J. Prieur (Hrsg.): Lippe und Livland

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Titel
Lippe und Livland. Mittelalterliche Herrschaftsbildung im Zeichen der Rose


Herausgeber
Prieur, Jutta
Reihe
Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe e.V. 82
Erschienen
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Zozmann, SFB 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte", Universität Bielefeld

Im aktuellen Sprach- und Denkmuster eines „Europas der Regionen“ gewinnt die Regionalgeschichte vor allem dann neue Bedeutung, wenn sie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Regionen Europas in der Geschichte zu ihrem Gegenstand macht. Der vorliegende Sammelband kann als ein solcher Versuch gelesen werden: In zehn Beiträgen unterschiedlicher Disziplinen werden – mehr oder weniger gelungen – Einzelaspekte der Region Lippe und ihrer Beziehungen zum Baltikum untersucht, die durch verwandtschaftliche Verbindungen von Adels- und Kaufmannsfamilien vor allem zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert große Bedeutung hatten.

Deren Grundlagen wurden zur Zeit Bernhards II. zur Lippe (gest. 1224) gelegt, mit dem sich auch der erste Beitrag beschäftigt. Im Mittelpunkt des Textes steht das sogenannte Lippiflorium, ein Heldengedicht auf diesen wohl bedeutendsten der Lippischen Edelherren. Erhard Wiersing stellt zu Recht die Formelhaftigkeit dieses Werkes und die fehlende psychologische Tiefendimension der besungenen Figur fest, geht aber über diesen Befund kaum hinaus.

Anschließend bietet Meinhard Pohl einen Überblick über die frühe Besitzentwicklung der Lippischen Edelherren. Ausgehend von ihrem Allod, das wohl in der Nähe von Cappel/Lippstadt lag, hätten sich die Lipper um Vogteirechte bemüht, die eine wesentliche Grundlage ihrer Herrschaft bildeten. Ein weiteres Standbein seien ihre Städtegründungen (Lippstadt, Lemgo, Horn, Detmold, Blomberg) gewesen. Diese hätten letztlich auch zu einer Konzentrierung ihrer Herrschaft im ostwestfälischen Raum geführt, nachdem sie in der Zeit vor dem Tod Hermanns II. (1229) noch vor allem über das Mittel der Besetzung geistlicher Positionen weit in den Norden und Westen ausgegriffen hatten.

Der folgende Beitrag von Ulrich Meier schließt hier nahtlos an und untersucht den Ausbau der lippischen Landesherrschaft im 13. Jahrhundert. Die Warnung des Autors, die Geschichte nicht zu sehr vom Ende her zu denken, da so der Blick auf „die vergangene Zukunft“ verstellt werde, eröffnet fruchtbare Perspektiven auf die Handlungsspielräume, welche den Lippischen Edelherren zur Verfügung standen. Damit treten einerseits – stärker als es in vielen anderen Untersuchungen der Fall ist – die Optionen und Strategien in den Blick, welche die Dynasten des hohen und späten Mittelalters zum Ausbau ihrer Herrschaft nutzten. Andererseits wird so die Kontingenz der Entwicklungen deutlich, welche man sich bei der Untersuchung von Staatsbildungs- und Territorialisierungsprozessen immer wieder vor Augen führen muss. Für die Entwicklung des lippischen Territoriums arbeitet Meier heraus, dass die Edelherren durch die Elemente der Stadtgründung und des Landesausbaus sowie durch die Besetzung von geistlichen Ämtern förmlich „nach Osten gezogen“ wurden, was letztlich zu dem bemerkenswerten Sachverhalt führte, dass das Land Lippe sich in einem Teil Westfalens herausbildete, der zu dem ursprünglich namensgebenden Fluss keine Verbindung aufweist.

Wilfried Ehbrechts Aufsatz, der die „alte Erzählung“ vom Modellcharakter lippischer Städte problematisiert, ist leider ein Paradebeispiel für den zwiespältigen Gesamteindruck des Bandes. Die instruktiven Ideen und spannenden Argumente zur Stadtentwicklung und zu den Filiationen der Stadtrechte werden durch Abschweifungen, Redundanzen, nachlässigen Satzbau, ein unausgewogenes Verhältnis von Text und Fußnotenapparat sowie einen verunklarenden Stil ihrer möglichen Prägnanz und Stringenz beraubt. Dies führt nicht zuletzt auch dazu, dass die im sprachlichen Ausdruck mitunter zu verbissene Frontstellung gegenüber der älteren Forschung argumentativ nicht adäquat unterfüttert wirkt.

Hans-Werner Peine, Thomas Pogarell und Elke Treude stellen in ihrem archäologischen Überblick die Ergebnisse der neuen Ausgrabungen auf der Falkenburg dar. Der illustrative Text führt dem Leser auch anhand zahlreicher Bilder die Lebensbedingungen auf einer bedeutenden Burganlage des 13.-15. Jahrhunderts vor Augen, ohne dabei allerdings den historischen Kontext ausreichend einzubeziehen.

Holger Kempkens dagegen verzahnt in seinem reich illustrierten Text die schriftliche Überlieferung und die baulichen Befunde und untersucht in architekturhistorischer Perspektive die Verbreitung der lippischen Bauformen ins Baltikum. Der Autor arbeitet die angevinischen Einflüsse auf die Kirche des lippischen Hausklosters Marienfeld heraus und betont aufgrund der hier zu beobachtenden „innovativen Bauformen“ ihren Charakter als einen der „Schlüsselbauten der westfälischen Spätromanik“. Über die Schlosskapelle in Rheda und die beiden Marienkirchen in Lippstadt fanden wichtige Architekturelemente ihren Weg nach Norden (z.B. Bassum, Bremen, Riga), woran die Familienmitglieder der Lipper in ihren verschiedenen geistlichen und weltlichen Funktionen entscheidenden Anteil hatten.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Ralf Dorn, der in einem ebenfalls hervorragend illustrierten Beitrag die These einer dynastischen Baukunst der Lipper anhand einer Analyse westfälisch-niedersächsischer Kirchenbauten überzeugend belegt. Er setzt in abgewogener Weise die Bautätigkeit der Lipper in Westfalen und Niedersachsen mit der historischen Entwicklung in Zusammenhang und verliert dabei weder die strukturierenden Vorgaben, die aus dem lippischen Familienverband heraus die Architektur beeinflussten, noch den wichtigen Einfluss der Bauhütten aus dem Blick.

Wolfgang Bender beginnt seinen Beitrag mit der Konversion Bernhards und dessen Eintritt in das Kloster Marienfeld (um 1200). Der Fokus liegt auf dem Landesausbau und der Mission in Livland. Die Nähe der verschiedenen Orden, vor allem der Zisterzienser, zu den Kreuzzugsbewegungen wird anhand der handelnden Personen im Umfeld Bernhards gut herausgearbeitet. Je mehr sich der Aufsatz jedoch thematisch der Mission nähert, desto mehr entfernt er sich von einer ausgewogenen Begrifflichkeit: Immerfort kämpfen dort „christliche Kreuzfahrer“ gegen „Heiden“. Manche endeten „tragisch im Schlachtentod“ und erlangten so die „Märtyrerkrone“, andere stritten „unermüdlich“ dafür, „das Baltikum für den abendländisch-katholischen Kulturkreis“ zu gewinnen. Durch diese fehlende Distanzierung von der Quellensprache bleiben auch die zaghaften Versuche, die Vorgänge bei der Missionierung des Baltikums kritisch zu werten, in Ansätzen stecken.

Bernd Ulrich Hucker stellt im folgenden Beitrag erneut seine These zur Diskussion, dass die Lipper die Einrichtung einer Königsherrschaft angestrebt hätten. Dabei setzt er sich detailliert und zumeist überzeugend mit der Kritik auseinander, die nach der Veröffentlichung seines ersten Aufsatzes über lippische Königspläne im Baltikum geäußert worden war. In der Betrachtung der Ziele und Möglichkeiten, welche die Handlungen Bernhards II. und seiner Kinder motiviert haben könnten, nimmt er eine Perspektive ein, die der von Ulrich Meier in diesem Band nicht unähnlich ist.

Den Abschluss des Tagungsbandes bildet der Beitrag des lettischen Historikers Ilgvars Misâns, der die Geschichte der lettischen Historiographie anhand der verschiedenen Deutungen der christlichen Kreuzzüge im Baltikum untersucht. Lange Zeit sei diese entweder durch die nationalistische Stilisierung der Letten als ein „Volk von Kriegern“ oder durch die ideologischen Vorannahmen unter russisch-kommunistischer Kulturhoheit geprägt gewesen. Erst neuerdings seien Arbeiten entstanden, die sich ernsthaft um eine ausgewogene Interpretation der Quellen bemühten, auch wenn es in maßgeblichen Veröffentlichungen weiterhin reaktionäre Stimmen gebe. Es scheint deshalb geboten, gerade bei diesen leicht ideologisierbaren Themen die internationale Zusammenarbeit zu verstärken, um einseitige Perspektivierungen zu vermeiden.

Am Ende bleibt von „Lippe und Livland“ ein zwiespältiger Eindruck: Konzeptuell und argumentativ herausragenden Beiträgen stehen solche gegenüber, die einen eher illustrativ-informativen Charakter haben. Einigen Texten hätte zudem eine Straffung oder ein kritisches Lektorat gut zu Gesicht gestanden. Vor allem aber hätte man sich über die Einleitung von Jutta Prieur hinaus einen Synthesebeitrag gewünscht, der die interdisziplinär zusammengetragenen Ergebnisse zueinander in Beziehung setzt und in den Gesamtzusammenhang der Forschung einordnet. Von diesen Kritikpunkten abgesehen, kann das Buch nicht zuletzt auch wegen der zahlreichen, nützlichen und ästhetisch gelungenen Bilder, Karten und Illustrationen mit Gewinn zur Hand genommen werden.

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