M. Dobson u.a. (Hrsg.): Reading Primary Sources

Titel
Reading Primary Sources. The Interpretation of Texts from 19th and 20th Century History


Herausgeber
Dobson, Miriam; Ziemann, Benjamin
Reihe
Routledge Guides to Using Historical Sources
Erschienen
London 2008: Routledge
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
$39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission, Bayerische Akademie der Wissenschaften, München

Vor dem Hintergrund des Bologna-Prozesses und einer erwarteten oder vielleicht auch tatsächlich eingetretenen Verschulung der Studiengänge ist in den letzten Jahren eine unüberschaubare Anzahl an Einführungs- und Überblickswerken produziert worden. Eigentlich – so sollte man denken – gibt es inzwischen ausreichend gut fundierte und aktuelle Propädeutiken für alle studienformalen, theoretisch-methodologischen und forschungsdisziplinären Teilbereiche der Geschichtswissenschaft. Dass dem nicht so ist, belegt ein Band, der für Undergraduates im englischsprachigen Raum konzipiert ist.

Um die Lektüre von „Primary Sources“, von Quellen also, geht es den zwölf Autoren in der von den an der University of Sheffield lehrenden Herausgebern zusammengestellten Aufsatzsammlung. Nun ist das Quellenstudium regelmäßiger Bestandteil aller methodologischen Einführungen und Quellenkunden für das Geschichtsstudium, aber nicht in der Weise wie Dobson und Ziemann es thematisieren. Denn in den Einführungen wird stets auf die Recherche von Quellen hingewiesen und auf allgemeine Formen, diese kritisch zu interpretieren (Heuristik, Kritik, Interpretation), während Bücherkunden bereichsbezogen wichtige Quellenbestände und -editionen auflisten, also auf Einzelwerke oder Gruppen von Einzelwerken verweisen. Demgegenüber geht es in „Reading Primary Sources“ um den angemessenen Umgang mit bestimmten Quellengenres. Hinter dem Band steht die ebenso einfache wie überzeugende Idee, dass unterschiedliche Genres von Quellen (zum Beispiel Briefe, Zeitungen, Vorträge) unterschiedliche Formen der Auslegung erfordern. Der Entstehungskontext, die adressatenkreisbezogene Erzählhaltung, genretypische Stilmittel – all dies muss in bestimmter Weise bei der Analyse der Quellen mitbedacht werden. Schriftliche Quellen sind – und darin folgen die Herausgeber einer fundamentalen Einsicht, die besonders durch die Arbeiten Hayden Whites popularisiert wurde – eben nicht nur historische Zeugnisse, sondern auch literarische Erzeugnisse, die an literarische Traditionen anknüpfen, rhetorische Formen aufgreifen und in bestimmte diskursive Kontexte eingebunden sind.

„Reading Primary Sources“ besteht aus zwei Teilen, dessen erster eine historische Verortung des Umgangs mit Quellen anstrebt. Philipp Müller stellt – mit besonderer Berücksichtigung der Ansätze Rankes, Droysens und Diltheys – die Entwicklung der historischen Hermeneutik seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts dar; Christoph Reinfandts Ausführungen erläutern die Ansätze des so genannten Linguistic Turn.

Im zweiten Teil werden dann – ohne den Anspruch, eine Typologie aller schriftlichen Quellen der Moderne zu geben – einzelne Quellengenres vorgestellt: Briefe (von Miriam Dobson), Überwachungsberichte (von Moritz Föllmer), Gerichtsakten (von Claudia Verhoeven), Meinungsumfragen (von Anja Kruke), Denkschriften (von Kristina Spohr Readman), Tagebücher (von Christa Hämmerle), Romane (von Julia Reid), Autobiographien (von David Carlson), Zeitungen (von Stephen Vella), Reden (von Paul Readman) und Augenzeugenberichte (von Devin O. Pendas). Diese Darstellungen sind stets sehr anschaulich aufgebaut; ihr großer Vorzug besteht darin, dass sie alle den Fragen einer von den Herausgebern einleitend benannten „basic checklist“ folgen und dadurch eine gut vergleichbare einheitliche Struktur haben. So gehen die Autoren etwa auf die für alle Quellen notwendige Suche nach Schlüssel- und Abgrenzungsbegriffen sowie nach genretypischen rhetorischen Figuren und möglichen Bezügen der Quellen zur Person ihres Verfassers ein. Auch wird stets versucht, eine internationale bzw. nicht-nationale Sichtweise auf das jeweilige Genre anzulegen.

Insgesamt kann der Band überzeugen. Er führt auf eine Weise in das Problem der Literarizität von Quellentexten ein, die an anderer Stelle so nirgends zu finden ist. Dass er dabei ausschließlich Textquellen erörtert und bildliche Quellen wie dingliche Überreste außerhalb der Betrachtung lässt, ist insofern nicht weiter zu kritisieren, als zu letzteren Quellentypen ein eigener Band in der Reihe der „Routledge Guides to Using Historical Sources“ geplant ist. Auch die epochenmäßige Einschränkung des Werks auf die Neuere und Neueste Geschichte ist aus darstellungspragmatischen Rücksichten zu begrüßen. Kritisieren lässt sich dagegen die enge Auslegung des „Reading“-Begriffs als hermeneutischen Vorgang. Zumindest als Ausblick hätten textexplanatorische Verfahren (seriell auswertbare Statistiken etwa werden nicht behandelt), die auch in dem historischen Überblick des ersten Teils völlig fehlen, in die Übersicht miteinbezogen werden sollen – zumal das Erklären als Form der Quellenarbeit im angelsächsischen Raum eine ausgeprägtere Tradition hat als in der deutschen Geschichtswissenschaft. So kann die historistische Methodik als Inbegriff von historischer Methodologie erscheinen, deren Vorgehensweise im Zeichen des Linguistic Turn um eine literaturwissenschaftliche Analyse erweitert worden sei.

Dass „Reading Primary Sources“ eine englische Veröffentlichung ist und keine deutsche, nimmt nicht Wunder. Die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung selbst auf den vor allem in Großbritannien ausgeprägten Gegensatz zwischen „Postmodernisten“ wie Keith Jenkins und „Realisten“ wie Richard Evans hin, der das Phänomen der Literarizität historiographischer Texte und historischer Quellen zu einem stärker umkämpften Streitpunkt machte, als dies im deutschsprachigen Raum der Fall war. Dass Ziemann gleichwohl ein deutschsprachiges Pendant zur Reihe der „Routledge Guides“ vorbereitet, in dem auch die Interpretation von Bildquellen ausgiebig zur Sprache kommen soll, ist mit Blick auf die Dienste, die der vorliegende Band Studierenden leisten kann, sehr zu begrüßen.

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