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Titel
"Zur Rettung des Landes". Bildung und Beruf im China der Republikzeit


Autor(en)
Schulte, Barbara
Erschienen
Frankfurt am Main u.a. 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hajo Frölich, SFB 700, Freie Universität Berlin

Barbara Schulte erzählt in ihrer Berliner Dissertation eine Geschichte des Scheiterns. In China wurde die Idee, junge Menschen für einen konkreten Beruf an eigenen Berufsschulen auszubilden, in den ersten Jahren der Republik nach der Revolution von 1911 viel diskutiert, und es fehlte auch nicht an Versuchen, sie in die Praxis umzusetzen. Dennoch: Hatte es 1924 in ganz China noch 1006 Berufsschulen gegeben, so fiel deren Zahl bis 1928 auf nur noch 157 und hatte damit wieder das Niveau der letzten Jahre vor der Revolution erreicht.

Barbara Schulte erzählt aber auch eine Geschichte des Erfolgs. Die „Chinesische Gesellschaft für Berufsbildung“ (Zhonghua Zhiye Jiaoyushe) zum Beispiel, deren Mitglieder und Aktivitäten im Zentrum des Buches stehen, wurde 1917 gegründet, und sie existiert bis heute.

Das Nebeneinander von Erfolg und Scheitern ist die große Stärke von Schultes Darstellung, die nicht nur keinen gradlinigen chinesischen „Weg in die Moderne“ zeichnet, sondern überdies nahe legt, dass „die“ Moderne in China durchaus anders aussehen könnte als an anderen Orten der Welt. Damit hebt sich die Untersuchung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin von älteren wie jüngeren Werken zur Geschichte der Berufsbildung und ganz allgemein der Bildung in China ab, die einen (idealen) westlichen Maßstab und ein vorgeblich universales Verlaufsmodell anlegen und dann eben sehr viel vom Scheitern sprechen.1 Schulte dagegen macht deutlich, wie zwar die direkte Umsetzung ausländischer Modelle in China scheiterte, die Menschen aber stattdessen erfolgreich nach einem eigenen Weg suchten. Allzu eurozentrische Publikationen repräsentieren freilich schon länger nicht mehr den Hauptstrom der Forschung zur chinesischen Bildungsgeschichte, der sich wie Schulte eher der Auflösung des Gegensatzes von „Tradition“ und „Moderne“, den Prozessen der kreativen Adaption letzterer und der Hybridität widmet.2 Auch im chinesischen Sprachraum wird die lange vorherrschende, lineare Modernisierungserzählung immer häufiger gebrochen und differenzierter dargestellt.3

Auch wenn der explizite Vergleich „multipler Modernen“ im Bildungswesen nicht Gegenstand des vorliegenden Buches ist, so sind die globalen Zusammenhänge dennoch stets präsent. Schulte will darlegen, „wie bestimmte Akteure […] in Auseinandersetzung mit einer zunächst vor allem westlich definierten ‚Moderne’ Repräsentationen von Bildung, Beruf und Berufsbildung als semantisch-symbolische Konzepte etablierten und wie sich diese Konzepte eventuell von anderen, nicht-chinesischen Repräsentationen oder aber von konkurrierenden chinesischen Repräsentationen unterschieden“ (S. 21f.). Schulte geht davon aus, dass sich die „semantische Umformung“ der Repräsentationen oder „Werte- und Deutungsmuster“ der chinesischen Akteure durch den parallelen Rückgriff sowohl auf traditionelle chinesische als auch ausländische Ideen vollzog. Im Zentrum der Analyse stehen die Diskurse von Akteuren der Berufsbildung, die vor allem anhand von Artikeln in den Fachpublikationen „Zeitschrift für Bildung und Erziehung“ (Jiaoyu Zazhi) und „Bildung und Beruf“ (Jiaoyu yu Zhiye) analysiert werden.

Wie Schulte feststellt, konzipierten die den Diskurs dominierenden Vertreter aus Politik, Bildungswesen, Medien und kulturellen Einrichtungen den Beruf vor allem als „sozialisatorische Maßnahme“, der ein „ordnungsstiftendes Moment“ eigne (S. 266). Zwar habe die traditionelle, außerschulische Berufsausbildung durch Gilden und Zünfte weitgehend Ablehnung erfahren, weil diese Organisationen ihre Auszubildenden „wie Leibeigene“ behandelten. Die Individualisierung des Auszubildenden (in Anlehnung an westliche Modelle der Berufsbildung) sollte allerdings im chinesischen Kontext letztlich auch nicht der individuellen Freiheit, sondern der effizienteren „Nutzbarmachung des Einzelnen für die Gesellschaft und damit letztendlich auch für die Nation“ dienen (S. 266). Das große Vertrauen in die umfassende, transformierende Macht der Bildung zeigte sich auch in der Vorstellung, die Berufsbildung solle das Volk „kultivieren“ (S. 203f.).

Parallel zu den ideologischen Debatten wurde auf einer pragmatischen Ebene die Umsetzbarkeit verschiedener ausländischer Modelle der Berufsbildung diskutiert. Am Ende stand die Einsicht, dass all diese Modelle ihren jeweiligen nationalen Kontexten angepasst seien und die Übernahme eines einzelnen Modells ohne Rücksicht auf den chinesischen Kontext keinen Erfolg bringen werde. Radikale Reformen erwiesen sich als nutzlos, die so entstandenen Berufsschulen standen nun plötzlich selbst für jenes „nutzlose Lernen“, das zuvor mit dem Bildungswesen der Kaiserzeit assoziiert worden war und dessen Ablösung sich alle Bildungsreformer auf die Fahnen geschrieben hatten (S. 234). Die Mitglieder der „Gesellschaft für Berufsbildung“ vertraten denn auch überwiegend eine moderat kritische Haltung gegenüber dem überkommenen Bildungssystem und machten sich auf die Suche nach der „wahren“ Tradition (S. 218). Schulte spricht vom „progressiven Konservatismus“ der Reformer, die letztlich danach gestrebt hätten, mit den modernen Mitteln der Berufsbildung das konfuzianische Ideal der staatlichen Fürsorge für das Volk bei dessen gleichzeitiger Disziplinierung zu realisieren (S. 221). Tradition und Moderne sieht Schulte auch dort untrennbar miteinander verwoben, wo der Diskurs sich der Vergemeinschaftung durch Bildung widmet. Dass es den Chinesen an Gemeinschaftsgeist fehle, war in jenen Jahren ein fester Topos des Diskurses. Auch hier sollte die Berufsbildung Abhilfe schaffen, wenngleich die Demokratisierung der Gesellschaft nur einer Minderheit vorschwebte (S. 227f.).

Viel Mühe hat Schulte auf die Erstellung und Auswertung einer umfangreichen Personen-Datenbank verwandt, die die Grundlage für die erwähnte Kollektivbiographie der „Chinese Actors in Vocational Education“ (kurz CAVE – so heißt denn auch die Datenbank) bildet und sich teils auf chinesischsprachige Zeitschriftenaufsätze aus der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Datenbank „China Academic Journals“ (CAJ) stützt. 348 Personen sind hier versammelt, die Schulte auf ihren beruflichen und Bildungshintergrund, ihre institutionellen und geographischen Wirkungskreise sowie die sie verbindenden Beziehungsnetze hin analysiert und die Ergebnisse im Text sowie in insgesamt 18 Diagrammen, Tabellen und Landkarten darstellt. Doch gerade angesichts dieser Fülle an Informationen vermisst der Leser eine prägnante Zusammenfassung der daraus gewonnenen Erkenntnisse. Weil auch im darauf folgenden Kapitel zur Diskursanalyse nur vereinzelt auf die Ergebnisse der Datenbank-Auswertung Bezug genommen wird (z.B. auf S. 218), verfestigt sich der Eindruck, dass aus „CAVE“ noch mehr Kapital hätte geschlagen werden können.

Dass weniger mehr sein kann, zeigt Schulte eindrücklich in ihrer abschließenden Untersuchung der „Chinesischen Berufsschule“ (Zhonghua Zhiye Xuexiao) in Shanghai. Gestützt auf die detaillierte Auslegung einer überschaubaren Zahl an Quellen vornehmlich aus dem Stadtarchiv Shanghai – unter anderem einer Schrift zum 15jährigen Schuljubiläum im Jahr 1933 – verdeutlicht Schulte die Lücke zwischen „Ideal und Wirklichkeit“: Die Schule sollte explizit Kindern aus armen Familien und Arbeitslosen eine Chance durch eine berufsnahe Ausbildung bieten. Faktisch wurde sie zu einer Schule der Mittelschicht, an der die weniger privilegierten Schüler, die kein Schulgeld zahlten, stattdessen täglich acht Stunden in einer Fabrik arbeiten mussten und nur drei Stunden Unterricht erhielten (S. 250). Selbst das Ziel der Vermittlung unmittelbar berufsrelevanter Kenntnisse trat zugunsten eines stärker allgemeinbildenden Curriculums zurück (S. 249). Elegant knüpft Schulte am Ende dieses Kapitels an die vorangegangene Diskursanalyse an: Ihre Übersetzungen der zu einem Schuljubiläum in China bis heute üblichen Glückwunsch-Kalligraphien aus dem Pinsel hoch stehender Persönlichkeiten (hier von Mitgliedern der „Gesellschaft für Berufsbildung“) verdeutlichen noch einmal die verschiedenen Diskursstränge vom „nutzlosen“ und nützlichen Lernen oder der „wahren“ Tradition, und sie illustrieren zugleich unfreiwillig die Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit.

Schon ein zeitgenössischer Beobachter hatte festgestellt: „The new education is not being introduced into China […] as an importation from abroad, but is developing out of former conditions into something adapted to the new life of the nation.“4 Barbara Schultes Untersuchung zeigt am Beispiel der Berufsbildung eindrucksvoll, wie diese Entwicklung „out of former conditions“ im Detail vonstatten ging.

Anmerkungen:
1 So noch Thomas D. Curran, Educational Reform in Republican China. The Failure of Educators to Create a Modern Nation, Lewiston 2005.
2 Etwa Cong Xiaoping, Teacher's Schools and the Making of the Modern Chinese Nation-State, 1897-1937, Vancouver 2007; Stig Thøgersen, A County of Culture. Twentieth-Century China Seen from the Village Schools of Zouping, Shandong, Ann Arbor 2002.
3 Sang Bing, Wan Qing xuetang xuesheng yu shehui bianqian (Die Studenten der neuen Schulen und die gesellschaftlichen Veränderungen in der späten Qingzeit), Guilin 2007; Xiong Yuezhi, Xixue dongjian yu wan Qing shehui (The Dissemination of Western Learning and the Late Qing Society), Shanghai 1994.
4 John C. Ferguson, The Government Schools of China, in: Records of the Sixth Triennial Meeting of the Educational Association of China, held at Shanghai, May 19-22, 1909, Shanghai 1909, S. 16.

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