G. Stuby: Vom "Kronjuristen" zum "Kronzeugen"

Cover
Titel
Vom "Kronjuristen" zum "Kronzeugen". Friedrich Wilhelm Gaus: ein Leben im Auswärtigen Amt der Wilhelmstraße


Autor(en)
Stuby, Gerhard
Erschienen
Hamburg 2008: VSA Verlag
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weitkamp, Institut für Geschichte, Universität Osnabrück

Der Öffentlichkeit ist Botschafter Friedrich Wilhelm Gaus vor allem dadurch bekannt geworden, dass er sich in den Nürnberger Nachfolgeprozessen der amerikanischen Anklagevertretung als „sachverständiger Zeuge“ zur Verfügung stellte und sich damit gegen seine ehemaligen, vor Gericht stehenden Kollegen aus dem Außenministerium wandte, darunter Ex-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Der mit den Diplomaten im „Wilhelmstraßen-Prozess“ angeklagte ehemalige SD-Auslandschef Walter Schellenberg nannte Gaus daraufhin abfällig die „Hure des Auswärtigen Amtes“. Doch nicht nur Angeklagte und die übrigen deutschen Zeugen straften ihn fortan mit Verachtung, sondern auch weite Teile der jungen deutschen Nachkriegsgesellschaft begegneten Gaus‘ Entscheidung bestenfalls mit Unverständnis. Als Paktierer mit dem Sieger wurde der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung lange Zeit zur Unperson. An prominenter Stelle wurde er etwa von Richard von Weizsäcker ohne weiteren Beleg mit den Worten zitiert: „Wenn ich meinen Kopf retten könnte, würde ich jeden Meineid schwören.“ So geschehen in den 1997 erschienen Erinnerungen des Alt-Bundespräsidenten. Zwar glaubt Richard von Weizsäcker nicht, dass tatsächlich Meineide geschworen worden sind, aber der unausgesprochene Vorwurf der opportunistischen Willfährigkeit blieb.

Dieser gebrochenen Biographie vom „Kronjuristen“ zum „Kronzeugen“ ist nun Gerhard Stuby nachgegangen. Der Rechtsgelehrte und emeritierte Professor der Universität Bremen beleuchtet Gaus‘ Leben im Auswärtigen Amt der Wilhelmstraße und schließt damit eine Lücke, die seit langem bestand.

Gaus, Sohn eines norddeutschen Großbauern, studierte die Rechtwissenschaften und trat als promovierter Jurist 1907 in den Dienst des Auswärtigen Amtes. Zwischen August 1914 und Sommer 1916 nahm er am Ersten Weltkrieg teil, bevor er 1918/19 der deutschen Friedens-Delegation in Versailles angehörte. Ab 1923 stand er der Rechtsabteilung vor, ab 1939 als Unterstaatssekretär. Seine Tätigkeit war geprägt von den großen politischen Brüchen in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Spanne seiner Dienstherren reichte vom jüdischen Vernunftrepublikaner Walther Rathenau bis zum Nationalsozialisten Joachim von Ribbentrop. Nach dem verlorenen Weltkrieg arbeitete er wie andere auch an einer Revision des Versailler Vertrages. Im Jahr 1925 formulierte der brillante Völkerrechtler den Vertrag von Locarno, der die außenpolitische Isolation Deutschlands aufbrach. Fast alle weiteren wichtigen internationalen Verträge der Republik trugen seine Handschrift. Ab 1933 bedienten sich die nationalsozialistischen Machthaber seines Sachverstandes und seiner Akribie, und so kam es, dass er im August 1939 Architekt des in den Zweiten Weltkrieg weisenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes wurde.

Mit einer Biographie, die vom Kaiserreich bis zu den Nationalsozialisten reicht, stand Gaus im Auswärtigen Amt nicht alleine. Große Teile des Beamtenapparates vollzogen diesen Weg, der zwangsweise die Frage nach der eigenen Positionierung in der Zeit des Dritten Reiches aufwirft. Wie in anderen Elitengruppen finden sich auch unter den Diplomaten alle Schattierungen vom aktiven Widerstand bis zur willigen Mittäterschaft. Der Grauzone dazwischen gehörten die meisten Diplomaten an; so auch Gaus. Er verblieb 1933 auf seinem Posten, wurde zum Intimus Ribbentrops und bereitete – gewollt oder ungewollt – die flankierenden außenpolitischen Maßnahmen vor, die das Reich gezielt in den Zweiten Weltkrieg führten. Bereits vor 1939 hatte er genaue Kenntnisse der Politik gegenüber den deutschen und österreichischen Juden, deren Verfolgungen und deren Flucht das Ausland beschäftigten und damit auch das Auswärtige Amt. Nach 1939 erhielt er weitere Kenntnis von den deutschen Verbrechen in Europa. Im Jahr 1943 gab er den Posten des Leiters der Rechtsabteilung ab und wurde Botschafter „zur besonderen Verwendung“. Aus dem Außenministerium selbst schied er aber nicht.

