N. Pethes u.a. (Hrsg.): Sexualität als Experiment

Cover
Titel
Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction


Herausgeber
Pethes, Nicolas; Schicktanz, Silke
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
417 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Sabisch, Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Dass Laborwissenschaften und ihre Objekte sexuelle Konnotationen aufweisen, zeigte zuletzt die Biologin Lisa Weasel mit ihrer Studie über die „HeLaCells“. Als HeLaCell wird eine menschliche Tumorkultur beschrieben, die ab den 1950er-Jahren die Labore der Welt eroberte und seither als Basis für molekularbiologische Krebsforschung fungiert. Weasels Rekonstruktion des (Labor)Diskurses über das experimentelle Objekt verdeutlicht, dass die Zellen nicht nur nach ihrer eigentlichen Trägerin Henrietta Lacks benannt sind, sondern auch kursierende Phantasien über Frau Lacks Hautfarbe und ihre sexuellen Vorlieben perpetuieren: HeLaCells gelten als „aggressiv migrierend“ und als „aggressiv reproduktiv“ – Eigenschaften, die vor allem Frauen mit schwarzer Hautfarbe zugeschrieben werden.1

In eben diese Debatte über das interdependente Verhältnis von gender and science greift der vorliegende Sammelband ein, indem er neben der experimentellen Dimension der Sexualität ebenfalls die sexuelle Dimension des Experimentierens fokussiert. Die Inblicknahme von ‚Sexualität’ und ‚Experiment’ gründet dabei auf der Annahme, dass beide Begriffe zentrale Referenzen für Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur der Gegenwart darstellen. Und nicht nur dort. Untersuchungen zu Biopolitik, Bioethik und Gender weisen den Konzepten ebenfalls eine Schlüsselrolle zu. Anders formuliert: Die Omnipräsenz von Sexualität in den Lebens- und Kulturwissenschaften kooperiert mit der des Experiment-Begriffs in der jüngeren Wissenschaftsforschung. Denn dieser avancierte mit dem practical turn zu einem populären Gegenstand – befreit aus den Fängen der schieren naturwissenschaftlichen Hypothesenprüfung wurde das Experiment ab den 1980er-Jahren in eine Bedeutungsvielfalt entlassen, die es erlaubt, epistemologische, soziologische, kulturelle und mediale Aspekte des Experimentierens zu identifizieren und zu analysieren. Dass die Schärfe des Begriffs darunter litt, liegt wohl in der Natur des Pop begründet. Umso erfreulicher ist es, dass die in dem Sammelband vereinigten Fallstudien jeweils um eine Klärung des Begriffs bemüht sind.

Das Buch gliedert sich in die drei thematischen Bereiche „Identität und Differenz“, „Lust und Moral“ sowie „Reproduktion und Genealogie“. Die Herausgeber folgen mit dieser Systematisierung ausdrücklich den Semantiken des Sexuellen, wollen jedoch innerhalb der einzelnen Sektionen sicherstellen, dass die jeweiligen Beiträge die drei Experimentalkategorien „wissenschaftliche Erprobung“, „(sozial)philosophische Szenarien“ und „mediale Fiktion“ (S. 18) aufgreifen. Allerdings gelingt dieser Schulterschluss nicht immer. So würden thematisch wichtige Beiträge wie der von Steven Seidmann und Chet Meeks über die Geschichte der Homosexuellenbewegung in den USA und der von Antje Flüchter über die Alltagsgeschichte der Sexualität seit der frühen Neuzeit auch ohne den Rekurs auf das Experimentelle auskommen. Dies ist jedoch keinesfalls als eine systematische Schwäche des Bandes zu verstehen, im Gegenteil: Wenn die Frage nach „Sexualität als Experiment“ eine „integrale Perspektive auf die Wissens-, Gesellschafts- und Medienpraxis der Sexualität im 20. Jahrhundert“ (S. 18) bietet, so erfordert dies zunächst eine grundsätzliche Klärung des Rubrums ‚Sexualität’. Dementsprechend wird jede Sektion mit einem diskurshistorischen Überblick eingeleitet, der die vielfältigen Fallstudien zu den Bereichen Identität, Lust und Reproduktion thematisch bündelt.

