U. Charpa u.a. (Hrsg.): Jews and Sciences in German Contexts

Titel
Jews and Sciences in German Contexts. Case Studies from the 19th and 20th Centuries


Herausgeber
Charpa, Ulrich; Ute Deichmann
Reihe
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 72
Erschienen
Tübingen 2007: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XII, 312 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Lipphardt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin / Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Der Band versammelt elf Beiträge, die, ohne dass die Einleitung dies herausarbeitet, auf fünf vieldiskutierte Forschungsfragen antworten:
- Welche sozialen, kulturellen, politischen und rechtlichen Strukturen beeinflussten die akademischen Laufbahnen von Wissenschaftlern, die als jüdisch angesehen wurden (und sich evt. auch selbst als Juden bezeichneten)?
- Weshalb waren deutsche Juden in bestimmten akademischen Disziplinen überdurchschnittlich zahlreich vertreten?
- Weshalb hatten deutsche Juden in bestimmten Disziplinen überdurchschnittlich großen Erfolg?
- Lassen sich in der Art, wie deutsch-jüdische Forscher Wissenschaft praktizierten, oder in ihren Schriften Einflüsse jüdischer Kultur oder Religion finden?
- Inwiefern setzten sich deutsch-jüdische Wissenschaftler mit jüdischer Identität (bzw. mit deren Fremd- oder Selbstzuschreibung) auch inhaltlich in ihrer Forschung auseinander?

Die Einleitung des Bandes wird der Themenbreite der Beiträge leider nicht gerecht, konzentriert sie sich doch auf nur zwei Aspekte, die Begründung des überdurchschnittlichen Erfolgs und die strukturellen Ursachen für die Überrepräsentation jüdischer Wissenschaftler. Die Herausgeber stellen hier auch ihren epistemologischen Ansatz vor, der, Konstruktivismus gleichermaßen kritisierend wie Objektivismus, sich an Robert Merton anlehnt und als Erklärung für den besonderen Erfolg die „achievements“, Fertigkeiten und Erfahrungen von Wissenschaftlern gegenüber ihren „motives“ betont. Doch bevor die Einleitung noch einmal gründlicher betrachtet wird, sollen hier zunächst die Beiträge diskutiert werden.

Die erste Sektion „Research Practices, Achievements, Contexts“ versucht einen Spagat zwischen den strukturellen und den individuellen Dimensionen dieser Fragen. Der als zentral angekündigte Bezug auf Praktiken fällt schwach aus; unklar bleibt, inwiefern spezifische Praktiken – und „achievements“ – mit den strukturellen Arbeitsbedingungen jüdischer Forscher und/oder mit deren jüdischem Hintergrund zusammenhängen könnten. Besser gelingt der Nachweis, dass die Karriereverläufe von strukturellen Faktoren beeinflusst wurden, aber die genannten Strukturen betrafen zumeist nicht nur Juden.

Ute Deichmann kann in ihrem Porträt von Ferdinand Cohn nur spekulieren, inwiefern dessen Erfolg und Arbeitsweise mit jüdischer Gelehrsamkeit und Tradition zusammenhängen könnte. Anthony Travis skizziert in seinem wirtschaftshistorisch aufschlussreichen Beitrag die Verbindungen zwischen deutsch- und britisch-jüdischen Chemikern in der Färbemittelherstellung, in deren Kontext jüdische Familiennetzwerke eine große Rolle spielten. Kontinuitäten in den Praktiken der Färbemittelproduktion vom traditionell-jüdischen Handwerk zur neuen Färbemittelindustrie weist er nicht nach.

Ute Deichmanns zweiter Beitrag stellt, statistisch begleitet, die Biochemiker Leonor Michaelis und Emil Abderhalden als Vertreter zweier verschiedener Arbeitsweisen gegenüber. Die des Ersteren kennzeichnet sie als „German-Jewish“, charakterisiert durch die Betonung empirischer Arbeit, breites theoretisches und methodisches Wissen, vorzugsweise Grundlagen- statt Anwendungsforschung sowie „dynamischer“ anstelle „kolloidaler“ Biochemie. Als Erklärung dafür, dass die wenigen Biochemiker, die diese Arbeitsweise pflegten, vorwiegend jüdisch waren, bietet Deichmann die große Präferenz jüdischer Studierender für Medizin, eine starke Vorbildwirkung berühmter jüdischer Forscher sowie deren Netzwerke und schließlich günstige institutionelle Bedingungen an den KWI-Instituten an. Man fragt sich, ob hier nicht ein äußerst begabter mit einem weniger begabten Wissenschaftler kontrastiert wird, und ob die überproportionale Präsenz von Menschen, die als jüdisch angesehen wurden, in der kleinen Gruppe erfolgreicher Biochemiker hiermit schlüssig in Verbindung gebracht, geschweige denn erklärt werden kann.

