R. Bartlett u.a. (Hrsg.): Eighteenth-Century Russia

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Titel
Eighteenth-Century Russia. Society, Culture, Economy. Papers from the VII International Conference of the Study Group on Eighteenth-Century Russia, Wittenberg 2004


Herausgeber
Bartlett, Roger; Lehmann-Carli, Gabriela
Erschienen
Münster 2008: LIT Verlag
Anzahl Seiten
549 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ricarda Vulpius, Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Wer diesen Band mit wissenschaftlichem Interesse zur Hand nimmt, ist sich zunächst unsicher, ob er nicht versehentlich nach dem falschen Buch gegriffen hat. Das Vorwort verrät, dass sich die Herausgeber beim nächsten Treffen der Arbeitsgruppe zum 18. Jahrhundert in Russland darauf freuen, alte Freundschaften aufzufrischen. Zum Beweis der großen Verbundenheit folgt ein Photo aller Teilnehmer von ihrer Tagung in Wittenberg, das an ein fröhliches Klassentreffen nach dreißig Jahren erinnert. Das Vorwort erhebt auch keinen Anspruch auf einen irgendwie gearteten Zusammenhang des vorliegenden Bandes. Der Abdruck der Tagungsbeiträge scheint vielmehr selbstredend demselben Ziel zu dienen wie die Tagung – kaleidoskopisch neuere Forschung zum 18. Jahrhundert vorzustellen.

So individuell sinnvoll und ertragreich ein Austausch von Historikern sein kann, die alle zu Russlands 18. Jahrhundert arbeiten, so fragwürdig ist eine Veröffentlichung von vierzig (sic!) dort gehaltenen Vorträgen in einem konturenlosen Sammelband von fast 550 Seiten vier Jahre später. Die von den Herausgebern vollzogene Gruppierung der Beiträge in drei Themenblöcke – (1) Literatur, Theater, Zensur; (2) Ideen, Diskurs und kultureller Transfer; (3) Gesellschaft, Individuen, Wirtschaft – macht die Bandbreite deutlich. Es kann daher an dieser Stelle kein Anspruch erhoben werden, den in ihrer Zusammenstellung disparaten Beiträgen in ihrer großen Anzahl auch nur annähernd gerecht zu werden. Vielmehr ergeben sich die Anmerkungen nach den Interessen der Rezensentin.

Wie sehr Katharina II. und die von ihr geprägte Zeit weiterhin die Forschung zum geistigen Leben im 18. Jahrhundert dominiert, belegen die zahlreichen Aufsätze zu ihren Schriften (Lurana Donnels O'Malley zu 'Rage aux Proverbes', Giovanna Moracci zu ihren historischen Dramen, Antony Lentin zur Auseinandersetzung zwischen der Zarin und Schtscherbatow) sowie zur Zensur ihrer Zeit (Silke Brohm, Galina A. Kosmolinskaja und Ol'ga Aleksandrovna Taspina). Dass literarisches Leben und geistige Genüsse am russischen Hof allerdings nicht erst mit der Zarin aus Anhalt-Zerbst begannen, bezeugen eindrücklich die Beiträge von Kirill Ospovat und Marcus C. Levitt zu Sumarokow sowie von Wendy Rosslyn, die Schauspielerinnen auf der Theaterbühne bereits für die petrinische Zeit untersucht hat.

Im zweiten Themenblock sind die Ergebnisse von Ingrid Schierles begriffsgeschichtlicher Studie zum Konzept von 'otetschestwo' (Vaterland) sehr lesenswert. Anhand von Manifesten und Dekreten, Schulbüchern und zeitgenössischen Nachschlagewerken sowie interpretierenden Texten der Zeit arbeitet Schierle vier Dimensionen des zeitgenössischen Verständnisses von Vaterland heraus: Vaterland als räumlich-geographische Einheit, als eine Familie, Vaterland als Verkörperung des 'allgemeinen Wohls' sowie Vaterland als Kultur- und Gedächtnisgemeinschaft. Überzeugend zeigt sie, dass die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Vaterland als säkularer Einheit in Analogie zu den Strukturen von Familie und Kirche gesehen wurde. Die Liebe für das Vaterland und den Herrscher band die Gemeinschaft zusammen und sollte beim Einzelnen das selbstlose Engagement für das allgemeine Wohl befördern. Obwohl das Konzept in erster Linie die Elite ansprach, diente es in Krisenzeiten auch als Appell an die Einheit der ganzen Bevölkerung jenseits sozialer und ethnischer Grenzen. Im Unterschied zum französischen Konzept von 'la patrie' war es jedoch nicht mit dem Gedanken politischer Gewaltenteilung konnotiert.

Der spannende Gedanke im Schluss von Schierles Ausführungen, wonach sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts neben und gegen das Konzept von 'Vaterland' als supraethnischem Bezugspunkt auch die Vorstellung vom 'Volk' (narod) als Referenzpunkt eines russischen nationalen Bewusstseins etablierte, wird jedoch leider nicht belegt und bleibt unzureichend ausgeführt. An diesem Beispiel wird deutlich, wieviel sinnvoller es gewesen wäre, einige wenige Tagungsbeiträge für eine Publikation auszuwählen und den Autoren dafür mehr Raum als zwölf Seiten zu gewähren.

Einen interessanten Ansatz bietet Elise Kimerling Wirtschafter mit ihrem Beitrag im dritten Themenblock zum Problem der Zivilgesellschaft im zarischen Russland. Zunächst grenzt sie sich klar von den 'Revisionisten' ab, die bereits in einzelnen Beispielen unabhängiger sozialer Handlungen den Beweis dafür erkennen, dass es in Russland eine Zivilgesellschaft gab. Wirtschafter sieht vielmehr das Problem, dass unklar ist, ob es in der Zeit vor 1850 überhaupt zur Vorbedingung einer Zivilgesellschaft, nämlich zur Herausbildung von Gesellschaft als solcher, – also zu einer von der Umgebung des Herrschers zu unterscheidenden Einheit – gekommen sei. Angesichts der Tatsache, dass eigenständige formale Institutionen wie die Städte, Berufsverbände und sozialen Stände im westlichen Teil Europas im russischen Fall fehlten, stellt sich Wirtschafter die Frage, wie die Entwicklung sozialer Beziehungen in Russlands 18. und frühen 19. Jahrhundert von Historikern überhaupt erfasst und analysiert werden könne.

Mit ihrer These lässt sie die Sackgasse, lediglich Defizite für den russischen Fall zu benennen, weit hinter sich. Ihr Anliegen ist es, das Andersartige zu erklären. Menschlicher Fortschritt, so Wirtschafter, habe nach dem damaligen russischen Verständnis weit weniger von Institutionen abgehangen. Vielmehr sei zuallererst in der individuellen moralischen Tugend die Lösung für soziale und politische Probleme gesehen worden. Institutionen ohne tugendhafte Individuen habe man demnach eher verdächtigt, zu einer Quelle von Ungerechtigkeit zu werden, als dass ihnen zugetraut wurde, für eine gerechte Ordnung zu sorgen.

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangt Viktor Zhivov in seinem Beitrag zur Kernaussage von Katharinas II. literarischem (und zugleich politischem) Werk "Wsjakaja Wsjatschina" ("Allerlei"). Ohne gute Sitten, so fasst Zhivov Katharinas These zusammen, könnten Gesetze nicht funktionieren. Insofern seien weniger die Gesetze als die guten Sitten einer Gesellschaft von Bedeutung. Diese Umkehrung des französischen Kerngedankens der Aufklärung, wonach durch gerechte Gesetze eine Gesellschaft zur Verbesserung ihrer Sitten und zum Fortschritt geführt werde, demonstriert die bemerkenswerte Fähigkeit der russischen Herrscherin, sich zwar aufgeschlossen für Gedanken der westeuropäischen Aufklärung zu zeigen, diese aber zugleich mit den Bedingungen der russischen Autokratie in Einklang zu bringen. Es ist Zhivovs Verdienst, die Verdrehung aufklärerischen Denkens bei Katharina II. anhand einer ihrer literarischen Schriften so deutlich nachvollzogen zu haben.

Entgegen dem allgemeinen Trend der neueren Kulturgeschichte enthält der Band auch eine Vielzahl von klassisch wirtschaftsgeschichtlichen Beiträgen (Janet Hartley zu den Kaufleuten während des Großen Nordischen Krieges, Elisabeth Harder-Gersdorff zum westlichen Handel und dem Kaufmännischen Bankwesen in Riga, George E. Munro zum Leben der Kaufleute in Jaroslawl, Robert E. Jones zur kaufmännischen Insolvenz und den Gerichten, Sergei A. Kozlov zu Steuern und Kriegen während der katharinäischen Zeit). Auch das Rechtswesen bleibt nicht ausgespart. So arbeitet Nancy S. Kollmann anhand eines einzelnen strafrechtlichen Gerichtsverfahrens der petrinischen Zeit heraus, inwieweit Peters Bruch mit der Moskowiter Vergangenheit Folgen für das Rechtswesen insgesamt hatte. Überraschend sind hier weniger die Verweise auf die Kontinuitäten als vielmehr das Ausmaß, in welchem Peters brachiale Reformen im Rechtswesen tatsächlich auch umgesetzt wurden. Im konkreten Fall ließ sich durch die Ausnutzung der neuen Prozessordnung die Verhängung der Todesstrafe sogar wiederholt aufschieben.

Auch viele andere der vierzig Beiträge vermögen Anregungen zu geben. Gerade mit dem zweiten Block, in dem mehrere Beiträge kulturelle Transfers nach Russland thematisieren (Maria Christina Bragone zu Erasmus Rotterdams Wirkung in Russland, Stefan Reichelt zur russischen Rezeption der Schriften von Johann Arndt, Michael Schippan zur Rezeption protestantischer Autoren), wird die spannende Frage aufgeworfen, welchen Veränderungen westeuropäisches Gedankengut bei seiner Rezeption in Russland unterlag. Doch entsprechend der Verschiedenartigkeit der Ansätze der Autoren ohne übergeordnete Fragestellung sind auch ihre Ergebnisse zusammenhangslos. Insofern sei nochmals unterstrichen, was eingangs gesagt wurde: Die Veröffentlichung von derart disparaten Beiträgen in einem Band, zumal in dieser Menge und Kürze, ist äußerst fragwürdig.

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