Nach dem Krieg begründete er dies mit einer „Trägheit des Herzens“; er habe nicht die Kraft dazu gefunden. Zudem habe er Sorge um seine „vierteljüdische“ Ehefrau gehabt, deren latente Bedrohung zweifellos existierte. Stuby selbst kann diese Angaben aber kaum mit Neuem erhellen, genauso wenig wie die Motive, die Gaus 1946/47 dazu trieben, zum Kronzeugen zu werden. Sicherlich hat er selbst mit einer Anklage wegen „Verschwörung gegen den Frieden“ und der „Führung eines Angriffskrieges“ rechnen müssen. War es aber nur der Versuch, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen oder gab es auch andere, moralische Gründe? Auch hier bleibt der bereits bekannte Zeitungsartikel von Gaus aus dem Jahr 1947 die nach wie vor maßgebliche Quelle, in der er seine Stimmungslage öffentlich machte: „daß es mir eine innere Qual ist, daran zu denken, wie wir, gerade wenn wir dem ganzen Naziunwesen innerlich fremd und ablehnend gegenüberstanden, doch zwölf Jahre lang Ergebenheit und Folgsamkeit zur Schau getragen haben“ (S. 448). So deutet alles darauf hin, dass Gaus tatsächlich innere Zweifel seines Tuns gequält haben, die ihn zum „Nestbeschmutzer“ werden ließen. Dass jemand der ihren, der jahrelang das Regime mit getragen hat, nun zur kritischen Selbstreflexion fähig war, konnten oder wollten die ehemaligen Kollegen in ihrer stupenden Apologetik nicht verstehen.

Wenn auf der persönlichen Ebene kaum neue Quellen gefunden werden konnten, ist dies freilich nicht Stuby anzulasten, der mit Recht darauf verweist, dass es kaum persönlich-biographisches Material gebe, welches er hätte heranziehen können. Aus diesem Grund ist die Arbeit sehr deutlich auf die politische Tätigkeit im Auswärtigen Amt ausgerichtet. Detailreich und fundiert werden die außenpolitischen Verläufe und völkerrechtlichen Fragen der Zwischenkriegszeit erörtert. Der Mensch Gaus tritt dahinter oftmals zurück.

So liegen auch die Stärken des Buches eher in der Vermittlung von Außenpolitik- und Völkerrechtsgeschichte, weniger in der Biographie- oder Institutionsgeschichte. Dies verwundert nicht, da Stuby selbst Völkerrechtler ist und seine Studie mit keiner dezidiert historischen Fragestellung angegangen ist.

Es ist jedoch ein Verdienst, dass Stuby die Rolle des Auswärtigen Amtes bei den Verbrechen, die im Zuge der Errichtung des „Großgermanischen Reiches“ verübt wurden, kritisch beleuchtet. Stuby besitzt die nötige Distanz zum biographischen Objekt, die bei einigen jüngeren Biographien zu anderen hohen Angehörigen des Auswärtigen Dienstes, die ganz oder teilweise in der Ära des Nationalsozialismus wirkten, nicht immer gegeben war. Stubys Darstellung ist demgegenüber ausgewogen und nachvollziehbar.

Kritisch anzumerken sind die häufigen und oft mehrere Absätze umfassenden Zitate aus Quellen und Sekundärliteratur, die mitunter den Blick auf das Wesentliche verstellen. Zugunsten eines kondensierteren Textes hätte hier durchaus gekürzt werden können. Auch vermisst man einen näheren Blick auf die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes zwischen Republik und Diktatur. Welche Veränderungen gab es innerhalb des Instruments, dessen sich Gaus bediente, wer waren seine engen Mitarbeiter? Ein Bildteil und Personenregister runden den Band ab, dessen wissenschaftlicher Apparat benutzerfreundlich aus Fuß- statt aus Endnoten besteht. Zudem ist ein sehr hilfreicher Abschnitt mit kurzen biographischen Erläuterungen zu den auftretenden Personen angefügt.

Zum „Verräter“ gestempelt zog sich Gaus 1948 nach Göttingen zurück und befasste sich mit Studien zu Immanuel Kant. Er starb 1955 und geriet weitgehend in Vergessenheit, bis Stuby uns diese kontroverse Persönlichkeit und seine Zeit mit lohnendem Ertrag wieder vor Augen führt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension