Cover
Titel
Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt


Autor(en)
Bald, Detlef
Erschienen
Berlin 2008: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Naumann, Hamburger Institut für Sozialforschung

Am 16. Dezember 1964 überraschte der langjährige Militärkorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Öffentlichkeit mit der Schlagzeile „Atom-Minen entlang der Zonengrenze“. Überraschend kenntnisreich enthüllte Adelbert Weinstein, dass entlang der damaligen „Zonengrenze“ hunderte so genannte „Atom-Minen“ disloziert worden waren. Als nukleares „Hindernis“ sollten sie im Fall der Fälle den ersten Abwehrerfolg garantieren. Dennoch sollte der nukleare Ersteinsatz „als defensive, die Eskalation nicht auslösende Maßnahme gewertet“ werden. Aber selbst wenn das hätte gelingen können – der radioaktive Fallout, so war absehbar, würde „rund zehn Millionen Deutsche unmittelbar, die ganze Bundesrepublik aber mittelbar in Mitleidenschaft ziehen“. Was Weinstein damals der Öffentlichkeit zur Kenntnis brachte und bald unter dem Schlagwort von der „Trettner-Linie“ notorisch wurde, war das Echo eines intern schon schwelenden Konflikts, der die Fachpolitiker und Militärs in den nächsten zehn Jahren nicht zur Ruhe kommen lassen sollte und der auch in der Öffentlichkeit immer wieder für Aufsehen sorgte.

Unter einem etwas barocken dreiteiligen Titel hat sich Detlef Bald dieser bisher kaum zugänglichen Materie angenommen. In den Mittelpunkt stellt er den Protagonisten des Konflikts um die „Atom-Minen“, genauer: um die „Atomic Demolition Munition“ (ADM) – den damaligen Oppositionspolitiker, späteren Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt. Dafür gibt es gute Gründe, die sowohl in der Sache wie in der Quellenlage begründet sind. Die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs-Militärarchivs in Freiburg (BA-MA) stehen noch nicht uneingeschränkt zur Verfügung; eine „Offenlegung“ wurde dem Autor seitens des Führungsstabs Streitkräfte verwehrt. So blieb nur der Weg in die – ergiebigen – Bestände des Privatarchivs von Helmut Schmidt. Es ist dem Altbundeskanzler hoch anzurechnen, dass er Bald den vollen Zugang ermöglichte und das Gelingen des Bandes mit ausführlichen Interviews und einem präzisen Vorwort unterstützte.

Für die Analyse der Nuklearpolitik und -strategie der Bundesrepublik und der Bundeswehr ist das ein Glücksfall, denn über die dem „Nuclear History Program“ seinerzeit zur Verfügung gestellten Akten und die damit verbundenen Zeitzeugen-Interviews hinaus verfügen wir über wenig Quellenmaterial, das überdies in Sachen ADM auffällig auskunftsarm geblieben und von Reiner Pommerin obendrein noch verzerrt ausgedeutet worden ist. 1 Mit dem von Schmidt zur Verfügung gestellten und im BA-MA – soweit zugänglich – abgeglichenen Material konnte Bald nun eine aufschlussreiche Fallstudie über Strategiefragen, das problematische Verhältnis von Spitzenmilitärs und Politikern, die Rolle des NATO-Bündnisses und die entsprechenden Verwicklungen der deutsch-amerikanischen Beziehungen schreiben. Der Nachteil der Quellenlage ist durch die Fokussierung der Person Helmut Schmidts zum Vorteil geraten, denn Bald gelingt es, die Akteursperspektive der handelnden Politiker und Militärs in den Mittelpunkt zu rücken.

Im Kern geht es dabei um die Dauerproblematik der politisch-militärischen Beziehungen, die jenseits der normativen und institutionellen Führungs- und Kontrollinstanzen ein beunruhigendes und labiles Eigenleben führen. Anhand der westdeutschen Planungen der so genannten „Vorwärts-“ oder „Vorneverteidigung“, die seit den ausgehenden 1950er-Jahren unter nuklearen Vorzeichen standen, kann Bald nachzeichnen, wie sich das Denken in Kategorien „militärischer Notwendigkeit“ und „Effizienz“ eine Geltung verschaffen konnte, der die politische Führung nichts entgegenzusetzen wusste. Im Gegenteil, indem sie den verlockenden Sicherheits- und Abschreckungsversprechungen einer auf „massive Vergeltung“ ausgerichteten Verteidigungsdoktrin Glauben schenkte, ohne gewahr zu werden, dass sie mit den militärischen Automatismen der geplanten atomaren Gegen- und Vergeltungsschläge zugleich die politische Steuerungsfähigkeit einbüßte, hatte die Politik auf den ihr zustehenden Primat bereits verzichtet. Gleichwohl lag in dem Politikverzicht selbst noch ein politisches Kalkül: Dem Gegner wurde signalisiert, im Aggressionsfall werde automatisch nach dem letzten Mittel gegriffen. Der damit intendierten Maximierung des Abschreckungseffekts stand jedoch keine zureichend entwickelte politische Führungsfähigkeit zur Seite.

Die ADM-Waffen, im Grunde „taktische“ Atomwaffen, die in vorbereiteten Schächten oder auf dem Gefechtsfeld zum Einsatz kommen sollten, stellten, wie Bald zutreffend herausarbeitet, den Ausgangs- und Angelpunkt der strategischen Problematik dar. Während die deutsche Bevölkerung (und Politik) zunächst nicht wahrhaben wollte (oder konnte), was da auf sie zukommen konnte, regte sich seitens der amerikanischen Bündnispartner Widerspruch, sobald sich im Übergang zur Kennedy-Administration eine flexible, abgestufte, atomar-konventionell gemischte und auf Deeskalation setzende Doktrin anbahnte. Während die bundesdeutschen Planer auf den abschreckenden Automatismus des Atomeinsatzes, eine möglichst frühzeitige Freigabe und daher auch auf ein die Politik ausschließendes Verfahren der „Prädelegation“ des taktischen Atompotenzials (bis hinunter auf Korpsebene!) drängten, erkannten die Amerikaner darin mehr und mehr den umgekehrten Effekt drohender Selbstabschreckung, eines politischen Kontrollverlustes und der absehbaren Unangemessenheit von Konfliktdimensionen und militärischem Mitteleinsatz.

In dieses Wespennest schwelender Bündniskonflikte stachen die Oppositionspolitiker Erler und Schmidt, als sie 1964/65 von den ADM-Planungen Wind bekamen und daraufhin eine politische Veto-Position forderten – ein Verlangen, das die zuständigen Spitzenmilitärs nur als „Verminderung der Abschreckung“ durch „Zeitverzug“ wahrnehmen konnten. Der oppositionelle Vorstoß konnte erst nach Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 weiter verfolgt werden, als Schmidt zum Verteidigungsminister bestellt worden war. In diesem Amt wurde er, durch den weiterhin amtierenden Generalinspekteur Ulrich de Maizière, in vollem Umfang von den Implikationen der ADM-Planungen informiert. Bald zeichnet minutiös nach, wie Schmidt und sein politischer Stab in enger Abstimmung mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Melvin Laird, zum Teil gegen den offenen Widerspruch oder die stillschweigende Obstruktion der Spitzenmilitärs, Schritt für Schritt versuchten, die ADM-Planungen zu entschärfen. Der Weg bis zur formellen Verankerung der deutschen Vorbehalte („4 German No’s“) sollte allerdings knapp fünf Jahre dauern – Jahre, in denen die Militärplanung unabhängig vom Gang der politischen Verhandlungen fast ungebrochen fortgeführt wurde.

