Titel
Yezhov. The Rise of Stalin's "Iron Fist"


Autor(en)
Getty, J. Arch; Naumov, Oleg V.
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Hamburger Institut für Sozialforschung

Das Buch „Yezhov. The Rise of Stalin’s Iron Fist“ ist die zweite Biographie über Nikolai I. Jeschow, den berüchtigten Chef des sowjetischen NKWD, innerhalb von sieben Jahren.1 Angesichts der immensen Lücken in der Forschung zu den Tätern des Stalinismus ist dieser Umstand bemerkenswert. Er verspricht, dass Leser sich nun ein Bild machen können über den Exekutor des Großen Terrors und das von ihm inszenierte Gewaltchaos. Dabei schwingt stets die Frage danach mit, wie das passieren konnte und wie aus Menschen, denen gern das Attribut 'normal' vorangestellt wird – wobei dies bei den Tätern des Stalinismus bemerkenswert seltener geschieht – Massenmörder werden.

Es ist eine eigentümliche Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und der fast schon verzweifelt zu nennenden Suche nach einer Erklärung für das Grauen, die Historiker dazu bewegt, sich den Tätern zuzuwenden. Auch die Autoren der vorliegenden Biographie, der US-amerikanische Historiker J. Arch Getty und sein russischer Kollege Oleg V. Naumov, mittlerweile Leiter des Moskauer Archivs RGASPI 2, werden von diesen Fragen angetrieben. Was für eine Person konnte diese Dinge tun? Welches System produzierte einen Menschen wie Jeschow? J. Arch Getty und Oleg Naumov verzichten bewusst auf psychologische und psychohistorische Zugänge. Es geht ihnen nicht darum, die Persönlichkeit zu examinieren, sondern die Person Jeschow als Produkt der Zeit auf die politische und soziale Matrix zu beziehen, innerhalb derer sie funktionierte (S. xix). Die Autoren erklären Jeschows Karriere konsequent systemisch. Sie verbinden mit ihr die gesellschaftshistorische Analyse stalinistischer Bürokratie und Personalpolitik, bolschewistischer Weltdeutungen und die Frage nach persönlichen Entscheidungsräumen.

Um es vorweg zu nehmen: die Verbindung aus Biographie und Gesellschaftsanalyse gelingt J. Arch Getty und Oleg Naumov nur teilweise. Wer etwas über die Bedeutung und Funktionsweise von Personal- und Netzwerkpolitik im Stalinismus erfahren möchte, wird das in neun Kapitel gegliederte Buch mit Gewinn lesen. Wer aber überzeugende Antworten auf die von den Autoren gestellten Fragen erwartet, wird enttäuscht. Getty und Naumov erzählen die Geschichte eines gewieften Bürokraten und Karrieristen. Im ersten Teil, der Jeschows politische Sozialisation bis zum Aufstieg in den inneren Machtzirkel Stalins umfasst, beschreiben Getty/Naumov gekonnt, wie aus dem Petrograder Putilow-Arbeiter ein bolschewistischer Kader wurde, der die Spielregeln des stalinistischen Patronagesystems für sich zu nutzen verstand.

Jeschow wird als ein überzeugter Administrator mit einer Vorliebe für Personalpolitik geschildert. Nach dem Bürgerkrieg verschlug es ihn zunächst nach Kasan und in die Region Mari, wo er im Februar 1922 den Posten des Regionalparteisekretärs in der Hoffnung auf eine baldige Delegierung nach Moskau übernahm. Für junge bolschewistische Kader war die Sisyphosarbeit in der Provinz, wo die Macht der Partei keinesfalls gefestigt war und wo marodierende Banden, widerständige Bauern, Hunger und innerparteiliche Konkurrenzkämpfe das Leben unerträglich machten, die Eintrittskarte nach Moskau. Jeschow meisterte diese Bewährungsprobe. Er gewann die Machtkämpfe mit lokalen Konkurrenten, baute sich einen Ruf als durchsetzungsfähiger Macher auf und bewerkstelligte Anfang 1926 seine 'Flucht' nach Moskau, vorgeblich, um an der Kommunistischen Akademie einen Lehrgang in marxistischer Theorie zu belegen.

Einmal in Moskau angekommen, nutzte Jeschow die folgenden fünfzehn Monate des Studiums für den Aufbau eines funktionierenden Netzwerkes. Mit dessen Hilfe wurde er im Juli 1927 zu einem Assistenten von Iwan M. Moskwin, dem Chef der einflussreichen Organisations- und Personalabteilung beim Zentralkomitee der Partei (Orgaspred) Von da an war sein Aufstieg in den inneren Machtzirkel nicht mehr aufzuhalten. Jeschow empfahl sich als umtriebiger und ungeduldiger Parteiarbeiter, er charmierte, nutzte die Verbindungen seiner Frau zu Intellektuellen und teilte aus, wann immer es notwendig schien. Der erste Teil des Buches endet 1934 mit Jeschows Ernennung zum Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei und der neu gegründeten Parteikontrollkommission, der die Überwachung und Bestrafung innerparteilicher Abweichler oblag.

Bis hierher schildern J. Arch Getty und Oleg Naumov den Lebensweg Jeschows als Musterbeispiel für eine Funktionärskarriere im Stalinismus. Plausibel und anschaulich verbinden sie ihre Geschichte mit einer treffenden Analyse der bolschewistischen Partei- und Kaderpolitik. Leider aber erklärt ihre Beschreibung nicht das, was kommt. Gerade weil Jeschow in diesem Buch lediglich einen Typus illustriert und persönliche Eigenschaften kaum eine Rolle spielen, bleibt sein Werdegang unerklärt. Überdies betonen die Autoren mehrfach, dass Jeschows Arbeit bis 1934 nichts mit Terror und Repressionen zu tun hatte (S. 121, S. 133). Das ist eine Aussage, die angesichts seiner Funktion als stellvertretender Volkskommissar für Landwirtschaft während der brutalen Kollektivierung ohnehin anzuzweifeln wäre. Darüber hinaus lässt sie die Kluft zwischen der Person vor und nach 1934 aber noch größer und rätselhafter erscheinen, als sie vermutlich war.

Mit dem Mord am Leningrader Parteichef Sergei Kirow am 1. Dezember 1934 beginnt der zweite Teil der Biographie. Der Terror hält Einzug. Von Stalin mit der politischen Untersuchung des Attentats betraut, machte sich Jeschow mit dem gewohnten bürokratischem Übereifer und karrieristisch-penibel an die Arbeit, die vor allem in der Untersuchung des lokalen NKWD und der innerparteilichen Opposition bestand. An dieser Stelle sehen die Autoren die erklärende Verbindung zu der Zeit vor 1934. Für sie blieb Jeschow ein Bürokrat, der die Säuberung und Vernichtung von Volksfeinden mit demselben Elan betrieb wie er frühere Aufgaben erledigt hatte und dies in wohl jeder beliebigen Position tun würde. Im akribischen Aufspüren von Feinden sah Jeschow zudem die Chance, den angeschlagenen NKWD-Chef Genrich Jagoda zu stürzen und zu beerben.

J. Arch Getty und Oleg Naumov beschreiben die Dynamik des Großen Terrors als Ergebnis des Machtkampfes zwischen Jagoda und Jeschow, sowie von dessen bürokratischem Übereifer, der durch die anfängliche Kritik Stalins zusätzlich angeheizt wurde. Unbestritten haben beide Faktoren den Beginn des Großen Terrors beeinflusst. Ob sie aber eine derart zentrale Rolle spielten, bleibt fraglich. Es ist die Gewichtung der Gründe und Erklärungen, die beim Lesen dieser Biographie einen schalen Geschmack hinterlässt. Wenn Jeschow den Großen Terror in Gang setzte, um an Jagodas Stuhl zu sägen, warum stoppte er dann nicht, nachdem das Ziel erreicht war? War es nach 1936 allein sein bürokratischer Übereifer, der die Vernichtung einer ganzen Gesellschaft verantwortete?

Für J. Arch Getty und Oleg Naumov war Nikolai Jeschow ein perfekter Bürokrat des Bösen. Die Parallele zu Adolf Eichmann, den Hannah Arendt als Tätertypus entwarf 3, ist offenkundig und von den Autoren gewollt (S. xxi, S. 1, S. 221). Doch sie trägt nicht für eine Lebensbeschreibung des NKWD-Chefs Nikolai Jeschow. Wie beide unterstreichen, war Jeschow Mitte der 1930er-Jahre der zweitwichtigste Mann in der Sowjethierarchie. Mehr Macht besaß nur Stalin. Jeschow verwaltete nicht nur den Terror, er initiierte und lenkte ihn. Und er nahm teil an den Verhören und sadistischen Folterungen, die er befohlen hatte. Nikolai Jeschow war kein Schreibtischtäter. Mit bürokratischem Pflichtgefühl und einer virtuosen Beherrschung stalinistischer Personalpolitik allein lassen sich weder der Gewaltmensch Jeschow noch der Terror der 1930er-Jahre verstehen. Eine Gewaltgesellschaft ohne den Bezug zur Gewalt, zu ihrer Körperlichkeit, Unmittelbarkeit und Radikalität beschreiben zu wollen, kann nicht gelingen. Wie wichtig es dagegen ist, in einer Lebensbeschreibung die Komplexität persönlicher, systemischer und zeithistorischer Faktoren ausgewogen miteinander in Beziehung zu setzen, hat zuletzt Peter Longerich in seiner eindrucksvollen Biographie Heinrich Himmlers gezeigt.4 Es ist diese Balance, die dem zweiten Buch über Nikolai Jeschow fehlt.

Anmerkungen:
1 Marc Jansen, Nikita Petrov, Stalin’s Loyal Executioner: People’s Commissar Nikolai Ezhov 1895-1940, Stanford 2002.
2 RGASPI – Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialno-političeskoj istorii)
3 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
4 Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008.

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