J. v. Karczewski: "Weltwirtschaft ist unser Schicksal"

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Titel
"Weltwirtschaft ist unser Schicksal". Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel


Autor(en)
Karczewski, Johannes von
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 79
Erschienen
Anzahl Seiten
465 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enrico Böhm, FB 06 Geschichte und Kulturwissenschaften, Institut für Neuere Geschichte II, Philipps-Universität Marburg

Internationale Kooperation als Ausweg aus der Krise – diese Grundannahme ist nicht nur in den aktuellen Debatten um die Lösung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise in aller Munde, sie spielte bereits im wirtschaftlichen Krisenjahrzehnt der 1970er-Jahre eine besondere Rolle. In einer außergewöhnlichen globalen Krisensituation – der größten seit den 1930er-Jahren, wie auch damals häufig ergänzt wurde – suchten die Staats- und Regierungschefs der größten Volkswirtschaften des Westens nach Lösungen, die über die bisherigen Formen multilateraler Kooperation hinausgingen. Die Entstehung der Weltwirtschaftsgipfel, eines informellen Forums auf Ebene der Staats- und Regierungschefs, war eine der Antworten. Die Erkenntnis, dass Helmut Schmidt der zentrale Wegbereiter dieser Entwicklung war, ist der nun erschienenen Dissertation von Johannes von Karczewski zu verdanken, der damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der internationalen Beziehungen der 1970er-Jahre leistet.

Karczewski schreibt eine Geschichte multilateraler wirtschaftspolitischer Kooperationsbemühungen im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise, deren Bedeutung für die Entwicklung internationaler Politik nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Um die Frage zu beantworten, ob es sich bei den Weltwirtschaftsgipfeln der Group of Seven (G7) um "Horte neuer Formen kollektiver Führerschaft" (S. 13) handelte, vollzieht der Autor ihre Entstehung in einem personenbezogenen Ansatz nach. Er betont die "persönliche Komponente" (S. 16) der Gipfel, indem er vor dem Hintergrund der forces profondes der weltwirtschaftlichen Entwicklung sein Augenmerk auf die Rolle der handelnden Akteure in diesem Prozess legt und damit der Renouvin-Schule der Geschichte der internationalen Beziehungen folgt.1

Den narrativen Angelpunkt einer Geschichte der Weltwirtschaftsgipfel, in der Helmut Schmidt als Hauptakteur figuriert, bildet bei Karczewski die internationale Währungs- und Wirtschaftskrise. Folgerichtig führt der Autor zunächst in den Hintergrund dieser Krise ein, die mit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Das Weltwährungssystem, das eine starre Wechselkursbindung der übrigen westlichen Währungen zum US Dollar beinhaltete, war durch wachsende Haushaltsdefizite der US-Regierung und deren einseitige Aufkündung der Goldkonvertibilität des Dollars 1971 zusammengebrochen. Zwei Jahre später konfrontierte der "Ölpreisschock" die wachstumsverwöhnten Volkswirtschaften in Europa, Nordamerika und Japan mit einem Problem, für das die herkömmlichen keynesianischen Rezepte des deficit spending keine Lösung boten. Denn trotz staatlicher Interventionen und trotz Investitionsprogrammen, welche die durch die Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten ohnehin beschleunigte Inflation weiter anheizten, stagnierte das Wirtschaftswachstum. Das Phänomen der Stagflation war geboren und forderte von den westlichen Marktwirtschaften neue Lösungsansätze.

In dieser Krisensituation übernahm Helmut Schmidt, dessen Biografie in einem zweiten einleitenden Kapitel umrissen wird, im Mai 1974 das Amt des Bundeskanzlers. Wie kein anderer Kanzler zuvor folgte Schmidt einem "Primat der ökonomischen Politik" (S. 9); wie Karczewski zeigt, war dies auch seiner biografischen Prägung als ausgebildeter Ökonom und Bundesfinanzminister (1972-1974) geschuldet. Die Erkenntnis, dass Wirtschaftspolitik in einer Zeit der fortschreitenden "Interdependenz der politischen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen" (S. 12) auf nationaler Ebene nur noch begrenzt wirksam war, brachte Schmidt zu der Überzeugung, dass die Kooperation der wichtigsten Industrieländer des Westens unabdingbar sei. Zudem boten die Weltwirtschaftsgipfel der Bundesrepublik die Möglichkeit, ihre gewachsene ökonomische Bedeutung international geltend zu machen, wie Karczewski zu Recht feststellt.

Eine Keimzelle der Gipfel war die so genannte Library Group. Die Finanzminister der USA, Großbritanniens, der Bundesrepublik, Frankreichs und später auch Japans trafen sich 1972 und 1973 in informeller Runde, um über Wege zur Restabilisierung des Weltwährungssystems zu diskutieren. Dass unter den Teilnehmern mit Giscard d’Estaing und Schmidt zwei der Initiatoren der späteren Weltwirtschaftsgipfel waren, spricht für Karczewskis Betonung persönlicher Faktoren. Beide teilten eine Präferenz für kurze Verhandlungswege und das informelle Gespräch. Die Staats- und Regierungschefs sollten zusammenkommen, um in einem "kommunikativen Prozess [...] zu einem gemeinschaftlichen Bewusstsein und schließlich zur abgestimmten Lösungsstrategie" zu finden (S. 128). Insbesondere in Bezug auf Helmut Schmidts Staatsverständnis ist das Kapitel zur Initiierung des ersten Gipfels aufschlussreich: Gegenüber seinen Mitarbeitern offenbarte Schmidt die Vorstellung einer "Weltwirtschaftsregierung" als Leitbild des Krisenmanagements (ebd). Am Beginn waren die Weltwirtschaftsgipfel eben auch ein Produkt des zeitgenössischen Optimismus bezüglich der staatlichen Lenkbarkeit ökonomischer Prozesse.

Im Aufbau hält sich Karczewski leider eng an die Ereignisabfolge. So gehen dem Hauptteil der Untersuchung zwar die Kapitel über die "Ökonomische Ausgangslage" sowie "Biografische Prägung und politische Lehrjahre" Helmut Schmidts voraus, doch folgt im Anschluss eine strikt chronologische Betrachtung der Gipfeltreffen von 1975 bis 1978. Selbst bis in die Unterkapitel hinein, die mitunter den Tagesordnungspunkten folgen, zieht sich die analytische Nähe zum Gegenstand. Die Resümees der Treffen beginnen zudem stets mit den – wenig erstaunlich – positiven öffentlichen Fazits der Teilnehmer und vermitteln so stark den Eindruck einer Erfolgsgeschichte, bei der die kritische Überprüfung der Resultate zu kurz kommt.

Das Hauptproblem der Studie jedoch ist, dass sie ausschließlich auf deutschen Quellen 2 basiert und so einem nationalen Ansatz folgt, der gerade bei einem Gegenstand wie der multilateralen G7 zu überwinden gewesen wäre. Zwar hat der Autor den Anspruch, in erster Linie eine Darstellung zu Schmidts "Außenwirtschaftspolitik im weltpolitischen Umfeld" (S. 30) zu schreiben, doch resultiert diese Beschränkung in einer übermäßigen Betonung der Rolle Schmidts und der deutschen Perspektive. Auch wenn die Bedeutung Schmidts für die Entstehung der Gipfel nicht in Frage gestellt werden muss, entgehen der Untersuchung doch wichtige Perspektiven der übrigen Teilnehmer. Zumindest der Einfluss Giscard d’Estaings wird in der Studie immer wieder angesprochen und hätte einen Versuch, Quellen aus dem Umfeld des französischen Staatspräsidenten mit einzubeziehen, lohnenswert gemacht. Dies wird etwa deutlich am Widerstand Giscards gegen die Teilnahme des Präsidenten der EG-Kommission, einem langjährigen Streitpunkt mit den kleineren EG-Partnern, bei dem deren Angst vor einem Direktorium der großen Industrienationen eine Rolle spielte. Weshalb Giscard vor dem Bonner Gipfel (1978) seine Bedenken in dieser wichtigen Frage offenbar plötzlich fallen ließ, kann aus den deutschen Akten nicht befriedigend erklärt werden.

Aus bundesdeutscher Perspektive und unter Fokussierung auf Helmut Schmidt entsteht so ein etwas national geratenes Bild der Genese einer internationalen Institution. Karczewskis Studie leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen. Die Vertiefung weiterer Fragen erscheint jedoch wünschenswert: Worin lagen die besonderen Charakteristika der Gipfel im Vergleich zu anderen multilateralen Institutionen, und in welchem Verhältnis standen sie zu diesen? Handelte es sich tatsächlich um reine Wirtschaftsgipfel, oder spielten nicht weitere Themen zunehmend eine wichtige Rolle und signalisierten eine veränderte Schwerpunktsetzung internationaler Politik?3 Diesen Fragen nachzugehen bleibt weiterer Forschung überlassen, die sich nun dank Karczewski auf wichtige Erkenntnisse zur Entstehung der Weltwirtschaftsgipfel stützen kann.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Pierre Renouvin / Jean-Baptist Duroselle, Introduction à l’histoire des relations internationales, Paris 1964; Andreas Wirsching, Internationale Beziehungen, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 112–125.
2 Die Studie basiert vorwiegend auf dem Material des Schmidt-Depositums im Archiv der sozialen Demokratie und den "Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland".
3 Hier lohnt auch ein Blick in die politikwissenschaftliche Literatur, die sich bereits eingehend mit dem Gegenstand G7/8 beschäftigt hat. Anregungen über die Fragestellung hinaus vermögen insbesondere folgende Titel zu geben: Hugo Dobson, Japan and the G7/8 – 1975 to 2002, London 2004; Risto Penttilä, The Role of the G8 in International Peace and Security, New York 2003.

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