Noch 1976 meldete Generalleutnant Kurt Schnell Revisionsbedarf an den politischen Kontrollabsprachen der ADM-Freigabe an – und wurde von einer schwächelnden Bundeswehrspitze (Minister Georg Leber) prompt zum Staatssekretär berufen. Eine ungewollte Pointe der von Bald aufgedeckten Vorgänge besteht darin, dass erst im Januar 1988 die letzten Dienstvorschriften der Bundeswehr über das Anlegen von „Sperren“ und „Minensperren“ außer Kraft gesetzt wurden – knapp zwei Jahre, bevor die Mauer und die Abschreckungsdoktrin zerfielen. Kurzum, die Praxis der revidierten Verteidigungsdoktrin war „auf der Höhe der Zeit“, als diese sich gerade in ein anderes Zeitalter zu verabschieden begann. Gleichwohl enthält selbst diese Ironie ein Gutteil an Selbsttäuschung, die beispielsweise auch vor dem Steuerbarkeitsoptimismus der flexibilisierten Atomstrategie nicht Halt machte. Denn selbst eine wie immer begrenzte und flexible, politisch verantwortete und militärisch vollzogene Krisendeeskalation auf deutschem Boden hätte wohl ausgereicht, große Teile des Landes in Schutt und Asche zu legen. Aus dem atomaren Dilemma gab es kein Entrinnen – if deterrence failed. 2

Balds Studie ist nicht nur ertrag- und aufschlussreich, was die Ereignisgeschichte der ADM-Kontroverse betrifft. Überdies enthält sie implizit eine Analyse der politisch-militärischen Beziehungen und der Geistesverfassung der Spitzenmilitärs. Offenbar waren hochqualifizierte „Fachidioten“ am Werk, die der militärischen Eigenlogik allgemeine (also auch politische) Verbindlichkeit zuschrieben. Diese Haltung ist nur unzulänglich als „Traditionalismus“ zu bezeichnen, verdankt sich die Reduzierung des Militärhandwerks auf funktionale Effizienzsteigerung doch gerade den Maximen der Moderne, deren Glaubenssätze nur notdürftig mit der Tünche tradierter Wertvorstellungen überzogen wurden. Zygmunt Bauman war auf dieses Phänomen gestoßen, als er die Entmoralisierung der Verwaltungsabläufe im Holocaust analysierte. Zutreffend sprach er von einer „Moral der Funktionalität“, die ihre Erfüllung in den eigenen Vollzügen suche und finde. 3 Es ist schade, dass Bald den gegenläufigen Tendenzen, die mit dem Signalnamen Graf Baudissin gelegentlich angesprochen werden, so wenig Raum gibt. Doch sein Thema ist hier – zu Recht – ein anderes.

Anmerkungen:
1 Vgl. Reiner Pommerin, General Trettner und die Atom-Minen. Zur Geschichte nuklearer Waffen in Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 39 (1991), S. 637-654, der die Entwicklung der Position Trettners nur unzureichend dokumentiert und überdies die Brisanz der ADM-Problematik verkürzt darstellt; weiterführend dagegen, ohne jedoch die ADM-Problematik ausführlich zu diskutieren, Axel Gablik, Strategische Planungen in der Bundesrepublik Deutschland 1955–1967: Politische Kontrolle oder militärische Notwendigkeit?, Baden-Baden 1996.
2 Die entsprechende Skepsis, nun aber wieder mit Rekurs auf die Segnungen der „massiven Vergeltung“, meldet an: Dieter Krüger, Schlachtfeld Bundesrepublik? Europa, die deutsche Luftwaffe und der Strategiewechsel der NATO 1958 bis 1968, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 171-225; noch etwas skeptischer Klaus Naumann, Machtasymmetrie und Sicherheitsdilemma. Ein Rückblick auf die Bundeswehr des Kalten Kriegs, in: Mittelweg 36 14 (2005) H. 6, S. 13-28.
3 Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 174ff.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension