Sapper u.a. (Hrsg.): Impulse für Europa

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Titel
Impulse für Europa. Tradition und Moderne der Juden Osteuropas


Herausgeber
Sapper, Manfred; Weichsel, Volker; Lipphardt, Anna
Reihe
OSTEUROPA 8-10/2008
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexis Hofmeister, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Die historische Erfahrung der jüdischen Bevölkerung Europas aus transnationaler Perspektive zu beschreiben, liegt nahe, da sie das „Europa der Vaterländer“ zu transzendieren scheint.1 Jüdische Geschichte wird daher inzwischen auch außerhalb des engeren Bereiches der Judaistik sowie der Jüdischen Studien als europäische Geschichte begriffen.2

In diesem Sinne prüft auch das von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) verantwortete Themenheft „Impulse für Europa. Tradition und Moderne der Juden Osteuropas“, ob die Geschichte der Juden Osteuropas gesamteuropäische Qualitäten besitzt. Die Beiträge des von Manfred Sapper, Volker Weichsel und Anna Lipphardt in Kooperation mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ herausgegebenen Themenhefts gehen auf eine gleichnamige internationale Konferenz im September 2008 zurück. Die Herausgeber verfolgen vor allem das Ziel, die Bedeutung der jüdischen Kulturen des östlichen Europa für die Entwicklung und Identität Europas einer breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen und sich dabei der vereinten Fachkompetenz von Vertretern der Jewish Studies sowie der Osteuropäischen Geschichte zu bedienen. Dabei soll erstens die Marginalisierung der jahrhundertelangen Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden in Europa zugunsten der Geschichte der Shoah überwunden werden. Zweitens soll die Rolle der ostmittel- und osteuropäischen Staaten im 20. Jahrhundert für die Historisierung der jüdischen Geschichte kritisch geprüft werden. Schließlich soll drittens das verbreitete Vorurteil bekämpft werden, die Beschäftigung mit den Juden des östlichen Europa sei eine Marginalie, weil es sich dabei um eine grosso modo rückständige Minderheit gehandelt habe.

Das Themenheft gliedert sich in fünf Teile. Dabei handelt es sich um einen Auftakt in orientierender Absicht, einer kurzen Sektion „Topoi der osteuropäischen Juden“, zwei längeren Abschnitten zum „Erbe der osteuropäischen Juden“ und zu „Jüdischer Geschichte und transnationaler Erinnerung“ sowie eine abschließende Literaturschau. Diese Gliederung ist nur zu Beginn im Inhaltsverzeichnis kenntlich gemacht, im Heft selbst ist sie nicht ersichtlich.

Das reich bebilderte und mit hilfreichen Karten3 ausgestattete Themenheft wird von Antony Polonsky und Dietrich Beyrau mit zwei grundlegenden Überblicken eröffnet. Dabei werden von Polonsky „Politik und Geschichte der osteuropäischen Juden“ – hier vor allem die Verhältnisse in der Polnischen Republik zwischen 1919 und 1939 – beleuchtet. Beyrau führt in die Beziehungs- und Konfliktgeschichte von „Juden und Nichtjuden in Osteuropa“ ein. Der Schwerpunkt liegt auf den historischen Brüchen der Jahre zwischen 1917 und 1945.

Einen gelungenen Kontrapunkt zu diesen Darstellungen aus der Feder zweier älterer Historiker bilden die kurzen Statements zum Stand der Forschung sowie zur Funktion von Erinnerungskulturen, für die vorwiegend jüngere Forscher gewonnen werden konnten. So äußern sich etwa Delphine Bechtel, Michael Brenner, François Guesnet, Rachel Heuberger sowie Anna Lipphardt zu den differenten und oft konfligierenden Perspektiven der Beschäftigung mit der jüdischen Bevölkerung Osteuropas in den Fachkulturen der „Jewish Studies“ und der Osteuropäischen Geschichte einerseits sowie in den verschiedenen osteuropäischen Transformationsgesellschaften andererseits. So unterschiedlich die Herangehensweisen der Befragten auch sein mögen, ihre Überlegungen zum heutigen Umgang mit dem jüdischen Erbe in Osteuropa kreisen um dieselben Fragen. Im Zeichen der Opferkonkurrenz zwischen Juden und den Titularnationen der Staaten des östlichen Europa sowie den seit 1989 radikal veränderten Rahmenbedingungen von Öffentlichkeit gerinnt das historische Bild der jüdischen Bevölkerung oft zum Stereotyp.