Bemerkenswert ist hier der Beitrag von Heiko Stoff, der das Kapitel über „Identität und Differenz“ mit einer methodologisch aufschlussreichen Skizze des Sexualitätsdiskurses zu Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet. Stoff will die Diskursgeschichte der Sexualität als eine Geschichte von institutionalisierten und stabilisierten Dingen verstanden wissen. Die Perspektivierung des Materiellen veranschaulicht er anhand der Laborpraktiken der 1910er- und 1920er-Jahre. Die Tierexperimente des Wiener Physiologen Eugen Steinach, mit denen dieser die Keimdrüsen als Ort der Vergeschlechtlichung bestimmen wollte, initiierten die Trennung von Sex und Fortpflanzung, indem sie im Sinne Bruno Latours einen neuen Akteur erschufen: die Sexualhormone. Die Popularisierung von Steinachs Versuchen ging mit einer „Medialisierung der Geschlechtsumwandlung“ (S. 55) einher, die Rainer Herrn in dem Sammelband am Beispiel der ersten Mann-zu-Frau-Operation in den Jahren 1920/21 entfaltet. Dass es sich bei dieser Operation um ein Experiment handelte, belegt vor allem eins: Die Ärzte folgten keinem zuvor ausgearbeiteten Konzept; die chirurgischen Eingriffe glichen eher einer Suchbewegung, die sich in erster Linie an den Wünschen des Patienten orientierte. Während die technischen Details der Operation in Fachzeitschriften bestens dokumentiert sind, ist über die subjektive Wahrnehmung des Operierten nur wenig bekannt.

Anders verhält es sich mit dem John/Joan-Fall, den Ulrike Klöppel in ihrem Beitrag über die experimentelle Formierung von gender zwischen Erziehung und Biologie vorstellt. Der 1965 als Junge geborene John verlor im Alter von 22 Monaten bei einem Unfall seinen Penis und wurde daraufhin auf Empfehlung des Arztes John Money als Mädchen erzogen. Diese „experimentelle Zurichtung geschlechtlicher ‚Uneindeutigkeit’“ (S. 86) wurde zunächst als Erfolg gefeiert, mündete jedoch 25 Jahre später in einem Desaster, da sich die junge Frau entschied, wieder als Mann zu leben. Einer der Hauptprotagonisten in der sich daraufhin entzündenden nature/nurture-Debatte war der Humanbiologe Milton Diamond, dem es 1994 gelang, John zu interviewen. Der nature-Verfechter Diamond, in dem vorliegenden Band mit dem Artikel „Soziale Regulierungen von Sexualität: Legitimitätsstrategien und ihre gesellschaftlichen Kosten“ vertreten, kann es augenscheinlich auch 40 Jahre später nicht lassen, Money-Bashing zu betreiben, wie seine Ausführungen über „Geschlechts(neu-)bestimmung und chirurgische Eingriffe“ (S. 193-198) eindrücklich belegen.

