S. v. Welck: Franzosenzeit im Wendland

Titel
Franzosenzeit im Hannoverschen Wendland (1803-1813). Eine mikro-historische Studie zum Alltagsleben auf dem Lande zwischen Besatzungslasten und Sozialreformen


Autor(en)
Frhr. von Welck, Stephan
Reihe
Schriftenreihe des Heimatkundlichen Arbeitskreises Lüchow-Dannenberg 17
Erschienen
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke John, Historisches Institut, Universität Rostock

Besonders geeignet für alltagsgeschichtliche Fragestellungen, haben regionale Studien viel zu einer Erfahrungsgeschichte der napoleonischen Ära beigetragen.1 Stephan Frhr. von Welck legt nun eine Darstellung über das hannoversche Wendland vor, das seit 1810 zum Königreich Westphalen gehörte. Nirgendwo ist die Widersprüchlichkeit der napoleonischen Ära deutlicher geworden als in diesem Musterstaat nach französischem Vorbild: Er führte den Code civil ein, verschaffte seiner Bevölkerung persönliche Freiheit und Rechtsgleichheit und spannte sie zugleich in den Krieg ein. Er brachte der Wirtschaft Gewerbefreiheit und legte ihr zugleich die Fesseln der Kontinentalsperre an.

Welche konkreten Auswirkungen hatte die Übertragung der modernen Staatsschöpfung Napoleons in den kleinen Städten, Flecken und Dörfern des Wendlands und wie ist sie durch die vornehmlich ländliche Bevölkerung wahrgenommen worden? Stephan Frhr. von Welck untersucht den Zeitraum zwischen dem Einmarsch der napoleonischen Truppen 1803 und ihrem turbulenten Abzug 1813. In einer Art Buchbinderverfahren handelt er dabei zunächst die Grundzüge der napoleonischen Herrschaft in Europa und die Gesellschaftsstruktur des agrarisch und ausgesprochen dünn besiedelten Wendlands um 1800 ab. Die sich anschließende Untersuchung der beiden französischen Besatzungszeiten (1803-1805, 1806-1810), des preußischen Intermezzos (1805-1806) sowie der Integration des Wendlands in das Königreich Westphalen (1810-1813) folgt dennoch in weiten Teilen einer lokalen Eigenlogik. Dies machen vor allem die eingefügten biographischen „Exkurse“ oder die abschließende Beschreibung von Kriegerdenkmälern und Erinnerungstafeln deutlich, die das generelle Problem der posthumen Deutung der napoleonischen Ära vollkommen aussparen.

Insgesamt hat von Welck ein allzu unkritisches Verhältnis zu seinen Quellen. So übernimmt er unbekümmert Urteile, die weit nach 1815 entstanden sind und die der vergangenen Realität nicht selten eine nationale oder niedersächsische Sichtweise übergestülpt haben. Aus ihnen lassen sich ohne weiteres kaum zuverlässige Aussagen über die Erfahrungen und die tatsächliche Stimmungslage der Bevölkerung unter der Herrschaft und Militärpräsenz der Franzosen oder der Preußen treffen. Leistungen und Grenzen der französischen Eroberung und Modernisierung sowie Zuspruch und Ablehnung der Bevölkerung im Wendland werden noch am ehesten aus den Überlieferungen der Privat-, Kirchen- und Stadtarchive deutlich. Sie bestätigen Befunde aus anderen Regionen über die disparaten Auswirkungen und Wahrnehmungen der napoleonischen Herrschaft vor Ort und sollen daher in Auszügen vorgestellt werden. Für das Verhalten der französischen Armee im Wendland ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einzelne Berichte über Kontakte der Bevölkerung mit den Besatzern zeigen, dass die französische Propaganda, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zu bringen, durchaus Früchte trug. Die „Schlägereyen zwischen den Landeseinwohnern und französischen Militär-Personen“ und die vom Oberbefehlshaber Mortier angemahnte „strenge(n) Ordnung und Mannszucht“ verweisen demgegenüber aber auch auf das erhebliche Konfliktpotenzial im Alltag (S. 56-59).

Dass für die unterschiedlichen Einquartierungslasten und den Verpflegungsaufwand der Besatzungstruppen die strategisch wichtige Lage der Orte im Grenzland zu Preußen und später an den Militärtrassen – wegen der fremden Truppendurchzüge zu den Kriegsschauplätzen im Osten – ausschlaggebend war, wird deutlich. Eine gründlichere Auswertung vorhandener „dicker Aktenbände“ mit Streitigkeiten zwischen Bürgern, Gemeinden und Ämtern über den Ausgleich der Besatzungslasten hätte hier vielleicht mehr Klarheit über die wirtschaftlichen Verlierer und Nutznießer des Krieges im hannoverschen Wendland gebracht (S. 60ff.).

Generell stellt von Welck fest, dass trotz der enormen Abgabepflichten im Unterschied zu früheren Kriegserfahrungen keine Hungersnot eintrat (S. 105f.). Die Kontinentalsperre, die den Handel mit England unterbinden sollte, beförderte wie in anderen Regionen den Schwarz- und Schleichhandel. Zudem wird auch nachgewiesen, dass zum Beispiel der Absatz von Leinen nach England durch die Erschließung neuer Märkte auf dem Kontinent kompensiert werden konnte (S. 75ff.).

Auf Desertion und die zunehmende Flucht der „Konskribierten“ reagierte die Regierung in Kassel in der letzten Phase des Krieges mit verstärkten Kontrollen der Elbübergänge des Wendlands nach Preußen und Mecklenburg (S. 244ff.). Aktiver Widerstand gegen die französische Herrschaft, wie ihn nach 1815 die Wortführer der nationalen Geschichtsschreibung neu erfanden, zählt Stephan Frhr. von Welck auch für das Wendland nicht zu den üblichen Reaktionen der Bevölkerung. Spätere Schilderungen lokaler Honoratioren über den „Befreiungskrieg“ entsprangen wohl eher dem Bemühen, den eigenen Lebenslauf zu begradigen, nachdem sie ihre Dienste dem König von Westphalen, Jérôme Bonaparte, bereitwillig zur Verfügung gestellt hatten (S. 171f. und 200f.).

Möglichkeiten und Grenzen der administrativen, rechtlichen und sozialen Reformen nach der Integration des Wendlands in den Musterstaat Westphalen am 1. März 1810 werden in der Mikro-Perspektive deutlich. Die Neuordnung der Verwaltung nahm auf historische Traditionen keine Rücksicht und teilte das Wendland fortan von Norden nach Süden in zwei Regierungsbezirke und acht Cantone, die in Flächengröße und Einwohnerzahl annähernd gleich groß bemessen wurden. Trotz dieses tiefen Einschnitts funktionierte die neue Verwaltung effizient und erwies sich rasch als durchsetzungsfähig, wie der Autor unter anderem am Wiederaufbau Lüchows nach dem großen Stadtbrand 1811 zeigt. Das ehrgeizige Programm einer politischen und sozialen Neuordnung habe sich jedoch nur mit den einheimischen Beamten umsetzen lassen, die sich – nach der Auflösung der alten Gerichte und Ämter brotlos geworden – in ausreichender Zahl um die neuen Verwaltungsstellen beworben hätten. Als Gerichte der unteren Instanz lösten die Friedensgerichte die Amts- und Patrimonialgerichte ab, jenseits des Novums mündlicher Verhandlungen aber wohl nicht in jedem Fall den „Amtstil nach Gutsherrenart“ (S. 207). Anspruch und Wirklichkeit des französischen Reformprojektes klaffen besonders in Bezug auf die Veränderung der grundherrlichen Agrarverfassung weit auseinander. Dafür macht von Welck die verworrene Rechtslage, die Langwierigkeit des Verfahrens und nicht zuletzt Ausnahmebestimmungen für die zahlreichen Dotationsdomänen napoleonischer Generäle und Beamter verantwortlich. Alle drei Faktoren stellten nahezu unüberwindbare Hindernisse für die Umsetzung der Ablösepolitik dar, wie der Verfasser an einzelnen Verfahren über Dienst- und Leistungspflichten Wendländer Bauern veranschaulichen kann (S. 212ff. ). Die Folgen der Gewerbefreiheit werden statistisch durch die zahlreichen Gründungen von Gewerbebetrieben auf den Dörfern deutlich. Ebenso die Auswirkungen der Religionsfreiheit, die zu einem Zuwachs der jüdischen Gemeinden führte und den Juden mit der Verleihung staatsbürgerlicher Rechte erhebliche Erleichterungen brachte (S. 218ff.).

Abschließend wird die Durchsetzungskraft der Restauration nach 1813 betont, wodurch es jedoch schwer fallen dürfte, den Übergang zu den erwähnten Spätfolgen der napoleonischen Reformen in der Gesetzgebung des hannoverschen Staates seit den 1830er-Jahren zu erklären.

Anmerkung:
1 Zu alltagsgeschichtlichen Fragestellungen in der europäischen Geschichtsschreibung vgl. Philip Dwyer, New Avenues for Research in Napoleonic Europe, in: European History Quarterly 33 (2003), S. 101-124. Einen Überblick zum deutschen Forschungsstand einer Erfahrungsgeschichte der napoleonischen Ära bietet die Einleitung in Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841 (Krieg in der Geschichte 33), Paderborn 2007.