A. V. Walser: Bauern und Zinsnehmer

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Titel
Bauern und Zinsnehmer. Politik, Recht und Wirtschaft im frühhellenistischen Ephesos


Autor(en)
Walser, Andreas Victor
Reihe
Vestigia 59
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institut für Alte Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Kreditkrise – Zahlungsunfähigkeit – staatliches Regulierungsprogramm: Was sich wie eine Beschreibung gegenwärtiger Finanzkrisen im Telegrammstil auszunehmen scheint, sind tatsächlich die prägnanten Schlagworte der Untersuchung Walsers zu einer Kreditkrise und deren Lösungsversuch im frühhellenistischen Ephesos, die im Sommersemester 2006 als Dissertation an der Universität Zürich angenommen wurde und 2008 mit dem Hedwig-Hintze-Preis des deutschen Historikerverbandes bedacht wurde.

Im Kern bemüht sich Walser um eine umfassende Analyse einer bereits im 19. Jahrhundert gefundenen Inschrift aus Ephesos, die ein von der Polis ver- sowie geordnetes Tilgungsverfahren zwischen Gläubigern und Schuldnern nach einem mehrjährigen Krieg zum Inhalt hat, nachdem die kriegsbedingte Zahlungsunfähigkeit der Schuldner, der Wertverfall ihrer Sicherheiten und die aufrechterhaltenen Ansprüche ihrer Gläubiger die innere soziale Stabilität der Polis ins Wanken gebracht hatten.

Dass sich bislang kein anderer Althistoriker an eine umfassende Analyse des 1876 publizierten Textes heran gewagt hat, liegt wohl an den spezifischen Schwierigkeiten, welche dieses epigrafische Zeugnis zu Hauf bietet: Selbst nur unvollständig und ohne absolutes chronologisches Datierungsmerkmal überliefert, ist für eine adäquate Untersuchung dieser Inschrift eine solche Bandbreite an epigrafischen, philologischen, historischen, juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen erforderlich, dass es sicherlich einfachere Möglichkeiten zum Erlangen wissenschaftlicher Reputation gibt. Hinzu kommt die gerade für die hellenistische Epoche starke Zersplitterung der Forschungslandschaft, in der epigrafische Analysen oft neben, aber nicht in Verknüpfung mit Untersuchungen literarischer Überlieferung stattfinden, in der sich die rechtsgeschichtliche Forschung am klassischen Athen festbeißt oder wirtschaftsgeschichtliche Fragen auf „Primitivismus“ oder „Modernismus“ reduziert werden.

Insofern stellt Walsers Arbeit ein Musterbeispiel für althistorisches Arbeiten dar, indem er durch Integration, nicht durch Exklusion der verschiedenen altertumswissenschaftlichen Fachmethoden versucht, die Inschrift zum „Sprechen“ zu bringen, was er in seiner Einleitung auch deutlich zum Ausdruck bringt (S. 1-9).

Zu Beginn widmet sich Walser einer umfassenden epigrafischen Analyse der Inschrift (S. 11-24), in der er nicht nur auf Fundumstände, Editionsgeschichte und Erhaltungszustand des Inschriftenträgers eingeht, sondern über die Analyse der sprachlichen Gestaltung des ephesischen Gesetzes auch erste Datierungskriterien gewinnt. Eine textkritische Edition mit eigener Übersetzung ist dann Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung sowie Ergebnis der insgesamt erzielten Erkenntnisse (S. 25-36).

Nach einer inhaltlichen Gliederung des Textes und einer Kategorisierung desselben als wohl in einem mehrstufigen Nomothesieverfahren erlassenes Gesetz (nómos), das eben dauerhafte Rechtssicherheit (im Gegensatz zu einem situationsbedingten Psephisma) bot (S. 37-45), diskutiert Walser verschiedene Datierungsansätze des Schuldentilgungsgesetzes, indem er eine zielorientierte politische Geschichte der Polis Ephesos im Frühhellenismus entwirft (S. 47-104). Den im Gesetz genannten „gemeinschaftlichen Krieg“ (koinòs pólemos) identifiziert er konsequent mit der Erneuerung des Hellenenbundes unter der Führung des Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes im Frühjahr 302 v.Chr., der als Symmachie gestaltet war und im direkten Konflikt der beiden Antigoniden mit der Koalition um Seleukos, Kassandros und Lysimachos bis zur Schlacht von Ipsos 301 v.Chr. eine wichtige Rolle spielte. Er postuliert damit eine bisher nicht direkt bezeugte Mitgliedschaft von Ephesos in eben diesem Hellenenbund ebenso, wie er frühere Datierungsversuche, die bis in die Mithradatischen Kriege reichten, verwirft. Als plausibles Ergebnis sieht er das Gesetz als Ausfluss der allgemeinen Lageberuhigung nach der antigonidischen Niederlage bei Ipsos in den Jahren 300/299 v.Chr., wozu er richtigerweise auch die vorhandenen Bürgerrechtsdekrete heranzieht.

An dem primär juristischen Inhalt der Inschrift entwirft Walser im Folgenden (S. 105-152) das facettenreiche Bild der Darlehenspraxis in Ephesos und deren rechtliche Grundlagen. Dass es kein umfassend geregeltes und fixiertes Darlehensrecht in Ephesos gegeben hat, vielmehr freie Vereinbarungen zwischen Gläubigern und Schuldnern existierten, die nur im (hier vorliegenden) Streitfalle rechtlich gewürdigt wurden, arbeitet er ebenso deutlich heraus wie die im Gesetz aufscheinende Problematik der (dinglichen) Sicherheit für gewährte Kredite. Hier wendet er sich mit guten Gründen gegen die früher oft vertretene Forschungsauffassung der alleinigen dinglichen Sicherung des gewährten Kredits durch starres Ersatzpfand und zeigt besonders anhand der im Gesetz genannten Mehrfachhypotheken schlüssig auf, dass das flexiblere Verkaufspfand, das dem Schuldner wenigstens den Mehrwert seiner Sicherheit beließ, schon vor dem Tilgungsverfahren mehr als nur marginale Anwendung fand. Erhellt werden in diesem Abschnitt auch Spezialprobleme, etwa das der Sicherung durch Bürgschaft oder besonderer Darlehensformen (Darlehen aus Mündelvermögen, Mitgiftversprechen als quasi-hypothekarisches Darlehen), die im Gesetz angesprochen werden.

Die politische wie ökonomische Stellung von Gläubiger und Schuldner sowie die ökonomische Funktion der Darlehen stehen im Mittelpunkt des nächsten Kapitels (S. 153-195). Der Ertrag liegt hier in der Abkehr von allzu exklusiven Modellen, die in den Hypothekarschuldnern entweder nur mittelständische Bauern oder gar nur Personen aus der reichen Oberschicht sehen wollten, umgekehrt in den Gläubigern entweder nur private Bankiers oder Verwalter der Depositen im ephesischen Artemision witterten. Eine gewisse soziale Bandbreite auf Schuldner- wie Gläubigerseite ist daher anzunehmen, wenn auch Walsers Überlegungen zum prinzipiell möglichen Einbezug auch nichtbürgerlicher Schichten aufgrund der mangelhaften Quellenlage nicht mehr als Spekulation bleiben. Dass neben dem Zinssatz auch der Mehrwert der hypothekarischen Sicherung im Falle des Ersatzpfandes für das Entstehen eines funktionierenden Kreditmarktes seitens der Gläubiger verantwortlich war, zeigt Walser eindeutig. Ebenfalls verweist er auf die Tatsache, dass die partielle Abkehr von dieser Praxis durch eine Sicherung mit Verkaufspfand zwar den Schuldner gegenüber dem Gläubiger begünstigte, jedoch aufgrund der Rechtssicherheit zumindest des Realkreditwertes durch die dingliche Sicherheit dennoch nicht zum Zusammenbruch des Kreditmarktes führte.

Erst die kriegsbedingte Zahlungsunfähigkeit der Schuldner und die daraus folgenden staatlichen Eingriffe vor und nach dem Krieg störten die in den vorangegangen Kapiteln herausgearbeiteten, fein austarierten Wechselbeziehungen zwischen Gläubigern und Schuldnern und damit das Funktionieren des Kreditmarktes insgesamt empfindlich. Dies untersucht Walser im zentralen Kapitel seiner Arbeit (S. 197-272), indem er zunächst den nur über das erhaltene Gesetz rekonstruierbaren Beschluss über ein Moratorium für Schuldner ab einem bestimmten Zeitpunkt zu Beginn des Krieges herausarbeitet und daran die entstehende Krise nachzeichnet. Hierfür untersucht er sowohl die sozialstabilisierende Funktion dieses Psephismas in der konkreten Kriegssituation als auch die vielfältigen Einzelprobleme, die durch diesen Beschluss am Ende des Krieges auf die Polis und ihre Bürger zukamen und die direkten Folgen aus Kriegseinwirkungen (Verwüstungen, sinkende Grundstückspreise) noch verstärkten. So standen die Schuldner durch ihre Zahlungsunfähigkeit vor dem Verlust ihrer materiellen Existenz, da sie nun nach Ende des Moratoriums ihre Sicherheiten, die vor allem im eigenen Landbesitz bestand, im Falle des wohl zumeist vorliegenden starren Ersatzpfandes vollständig an die Gläubiger hätten abtreten müssen. Hernach beschreibt er das von der Polis verordnete Tilgungsverfahren in allen Einzelheiten, wobei er als Kern gerade die Abkehr vom starren Ersatzpfand hin zum flexiblen Verkaufspfand herausarbeitet. Durch die Schätzung der Grundstückspreise nach dem Vorkriegswert und der Anwendung des Verkaufspfandes blieb den Schuldnern so wenigstens der Mehrwert ihres Grundstücks erhalten, die Kriegsfolgelasten mussten aus politischen Erwägungen heraus die Gläubiger auf sich nehmen, die zumindest jedoch nicht gänzlich leer ausgingen. Die Analyse des genauen Verfahrensablaufs dieser außerordentlichen Tilgung mit dem Eingreifen städtischer Behörden, der Möglichkeit freier Vereinbarung zwischen den Parteien sowie dem Tätigwerden der „fremden Richter“ aus anderen Poleis zur Erlangung eines unparteiischen Urteils oder Schiedsspruches eröffnet einerseits einen ausgezeichneten Einblick in die Funktionsfähigkeit der ephesischen Verwaltung und hebt andererseits auch die administrativ-juristische Zusammenarbeit zwischen den hellenistischen Poleis deutlich hervor.

Der Blick auf die Polis Ephesos im Krieg (S. 273-289) und das wirtschaftliche Umfeld der Polis (S. 291-309) verdichtet noch einmal mit jeweiliger Schwerpunktsetzung die aus den vorangegangen Untersuchungsabschnitten gewonnenen Erkenntnisse. Besonders die Interdependenz von städtischer Finanzlage und privater wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gestaltet sich hier interessant, kann allerdings aufgrund der unzureichenden Quellenlage nur angedeutet werden. Die griffige Zusammenfassung der Ergebnisse mit einem ebenso anregenden Ausblick auf eine ähnlich gestaltete römische Kreditkrise im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius als Vergleichsmaßstab (S. 311-320) sowie ein kompakter Appendix zur Datierung der mehrfach zur Analyse herangezogenen frühhellenistischen Ehrendekrete aus Ephesos (S. 321-356) runden die Untersuchung ab.

Summa summarum zeichnet Walser anhand der mustergültigen Auswertung einer Inschrift ein sorgsam abgewogenes, realitätsnahes sowie quellen- und gerade nicht theorieverhaftetes Bild vom Wirtschaftsleben einer hellenistischen Polis und zudem der hellenistischen Wirtschaft unterhalb der Ebene der Großreiche insgesamt. Er hebt sich damit wohltuend von der allzu „primitivistischen“ Sichtweise der antiken Wirtschaft – und speziell der griechischen Wirtschafte(n) – in den vergangenen Jahren ab, ohne jedoch einer ebenso verfehlten, puren „modernistischen“ Interpretation anheimzufallen.1 Vielmehr öffnet Walser den Blick für einen „dritten“ Weg zur Analyse der griechischen Ökonomie(n) im Hellenismus, der für die Epoche der Römischen Kaiserzeit bereits konsequent gebaut wird2, für den griechischen Bereich jedoch noch in der Planungsphase steckt, insofern noch genauer auszuformulieren ist und, wie gesehen, sich nicht nur auf die Kategorie einer staatlich geplanten Wirtschaft beschränken darf.3 Hierfür bietet Walsers kenntnisreiche Studie eine richtungsweisende Trasse, seine Methoden und Überlegungen liefern ein festes Fundament, auf dem man sicher aufbauen kann.

Anmerkungen:
1 Einen konzisen Überblick über diese Forschungsdebatte bieten Hans-Joachim Drexhage / Heinrich Konen / Kai Ruffing, Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.-3. Jahrhundert). Eine Einführung, Berlin 2002, S. 19–21.
2 Siehe hierzu vor allem die Einleitung von Sabine Panzram in das Forum „Produktion und Distribution von Nahrungsmitteln im Imperium Romanum. Der Monte Testaccio und die Forschergruppe CEIPAC“ im Online-Rezensionsjournal Sehepunkte 7 (2007), 1, (12.1.2009) <www.sehepunkte.de/2007/01/forum.html>.
3 Vgl. z.B. mit Fokus auf das ptolemäische Großreich, die – allerdings mit moderner ökonomischer Terminologie durchsetzte – Überblicksdarstellung von Ulrich Fellmeth, Pecunia non olet. Die Wirtschaft der antiken Welt, Darmstadt 2008, S. 59-79.

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