Neben diesen wissenschaftshistorischen Untersuchungen, die durch den Beitrag von Marion Hulverscheidt über Klitorisoperationen und den einleitenden Aufsatz von Caroline Arni über die Diskursgeschichte der Abstammung komplettiert werden, liegt der Schwerpunkt des Bandes auf der Analyse von Fiction. Diese Perspektive ist folgerichtig, versteht man mit den Herausgebern fiktionale Szenarien als „kulturell verankerte imaginäre Versuchsanordnung“, „die nicht nur normative Diskurse kondensiert wiedergeben, sondern […] auch selbst beeinflussen“ (S. 15/16). Für die Literatur veranschaulichen dies Anette Keck, die die Subvertierung der Geschlechterordnungen in der Literatur von Gottfried Kellers „Sinngedicht“ (1881) bis hin zu Thomas Meineckes „Musik“ (2004) untersucht und Jörn Ahrens, der sich ganz der asexuellen Utopie von Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ widmet. Größeren Raum beanspruchen jedoch Filmanalysen. So beschäftigen sich Uta Scheer und Nicole C. Karafyllis mit Sience Fiction: Scheer, indem sie anhand der Star Trek-Figur „Seven of Nine“ aufzeigt, wie traditionelle Geschlechterdichotomien experimentell und populärkulturell vermittelt werden; Karaffyllis, indem sie überzeugend die sexuelle Markierung von Pflanzen in Filmen wie „Nosferatu“ (1921) oder „Tanz der Teufel“ (1982) erklärt. Karafyllis zufolge fungiert das Vegetative hier als die visuelle Form von Reproduktion und Verführung, als „anthropologische Figur, die uns etwas über den Menschen sagt, seine unbewussten Ängste und Träume, die sich im Trieb zeigen“ (S. 388f.). Demgegenüber steht die von Deborah Steinberg vorgenommene Analyse der Fernsehdokumentation „Sons of Abraham“. Der 1999 auf dem Kanal National Geographic ausgestrahlte Film präsentiert die Suche des Anthropologen Tudor Parfitt nach dem ‚jüdischen Gen’ einer in Südafrika lebenden Bevölkerungsgruppe. Überzeugend entlarvt Steinberg die Dokumentation als Fiktion, als die „Verknüpfung eines imperialistischen Unterfanges mit einem wissenschaftlichen Abenteuer“ (S. 400). Dieses Zitat ließe sich ebenso auf die Analysen Pascal Eitlers übertragen, der den pornographischen Film nach 1968 untersucht. Denn dieser (re)produziere nicht nur sexuelles Wissen, indem er den Frauenkörper als epistemisches Ding inszeniere, sondern zeichne sich selbst durch einen dokumentarischen Gestus aus. Dieses breite Spektrum von sexuellen und experimentellen Darstellungen wird von Eva-Maria Knoll und Anette Jael Lehmann auf zwei weitere mediale Felder ausgeweitet. Um Aufschluss über die Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von Reproduktionstechnologien zu bekommen, analysiert Knoll den Webblog einer alleinstehenden Frau mit Kinderwunsch. Die gesellschaftlichen Irritationen, die eine solche Jungfrauen-Geburt flankieren, weisen auf die Beharrlichkeit von Konzepten wie Vaterschaft und Verwandtschaft hin. Lehmann bringt ebenfalls das Moment der Irritation in Anschlag, wenn sie entsexualisierte Körper in Performances und medienkünstlerischen Arbeiten als „posthuman“ bespricht.

Abgerundet wird der Band durch drei Aufsätze, die explizit bioethische und -politische Fragen aufwerfen. Hervorzuheben ist hier die Untersuchung von Julia Dietrich über die phänomenologische Dimension von Lust und Schmerz, die sie mit der Experimentaltheorie Hans-Jörg Rheinbergers auslotet; aufschlussreich ist ebenfalls Regina Ammicht Quinns Rekapitulierung des ethischen Diskurses über Sexualität, dessen Aufgabe sie in der „Ermöglichung moralischer und sexueller Identität(en)“ sieht. Es ist jedoch vor allem der Beitrag von Barbara Orland, der die thematische und methodische Vielfalt des Sammelbandes kenntlich werden lässt. Denn in der Frage „wie […] es sich eigentlich als Embryo“ lebe (S. 311), kumulieren die unterschiedlichen lebens- und kulturwissenschaftlichen, politischen, moralischen und technischen Problemstellungen von experimentalisierter Sexualität.

Anmerkung:
1 Lisa Weasel, Feminist Intersections in Science. Race, Gender and Sexuality Through the Microscope, in: Hypatia 19 (2004), S. 183-193.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension