübt, bestimme ganz entscheidend, was dieser Mensch eigentlich sei. Historisch stellen Gefängnisse vor diesem Hintergrund ebenso wie Kasernen, verschiedene Formen von Lagern oder auch Internatsschulen Orte der Verstörung dar, denn offenbar praktizierten Menschen dort gleichgeschlechtlichen Sex, obgleich sie außerhalb solcher Einrichtungen nicht mit dem Label der „Homosexualität“ zu versehen waren. Diese Verunsicherung provozierte vielfältige kulturelle Strategien, mit denen solche scheinbaren Widersprüche diskursiv verhandelt wurden. Der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im englischsprachigen Raum gebräuchliche Begriff der situational homosexuality stellt beispielsweise einen solchen Versuch dar, die als außergewöhnlich betonten Umstände des Gefängnislebens als Ursachen nur temporärer Abweichung von der Norm zu begreifen.

Kunzel spürt in ihrer Studie verschiedene solcher Strategien auf, die in unterschiedlichen Epochen dazu geeignet waren, Sexualität in Gefängnissen wirkmächtig für die Gesellschaft zu thematisieren; es geht ihr mithin wie vielen kulturhistorischen Studien nicht so sehr darum zu zeigen, was in den Anstalten passiert ist, sondern was das Geschehene (oder Imaginierte) gesellschaftlich bedeutete und welche sozialen Konsequenzen aus solchen Bedeutungszuschreibungen erwuchsen. Sie kann dabei zeigen, wie sehr sich die Rede über prison sex in den Vereinigten Staaten verändert hat, wie eng sie stets mit anderen sozial- und kulturhistorischen Entwicklungen zusammenhing und dass dies wichtige Auswirkungen für das changierende Verständnis von „normaler Sexualität“ in den USA hatte. Die Auseinandersetzungen um die verstörende Sexualität in Gefängnissen, die entweder (oder auch zugleich) erklärt, verharmlost, skandalisiert, ignoriert oder undenkbar gemacht wurde, diente – so Kunzels zentrale These – der Versicherung von Normalität: „Exploring those shifts, I argue, exposes the fretful labor involved in the making of modern sexuality and its distinctive fictions, stable and fixed sexual identity primary among them.“ (S. 5)

Für ihr Ziel, die moderne Auffassung einer stabilen binären Ordnung von Heterosexualität einerseits und Homosexualität andererseits aufzubrechen, eignet sich die historische Betrachtung von Gefängnissen aus mehreren Gründen ganz besonders: Erstens waren sie stets ebenso sehr Orte des Schreckens wie der Faszination, weshalb es eine Vielzahl von unterschiedlichen Quellentexten gibt, in denen Sex im Gefängnis repräsentiert wurde – in behördlichen Untersuchungsberichten und Reformpamphleten, in religiösen Schriften ebenso wie in Romanen oder Spielfilmen, in journalistischen Reportagen und natürlich in den zahlreichen autobiografischen “Erlebnisberichten“, die Titel trugen wie z.B. „A Peep into State Prison“ (W.A. Coffey, 1839), „The Ways of Sin“ (Charles Cook, 1894) oder „Out of These Chains“ (Vincent Burns, 1942). Zweitens konstituiert das Gefängnis nicht nur eine zentrale Institution für die Entwicklung, Ausformung und Anwendung moderner Disziplinartechnologien, sondern auch einen privilegierten Raum für die Beobachtung von menschlichem Verhalten; Gefängnisse waren schon aufgrund ihrer auf Überwachung und Klassifikation angelegten Struktur ideale “Laboratorien“. Dieser Wille zum Wissen schloss Sexualität ausdrücklich ein, zumal Kriminalität und Vorstellungen sexueller Devianz sehr lange in einem tautologischen Verhältnis zueinander gedacht wurden. Daher kann Kunzel für ihr Vorhaben auch auf eine Fülle von sozialwissenschaftlichen und medizinischen Studien zurückgreifen. Gerade in ihnen wurde deutlich, dass das eigentliche Problem beim „prison sex“ gar nicht so sehr die homosexuellen Praktiken an sich waren, sondern deren Implikationen für ein Verständnis von Heterosexualität: „Indeed, much of what was at stake in the anxiety over homosexuality in prison concerned its potential to reveal heterosexual identity as fragile, unstable, and, in itself, situational. This book … looks to one of the most marginalized of American spaces – the prison – and its most stigmatized practice – same-sex sex – to illuminate questions about the cultural and ideological center and the making of the normal.“ (S. 8)

Kunzels Auseinandersetzung mit ihrem Thema erstreckt sich über sechs chronologisch angeordnete Kapitel. Dabei weiß sie um die zahlreichen Fallen, die eine solche national angelegte und über fast zwei Jahrhunderte ausgreifende Darstellung mit sich bringt. Konzeptionen von Klasse, „Rasse“ und Region haben einen nicht zu unterschätzenden und wechselvollen Einfluss auf die historischen Thematisierungen von sowohl Sexualität als auch Kriminalität. Der Begriff „prisoner“ ist historisch keineswegs eindeutig, und die Unterschiede zwischen zum Beispiel einem „county jail“, einer vor allem in den Südstaaten weit verbreiteten Gefängnisform wie den „prison farms“ oder einer „maximum security“ Einrichtung heutigen Datums sind nicht nur architektonisch immens. Zumeist zeigt sich die Autorin sehr aufmerksam im Umgang mit diesen Problemen. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die sehr asymmetrische Thematisierung von männlicher und weiblicher Sexualität in ihren Quellen. Sex zwischen Frauen wurde weitaus seltener angesprochen und dann meist in deutlich geringerem Maße skandalisiert; ein wichtiger Hinweis darauf, wie eng die Rede über „prison sex“ an kulturelle Konventionen gekoppelt war. Hier regierte eine klare Doppelmoral, denn obwohl einerseits die Artikulierungstabus lange Zeit weit größer waren, verband man andererseits mit inhaftierten Frauen ohnehin beinahe automatisch den Tatbestand der moralischen Verfehlung, aka sexuelle Devianz. Ähnlich schwierig gestaltet sich auch die Quellenlage zu afroamerikanischen Strafgefangenen, die erst vergleichsweise spät in den Materialien als eigene Gruppe sichtbar werden. Dies liegt daran, dass erstens viele frühe Texte nur den Nordosten der USA beleuchten und zweitens die Institution Gefängnis vor dem Bürgerkrieg im Süden kaum eine Rolle spielte und danach oftmals strukturell anders organisiert war, man denke an das System der „convict lease“. 1 Auch blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Darstellungen schwarzer Häftlinge in vielen Quellen eng mit rassistischen und geschlechtlich codierten Stereotypen verbunden.

Kapitel eins behandelt einen umfangreichen Zeitraum von der frühen Republik bis in die so genannte „Progressive Era“ an der Wende zum 20. Jahrhundert. Kunzel zeigt, wie der Optimismus, den man dem neuen, so hoffnungsvoll begonnenen Strafmodell des Gefängnisses entgegen brachte, rasch von Problemen überlagert wurde. Dazu gehörte auch die Einsicht, dass sich sexuelle Kontakte zwischen Insassen trotz strenger Separierung und Überwachung nicht vermeiden ließen. Die „architecture adapted to morals“ (so die Kapitelüberschrift) erwies sich an diesem Punkt als unzulänglich. Oscar Wilde und seine Anklage, Verurteilung und Inhaftierung wegen „acts of gross indecency with another male person“ stehen am Anfang des zweiten Kapitels, das den Beginn des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Zu dieser Zeit bestimmten die Annahmen der neuen Sexualwissenschaften die Rede über Sex im Gefängnis. Mit ihnen zog “der Homosexuelle“ als klar identifizierbarer Typus Mensch in die Haftanstalten ein, und aus den, obgleich vielfach artikulierten, „Unaussprechlichkeiten“ des Viktorianismus wurden vielstimmige wissenschaftliche Diskurse. Die Autorin zeigt an dieser Stelle, dass die europäischen Sexualwissenschaften erst mit einiger Verzögerung in den USA Fuß fassten, um dann aber umso prägnanter an Einfluss zu gewinnen. Mit dem dritten Kapitel erreicht die Chronologie die 1940er- und 1950er-Jahre. Kunzel veranschaulicht, wie etwa die Ergebnisse der so genannten „Kinsey Reports“ die Verunsicherung um die vermeintliche Eindeutigkeit sexueller Identitäten weiter vorantrieben. Die zu dieser Zeit in vielerlei Kontexten eingesetzten Testverfahren zur exakten Bestimmung von Männlichkeit und Weiblichkeit fanden auch in den boomenden Gefängnisstudien ihre Anwendung. Darüber hinaus akzentuiert die Autorin nun auch verstärkt Quellen wie „pulp novels“ oder Spielfilme, um zu verdeutlichen, in welchem Umfang die Faszination am „prison sex“ von nun an zu einem festen Bestandteil kommerzialisierter Populärkultur wurde. Die nächsten beiden Abschnitte widmen sich den 1960er- und 1970er-Jahren und argumentieren dabei nach Geschlechtern getrennt. Kunzel trägt dabei in Kapitel vier zunächst dem Umstand Rechnung, dass die Anzahl von inhaftierten Frauen in diesem Zeitraum signifikant zunahm und somit auch die Thematisierung weiblicher Sexualität dichter wurde. Die in den Frauengefängnissen angefertigten sozialwissenschaftlichen Studien, so kann Kunzel zeigen, stellten dabei den populären sexistischen Repräsentationen lesbischer Frauen in den USA ungewollt Materialien zur Verfügung. Zur gleichen Zeit wurde Sexualität in Männergefängnissen (Kap. fünf) mehr und mehr in Verbindung mit Gewalt interpretiert und in diesem Zusammenhang auch mit rassistischen Zuschreibungen verwoben, die eine aggressiv-heterosexuelle schwarze Männlichkeit für das so genannte „prison rape“ verantwortlich machte – wodurch die Frage nach dem Zusammenhang von Praktiken und Identitäten zeitweise in den Hintergrund geriet. Das letzte Kapitel beschreibt und analysiert den Beginn schwul-lesbischen Selbstbewusstseins in den Gefängnissen. Mit den Identitätspolitiken dieser Gruppen gewannen die Debatten um „echte“ oder „situative“ Homosexualität eine neue Dynamik, die namentlich in den 1980er-Jahren im Zusammenhang mit dem AIDS-Schock einen deutlichen Niederschlag in den Quellen fand.

Criminal Intimacy ist aufgrund seiner sehr breiten Anlage manchmal etwas oberflächlich, wenn es darum geht, Kontextzusammenhänge detailliert darzustellen und auszuleuchten; insgesamt zeigt das Buch jedoch, wie wichtig der Brückenschlag zwischen Sexualitäts- und Gefängnisgeschichte ist. Eine der am weitesten verbreiteten Strategien zur Negierung der verstörenden Existenz von prison sex war die Behauptung, dass das Leben hinter Gefängnismauern nichts mit dem Leben »draußen« zu tun habe. Regina Kunzel kann in ihrer Studie eindrucksvoll zeigen, dass genau das Gegenteil zutreffend ist. Gerade das »Außen« des Gefängnisraums bot beständig und immer wieder neu Anlass, die Diskussionen um Fragen der Bedeutungen von Sexualität und Macht für die US-amerikanische Gesellschaft fortzuführen.

Anmerkung:
1 Das convict lease System entstand in US-amerikanischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg; dabei wurden Strafgefangene tagsüber zur Arbeit an private Unternehmen und Plantagen vermietet und verbrachten nur die Nächte in gemeinsamen Unterkünften. Der afroamerikanische Bürgerrechtler Frederick Douglass sah darin neben der Lynchjustiz das größte Übel dieser Zeit.

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