Positiv hervorzuheben ist der Beitrag von Moritz Epple über den Mathematiker und Dichter Felix Hausdorff (Paul Mongré), in dem Epple, ohne Kausalität zu suggerieren, sorgfältig abwägend davon spricht, dass die Karriere Hausdorffs gewisse Resonanzen „with general trends in Jewish intellectual life“ aufweist. Epple sieht Hausdorff als individuellen Denker stärker vom „context of modernism“ geprägt und bezeichnet ihn mit Mosse als „German Jew beyond Judaism“.1

In der dritten Sektion, „The impact of Religious and Ideological Attitudes“, finden sich drei Beiträge, die auf gelingende Weise die letzten beiden der oben genannten Fragen beantworten. Ulrich Charpa analysiert (als einziger) den Übergang religiöser Praktiken in säkulare, und zwar am Beispiel Einsteins: Dessen Praktik der Gedankenexperimente sei von Aaron Bernstein und damit vom traditionellen Judentum inspiriert, was Charpa in der Geschichte der deutschen Philosophie und der jüdischen Reformbewegung kontextualisiert. Raphael Falk schildert anthropologische und eugenische Arbeiten und Haltungen dreier zionistischer Naturwissenschaftler aus Deutschland, Osteuropa und England. Nurit Kirschs Beitrag über humangenetische Forschungen an ethnischen Gruppen in Israel arbeitet überzeugend heraus, inwiefern die drei untersuchten – deutschstämmigen – Humangenetiker Klassifikationen verwendeten, die im Ergebnis, je nach erwünschter Aussage, einerseits die Einheit des Judentums, andererseits Unterschiede zwischen den jüdischen Gruppen belegten. Die Auffassung des Judentums als ethnisch homogene Gruppe führt Kirsch auf die deutsche intellektuelle Prägung der Genetiker zurück – worin sie irrt, denn diese Gedankenfigur war international verbreitet; dennoch arbeitet sie erfreulich nah an den wissenschaftlichen Praktiken entlang. Am wenigsten ins Sammelbandthema passt der – ansonsten sehr interessante – Artikel von Yael Hashiloni-Dolev über die Einstellungen gegenüber der Reproduktionsmedizin bei Israelis und Deutschen um die Jahrtausendwende.

Die Sektion „Anti-Semitism in Academia“ verliert das Rahmenthema fast aus den Augen, wenngleich beide Artikel für andere Fragestellungen fruchtbar sind. Aharon Loewenstein diskutiert die Umstände der Publikation eines antisemitischen Artikels des deutschen Physikers Stark (1938) in SCIENCE. Ruth Lewin Simes Beitrag über die Korrespondenz der Emigranten Meitner und Meyerhof mit den nichtjüdisch-deutschen Forschern Hahn und Laue nach 1945 führt die bestürzende Selbstbezogenheit der beiden letzteren vor Augen. Die Sektion fragt nicht danach, wie deutsch-jüdische Wissenschaftler dem Antisemitismus im Wissenschaftsalltag begegneten oder wie er sich auf ihre Arbeitsweise und Forschungsinhalte auswirkte.

Simone Wenkel beschließt den Band mit einer kommentierten Liste „jüdischer“ Wissenschaftler, was prinzipielle Bedenken hervorruft. Auf solchen Listen landen unweigerlich auch Personen wie Karl Landsteiner, der gegen die Herausgeber eines jüdischen biografischen Lexikons klagte, weil sie ihn ohne sein Einverständnis aufgenommen hatten. Solche Fremdzuschreibungen durch grenzziehende Listen fortzuführen, ist mindestens fragwürdig. Ob die Liste nützlich für weitere Forschungen sei, bleibt unerörtert. Zudem fehlen wichtige Nachschlagewerke.2

Selbstverständlich kann kein Sammelband ein so facettenreiches Thema ganz ausschöpfen, und so mag die folgende Defizitbenennung auch als konstruktive Anregung dienen. Der Band verzichtet auf die Untersuchung eines zentralen Feldes, das zeitgenössisch stark mit dem Judentum (auch mit dem orthodoxen) in Verbindung gebracht wurde, nämlich der Medizin. Viele der hier vorgetragenen Thesen wären an Fallbeispielen aus diesem Bereich gewinnbringend zu überprüfen. Zudem konzentriert sich der Band auf herausragende Wissenschaftler; über die Situation der zahlreichen „normalen“ jüdischen Wissenschaftler erfährt man wenig, ebenso wie über sozioökonomische Hintergründe, die z.B. Shulamit Volkov in ihren gesellschaftsgeschichtlichen Untersuchungen als strukturellen, die Karriere beeinflussenden Faktor miteinbezogen hat.3

Der Übergang religiöser Praktiken in säkulare könnte für viele Wissenschaftler studiert werden, in deren Egodokumenten die Abkehr vom traditionell-jüdischen Elternhaus und die Hinwendung zu einem Pantheismus besonderer Prägung, kompatibel mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild, aufscheint. Auch zeigen Egodokumente und Publikationen, dass sie das Verhältnis zwischen jüdischer Zugehörigkeit und Naturwissenschaft explizit und positiv und in selbstbewusster Reaktion auf (diskreditierende) Fremdzuschreibungen auszugestalten versuchten; aber auch, inwiefern nichtjüdische Kollegen eine positive Selbstbestimmung erschwerten.

Wie die jüdischen Wissenschaftler mit diesen Spannungen umgingen, ist nicht Gegenstand des Bandes. In der Einleitung diskutieren die Herausgeber verschiedene Definitionen des Begriffs „Jüdisch“ und entscheiden sich dafür, ihn auch für Konvertierte und erklärte Atheisten zu verwenden, wenn er „effektiv“, „fruchtbar“ und „bündelnd“ eingesetzt werden kann. An Fremd- oder Selbstzuschreibung orientieren sie sich nicht; die explizite Auseinandersetzung mit Fremdzuschreibungen spielt keine Rolle. Dies mag sinnvoll sein, wenn ausschließlich Strukturen und Fremdzuschreibungen fokussiert werden. Wie das Beispiel Landsteiners nahelegt, wäre gerade in „case studies“ ein differenzierterer Ansatz geboten.

„Jüdisch“ sollte nicht nur als begriffliches Problem heutiger Studien betrachtet werden, sondern als Gegenstand der Auseinandersetzung damaliger Wissenschaftler. Gerade ein Blick auf die Kämpfe um Fremd- und Selbstzuschreibung jüdischer Identität könnte erhellen, wie Zugehörigkeit, Kultur und Denkstil als „jüdisch“ ausgehandelt, zurückgewiesen, behauptet wurden. Dafür bieten Anthropologie, Biologie und Medizin reichlich Stoff, wie etwa die Verleumdungen jüdischer Mediziner (z.B. Albert Neisser, Julius Tandler) und deren Reaktionen, oder der Antagonismus zwischen Neolamarckismus und Neodarwinismus, der zeitgenössisch mit der Herkunftsfrage verknüpft wurde. Auch Loewensteins und Epples Fallstudien könnten wahrscheinlich in diese Richtung weitergeführt werden.

Insgesamt habe ich den Band zwar in machen Punkten als kritikwürdig, aber doch als sehr anregend und gehaltvoll empfunden. Befremdlich erscheint allerdings, dass die Herausgeber die These Thorstein Veblens4 aufgreifen, der überdurchschnittliche Erfolg jüdischer Wissenschaftler könnte, angesichts jüngster Forschungsergebnisse, doch genetische Ursachen haben. Das stellt so manchen Beitrag in ein seltsames Licht, und der heutige genetische Forschungsstand wird damit mehr als nur verkürzt dargestellt. Vor allem bleibt der Band dafür natürlich jeden Nachweis schuldig.

Anmerkungen:
1 George L. Mosse, German Jews Beyond Judaism, Bloomington 1985.
2 z.B. Walk, Joseph: Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945, München 1988.
3 Shulamit Volkov, Juden als wissenschaftliche ‚Mandarine’ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Neue Überlegungen zu sozialen Ursachen des Erfolgs jüdischer Naturwissenschaftler, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 1-18; dies., Soziale Ursachen des Erfolgs in der Wissenschaft – Juden im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 315-342.
4 Thorstein Veblen, The Intellectual Pre-eminence of Jews in Modern Europe, in: Political Science Quarterly 34 (1919).

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