Dem etwa 65seitigen Auftakt folgen 31 Einzelstudien, die sich grob den genannten Überschriften „Topoi“, „Erbe“ und „Erinnerung“ zuordnen lassen. Einzig die von Andrej Jendrusch ausgewählte und übersetzte Kollektion jiddischer Lyrik des 20. Jahrhunderts, ergänzt um Auszüge aus der Nobelpreisrede Isaac Bashevis Singers, sowie der Beitrag von Gershon Hundert, der die „YIVO-Encyclopedia of Jews in Eastern Europe“ vorstellt, fallen aus dem Rahmen dieser Gliederung. Die jiddische Lyrik hätte einen prominenteren Platz sowie eine kurze Kontextualisierung verdient. Die Skizze der Entstehungsgeschichte der „YIVO-Encyclopedia“ als wohl bester Wissenssammlung zum osteuropäischen Judentum in westlichen Sprachen hätte durchaus den Eröffnungsreigen der Statements aus der Gelehrtenstube ergänzen können, weist sie doch auf strukturelle Probleme sowie Desiderata der Forschung hin.

Der mit Abstand wichtigste Beitrag der Kategorie „Topoi“ widmet sich der Frage, inwiefern jüdische Aufsteiger in der Zeit des russischen Bürgerkriegs die Tscheka („Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“) dominierten. Oleg Budnickij zeigt unter Zuhilfenahme zahlreicher, lange unberücksichtigt gebliebener Archivquellen, dass es vor allem soziale Gründe gewesen seien, die junge, oft unterdurchschnittlich gebildete Jüdinnen und Juden zu Henkern und Helfern der frühsowjetischen Geheimpolizei gemacht hätten. Seine nüchterne sozialhistorische Argumentation erweist sich dabei als wesentlich sensibler als die geniale Skizze von Yuri Slezkine zu diesem Thema.4

In der Kategorie „Erbe“ finden sich die soliden Beträgen von Anke Hilbrenner zur Bedeutung Simon Dubnows für das heutige Europa, von Marina Dmitrieva zu jüdischen Künstlern im Berlin der Weimarer Republik, von Tamar Lewinsky zu jüdischen Displaced Persons aus Osteuropa im westlichen Nachkriegsdeutschland sowie von Anja Tippner zur Identitätssuche von Ilja Ehrenburgs jüdischem Helden Lasik Roitschwantz. Verena Dohrn und Manfred Sapper weisen auf einst prominente, aber historisch marginalisierte Individuen hin, die in ihrem Wirken beispielhaft jene Eigenschaften des osteuropäischen Judentums verkörperten, die sich aus ihren vielfachen Grenzüberschreitungen in sozialer, religiöser, ethnischer und sprachlicher Hinsicht ergaben. Jan Bloch (1836-1902), einer der führenden europäischen Unternehmer des 19. Jahrhunderts wie auch der Sozialphilosoph David Koigen (1879-1933) werden als vergessene „Europäer schlechthin“ gewürdigt.

Die Umrisse einer über die Einzelpersönlichkeit hinaus reichenden Transnationalität des Jüdischen zeichnen sich am deutlichsten in dem Beitrag „,Der Skandal war perfekt‘ Jüdische Musik in europäischen Kompositionen“ von Jascha Nemtsov ab. Er kann der die Entwicklung eines nationalen jüdischen Musikstils als bewusst herbeigeführte Synthese von volkstümlichen jüdischen Motiven und der Musikkultur Europas nachzeichnen.

Die Auseinandersetzung der Gesellschaften des östlichen Europa mit dem Völkermord des Zweiten Weltkriegs, der in ganz besonderer Weise die osteuropäischen Juden traf, ist noch lange nicht abgeschlossen. Vom Ringen mit der Erinnerung daran, ihrer Funktionalisierung und der Figur „des Juden“ im kollektiven Gedächtnis wird am Beispiel Polens, Litauens, der Tschechischen Republik, der Ukraine sowie Ungarns und Rumäniens informiert. Dabei sticht der Beitrag von Katrin Steffens zu den Juden im kollektiven Gedächtnis Polens heraus, der in puncto Reflexionsniveau und Ausgewogenheit Maßstäbe setzt. Anna Lipphardt widmet sich in „Die vergessene Erinnerung. Die Vilnaer Juden in der Diaspora“ konkurrierenden, aus Migrationen resultierenden Geschichtsdeutungen.

Das Themenheft „Impulse für Europa. Tradition und Moderne der Juden Osteuropas“ berücksichtigt die jüdische Tradition etwa in Gestalt der Religion nur ungenügend. Dagegen gelingt eine perspektivreiche Einführung in die komplexe Beziehungsgeschichte von Juden und Nichtjuden in Osteuropa im Spiegel ihrer Historisierung nach 1989.

Anmerkungen:
1 Shulamit Volkov, Jewish History. The Nationalism of Transnationalism, in: Gunilla Budde u.a. (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 190-201.
2 Dan Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, in: Gerald Stourzh, Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 85-104.
3 Die Karten können auch einzeln bestellt werden. Vgl. www.osteuropa.dgo-online.org.
4 Yuri Slezkine, Paradoxe Moderne. Jüdische Alternativen zum Fin de Siècle, Göttingen 2005 bzw. ders., Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 121-208. Slezkine blieb der Vorwurf der Wiederholung antisemitischer Klischees nicht erspart. Vgl. Friedrich Niewöhner, Mal wieder an allem schuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.10.2005, S. 38.

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