A. Confino u.a. (Hrsg.): Between Mass Death and Individual Loss

Cover
Titel
Between Mass Death and Individual Loss. The Place of the Dead in Twentieth-Century Germany


Herausgeber
Confino, Alon; Betts, Paul; Schumann, Dirk
Reihe
Studies in German History 7
Erschienen
New York 2008: Berghahn Books
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
$ 85.00/£ 42.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kruse, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

Der Umgang mit dem gewaltsamen Tod in der neueren deutschen Geschichte ist lange vor allem unter dem Einfluss von Reinhart Kosellecks Konzept des „politischen Totenkults“ mit seiner Konzentration auf die Geschichte der Kriegerdenkmäler untersucht worden. Der hier vorgestellte, auf eine Tagung an der Universität von Virginia in Charlottesville im Jahr 2003 zurückgehende Sammelband verschiebt demgegenüber nachhaltig die Fragestellungen, Perspektiven und Themenfelder. Er gibt vielfältige Anregungen, führt mit dem einleitend von den Herausgebern formulierten Anspruch, epochenübergreifende Formen von Trauer, Leid und Totenerinnerung forschungsstrategisch mit den überwältigenden Gewalterfahrungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zu verbinden, teilweise aber auch etwas in die Irre. Denn das im Buchtitel angelegte Spannungsverhältnis zwischen dem gewaltsamen Tod als Massenerfahrung und den trotzdem weiterhin persönlichen Verlusterfahrungen wird so teilweise umgangen und auf die unterschiedlichen Ebenen von gewaltsamem Massentod einerseits, natürlichem Tod andererseits verschoben.

Die Aufsätze über Feuerbestattung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Simone Ameskamp) sowie über Bestattungsformen in der DDR (Felix Robin Schulz) sind für sich gelungen, im Zusammenhang des Sammelbandes mit seiner Schwerpunktsetzung auf dem gewaltsamen Tod jedoch mehr oder weniger Fremdkörper – zumal sie deutlich machen, dass sich ihre Gegenstände tatsächlich weitgehend unabhängig von den Kriegserfahrungen entwickelt haben. Ähnlich abgelöst erscheint auch der durchaus interessante, vergleichende Beitrag von Paul Betts über die Staatsbegräbnisse für Konrad Adenauer und Walter Ulbricht. Etwas anders verhält es sich mit Michael Geyers Aufsatz über die vermeintlich spezifische, eine höhere „killing rate“ aufweisende Kampf- und Tötungsweise, die das deutsche Militär seit dem Ersten Weltkrieg entwickelt habe. Wie immer man diese auf Niall Ferguson zurückgehende, einigermaßen spekulativ entwickelte These beurteilen mag: Als allgemeine Grundlage für eine Behandlung des massenhaften gewaltsamen Todes in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheint sie nicht wirklich tragfähig.

Der Band ist in vier Kapitel gegliedert, die das Töten und die Leichen, die Bestattungsformen allgemein, die Wahrnehmung und Deutung nun wiederum des gewaltsamen Todes sowie seine längerfristigen Wirkungen untersuchen. Das erste Kapitel bezieht sich (neben dem Beitrag von Geyer) auf den Umgang mit den Leichenbergen, die der zusammenbrechende Nationalsozialismus 1945 hinterlassen hat. Es enthält eine eindringliche, von Richard Bessel geschriebene Darstellung der allgegenwärtigen Realität von auf vielfache Weise gewaltsam ums Leben gekommenen und sterbenden Menschen, die eine prägende Erfahrung für die Überlebenden war. Leider geht der Aufsatz am Ende nicht über die erstaunte Feststellung hinaus, dass die (West-)Deutschen in der Folgezeit in der Lage waren, eine erfolgreiche und friedfertige Gesellschaft aufzubauen. Wie mit den Leichen konkret umgegangen wurde, analysiert Monica A. Black am Beispiel der Berliner „Bestattungskrise“ von Kriegsende und früher Nachkriegszeit. Es handelt sich dabei um den ambitionierten und vielleicht kulturalistisch etwas überladenen Versuch, aus dem Umgang mit den zuerst behelfsmäßig und oft in anonymen Massengräbern beigesetzten Leichen sowie ihrer vielfachen Exhumierung und Neubeisetzung Rückschlüsse sowohl auf die ursprüngliche Begeisterung für den Nationalsozialismus zu ziehen wie auch auf die Verarbeitung der Erfahrungen mit dem verlorenen Krieg. Indem die Berliner für ihre Angehörigen nun das „angemessene Begräbnis“ reklamierten, das vorher allen „nichtarischen“ Menschen verweigert worden war, gelang es ihnen demnach paradoxerweise, sich von einer NS-Vergangenheit zu distanzieren, der sie die Schuld an der Missachtung ihrer Toten gaben.

Das zweite Kapitel enthält neben den drei bereits genannten Beiträgen zur Sepulkralkultur (von Ameskamp, Schulz und Betts) einen Aufsatz von Kay Schiller über den deutschen Umgang mit den Opfern des terroristischen Angriffs des PLO-Kommandos „Schwarzer September“ auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Vor dem historischen Hintergrund der Olympiade von 1936 einerseits, der Bemühungen um die bundesrepublikanische Demonstration zivilisatorischer Normalität andererseits wird das geschichtsbewusste, moralisch und politisch verantwortliche Verhalten der bundesdeutschen Öffentlichkeit sowie führender Politiker und Sportfunktionäre herausgearbeitet. Insbesondere Willy Brandt, Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel und Willi Daume trugen demnach dazu bei, dass es trotz der schrecklich misslungenen Befreiungsaktion möglich wurde, durch die gemeinsame Trauer die Beziehungen zu Israel zu festigen. Erinnerungspolitisch allerdings tat sich zwei Jahrzehnte nichts, bevor in den 1990er-Jahren zwei Denkmäler im ehemaligen Olympischen Dorf und auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck errichtet wurden.

In den folgenden vier Beiträgen geht es unter dem Obertitel „Subjectivity“ um unterschiedliche Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Deutungsformen des gewaltsamen Todes in den beiden Weltkriegen. Zwei Beiträge behandeln jüdische Erfahrungswelten. Tim Grady zeigt, dass die deutsch-jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges oft gemeinsam mit den anderen deutschen Kriegsopfern erinnert wurden, und relativiert so überzeugend die These, der Weltkrieg stelle einen einschneidenden Wendepunkt in der Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses dar. Gabriel N. Finder führt eindringlich die verschiedenen Formen von Bestattungen, landsmannschaftlichen Trauergemeinden, Erinnerungsbüchern und Gedenkveranstaltungen vor, mit denen die jüdischen Überlebenden des Holocaust in der unmittelbaren Nachkriegszeit an die Opfer erinnert haben. Dabei werden zugleich Umgangsformen mit dem Holocaust aufgezeigt, von denen heute in der Bundesrepublik wenig bis gar nichts geblieben ist. Die beiden anderen Aufsätze konzentrieren sich auf deutsch-deutsche Perspektiven. Alon Confino stellt die Erwartung vor, durch die Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen nationalsozialistischer Ideologisierung der Totenehrung auf der einen, dem Weiterwirken religiös geprägter Umgangsformen auf der anderen Seite zu einem vertieften Verständnis des tatsächlich „gelebten Nazismus“ gelangen zu können. Und Martina Kessel entwickelt die anregende, in ihrer Verallgemeinerung aber auch bezweifelbare These, dass eine spezifisch deutsche, schon seit dem 19. Jahrhundert in Gegensatz zur „französischen“ Ironie ausgebildete, gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht in Frage stellende Form von Humor dazu beigetragen habe, auch die militärische Gewaltpraxis der beiden Weltkriege unhinterfragt zu akzeptieren. Während es in den deutschen Witzen des Ersten Weltkrieges allerdings darum gegangen sei, Gewalt gegen Zivilisten explizit zu legitimieren, sei diese während des Zweiten Weltkrieges nicht offen angesprochen worden, was dazu beigetragen habe, keine Verantwortung dafür entwickeln zu müssen.

Die letzten drei Beiträge thematisieren die „ruins“ der längerfristigen Folgen des gewaltsamen Tötens, Leidens und Sterbens im 20. Jahrhundert. Svenja Goltermann kritisiert die unhistorische Anwendung des erst später entwickelten „Trauma“-Konzeptes für die Deutung der Gewalterfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Stattdessen plädiert sie für die Untersuchung zeitgenössischer psychiatrischer Patientenakten, um in den hier aufscheinenden Fragmenten die gesellschaftlich verdrängten Erinnerungen an das Töten und das erfahrene Leid wiederzufinden. Dieser Ansatz scheint in vieler Hinsicht ergiebig zu sein. Doch ob und inwieweit es angemessen ist, von den Problemen der Psychiatriepatienten auf eine ganze „society driven by angst“ zu schließen, dürfte diskussionswürdig bleiben. Es folgt ein Aufsatz des Anglisten Daniel Steuer, der den Versuch von W.G. Sebald, mit Hilfe des ästhetischen Konzepts einer kritischen Melancholie die Erfahrungen des nationalsozialistischen Terrors aus der Perspektive der Opfer zu beschreiben, mit der Unfähigkeit der 68er-Generation konfrontiert, die pauschal verurteilten Eltern überhaupt zu Worte kommen zu lassen. Unter Rekurs auf Adorno und Hegel plädiert Steuer dafür, die Einseitigkeiten beider Perspektiven mit Formen der Erinnerung zu überwinden, die nicht mehr durch Moral und Selbstgerechtigkeit begrenzt sein sollen. Peter Fritzsche schließlich nimmt die Beobachtung unterschiedlicher Gräber auf einem Friedhof in Berlin-Wilmersdorf zum Anlass, über die deutsche Auseinandersetzung mit der Weltkriegsvergangenheit zu reflektieren und zu betonen, dass die aktuelle Beschäftigung mit dem Leiden der Deutschen nicht als einfache Normalisierung der NS-Zeit zu verstehen sei, sondern mehr als Hinwendung zu den komplexen Verbindungen von Schuld und Leid und zur Auflösung der Dichotomie von Deutschen einerseits, Nazis andererseits.

Der Band enthält viele interessante, leider kaum im europäischen Vergleich diskutierte Ansätze für eine vielfältige Geschichte des Todes im gewaltsamen 20. Jahrhundert der Deutschen; darunter sind wohl auch manche Sackgassen und Abwege. Man darf gespannt sein, ob sich daraus ein Konzept zur Erforschung der Geschichte des gewaltsamen Todes entwickeln lässt, das mit Kosellecks Konzept des politischen Totenkultes konkurrieren oder mit ihm verbunden werden könnte.