Titel
August Thyssen 1842-1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers


Autor(en)
Lesczenski, Jörg
Reihe
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 81
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kim Christian Priemel, Historisches Seminar, Europa-Universität Viadrina

Dreht sich die Unternehmensgeschichte im Kreis? Der Eindruck mag entstehen, wenn man sich die wachsende Zahl von Unternehmerbiographien vor Augen führt, die in den letzten Jahren entstanden sind 1 und die – zumindest auf den ersten Blick – den Weg zurück zu jenen Formaten zu weisen scheinen, die vor der institutionenökonomischen Wende als Geschichten großer Männer und nicht selten mit kaum verhüllter hagiographischer Absicht geschrieben wurden. Der Eindruck trügt. Der zweite Blick zeigt vielmehr, dass die jüngeren lebensgeschichtlichen Studien keineswegs theoretische Orientierung und methodische Reflektion als lästigen Ballast abschütteln, sondern die aus benachbarten Disziplinen entlehnten Zugänge nun konsequent auf das historische Quellenmaterial anwenden und die – über agency-Konzepte gleichsam reimportierte – Dimension des Handelns konkreter Akteure wieder ernst nehmen. Dies impliziert nicht nur eine Emanzipation vom überdeterminierten Korsett der klassischen Sozialgeschichte 2, sondern auch eine weit breitere, im positiven Sinne eklektische Theorieadaption und damit eine beträchtlich vergrößerte Anschlussfähigkeit der Unternehmensgeschichte an andere historische „Bindestrichdisziplinen“.

Jörg Lesczenskis Biographie August Thyssens – 2006 in Bochum als Dissertation eingereicht – kann als mustergültiges Beispiel für diese Entwicklung gelten, positioniert er seinen Gegenstand in einem umfangreichen Einführungskapitel doch gleich in mehreren Forschungs- und Theoriefeldern: Bürgertums- und Elitenforschung, Unternehmens- und Industriegeschichte, verbunden mit regionalhistorischen Aspekten. Trotz der unvermeidbaren Generalisierungsgrenzen, an die lebensgeschichtliche Ansätze stoßen, ist die Arbeit als sozialhistorische Biographie angelegt und nähert sich ihrem Gegenstand aus dreifacher Perspektive: Thyssens Werdegang wird in Bezug gesetzt zu (familiärer) Primärgruppe und Sozialisationserfahrungen, zu den materiellen und institutionellen Rahmenbedingungen der deutschen Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert und schließlich gespiegelt in sozialer Interaktion und Kommunikation. Letztere werden hier verstanden als Ausdrucksform der individuellen Verarbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen, in denen der Einzelne seinerseits zur biographischen Selbstkonstruktion greift. Durch diese dreidimensionale Herangehensweise gelingt es Lesczenski, äußeren Lebenslauf und Innenansicht seines Protagonisten konsequent aufeinander zu beziehen. Insofern überrascht die zurückhaltende Ankündigung, lediglich eine „partielle Biographie“ (S. 11) leisten zu wollen: Das analytische Instrumentarium, dessen er sich bedient, weist vielmehr in die entgegengesetzte Richtung, und die nachfolgende Darstellung zeichnet über weite Strecken durchaus den ‚ganzen’ Thyssen – den Unternehmer und den Mülheimer Bürger, den Industriellensohn und den Familienvater, den Bauherrn und den Kunstsammler.

Dass eben dies gelingt, hat zwei Gründe: zum einen das reiche Quellenmaterial, auf das die Arbeit zu großen Teilen bauen kann. Zwar gilt dies weniger für die frühen Jahre Thyssens, für deren Schilderung Lesczenski im Wesentlichen auf die bekannte, empirisch gelegentlich nur bedingt belastbare Literatur zurückgreifen muss; umso mehr jedoch für die Phase des selbständigen Industriellen und Konzernarchitekten. Die große Masse von bislang weitgehend unerschlossen gebliebener privater Korrespondenz erlaubt es, nicht nur den Unternehmer aus den Geschäftspapieren, sondern auch weitere Facetten Thyssens herauszuarbeiten. Zum anderen – und gewissermaßen im Widerspruch zu dem gerade Gesagten – verdankt sich das mehrdimensionale Bild gleichsam der Eindimensionalität des Persönlichkeitsprofils des Protagonisten. Der Umstand, dass August Thyssen nahezu alle Formen (seines) gesellschaftlichen Handelns durch die Linse des Unternehmertums betrachtete, lassen seine nicht-ökonomischen Aktivitäten am Ende doch eher marginal erscheinen. Aus dem Normenangebot des „bürgerlichen Wertehimmels“ 3, dies legt Lesczenski überzeugend dar, wählte Thyssen in erster Linie „Arbeit, Leistung und Unternehmen“ (S. 380). Und je schwieriger sich die Aussichten gestalteten, die übrigen Dimensionen bürgerlichen Alltags wie Familie, Geselligkeit und Kultur erfolgreich auszugestalten bzw. mit den unternehmerischen Anforderungen zu vereinbaren, umso mehr verlegte sich der Industrielle darauf, seinen Lebensentwurf über wirtschaftlichen Erfolg zu konstruieren und zu konsolidieren. Der „Wirtschaftsbürger“ wurde somit zu jenem Teilbereich des Bürgerlichen, in dem Thyssen eine positive biographische Eigendeutung möglich war. Für die Defizite vor allem im familiären Bereich war er aber keineswegs blind, legte doch hier das Bild des früh geschiedenen, mit seinen vier Kindern praktisch fortwährend im Streit liegenden und einsam auf seiner Burg residierenden alten Mannes kaum etwas anderes nahe als den Eindruck des Scheiterns.

Die Schieflage des Thyssenschen Lebensentwurfs wird von der Arbeit eindrucksvoll eingefangen, und damit gelingt dem Biographen gewissermaßen ein Kunststück: So verbreitet die Annahme ist, dass im Leben nicht weniger Großunternehmer gerade der Hochindustrialisierung ihre unternehmerischen Funktionen dominierten und sie in anderen Gesellschaftsbereichen eher als flache Charaktere zu zeichnen sind 4, so schwer lässt sich dies oft nachweisen. Das Fehlen entsprechender Quellen unter den meist dominanten Geschäftsüberlieferungen macht dies zwar plausibel, ist aber kein hinreichender Beleg. Anders Lesczenskis Arbeit. Dicht und faktenreich schildert er Thyssens Alltag, das beschränkte Ausmaß seiner sozialen Kontakte außerhalb des Berufs, die beflissene Konventionalität des „Kunstmitläufer[s]“ (S. 230). Im Grunde wird somit weniger die biographische Komplexität als vielmehr ihre Abwesenheit geschildert, was die Lektüre mitunter etwas zäh macht: Aus der Schilderung mittelmäßiger Bilder wird keine aufschlussreiche Sammlungsgeschichte, aus der Inventarisierung von Garderobe und Speisekammer kein rauschendes Fest. Gerade hierin lag jedoch, so die an Dolores Augustine anknüpfende Schlussfolgerung, ein substantieller Unterschied wirtschaftsbürgerlichen Lebensstils im Ruhrgebiet mit seiner „defiziente[n] Urbanität“ (S. 375) etwa zu den hanseatischen und Berliner Metropolen.

Weit farbiger gerät die Schilderung der familiären Beziehungen des Industriellen, keineswegs aus Interesse am Skandalon, sondern einerseits, weil hier der Privatmann August Thyssen besonders klar zu fassen ist, in seinen zwischenmenschlichen Defiziten wie in seinem emotionalen Unglück. Andererseits überzeugt die Darstellung, weil sich unmittelbar nachvollziehen lässt, welche Auswirkungen die familiären Konflikte auf die Führung und das Schicksal des Familienunternehmens zeitigten, das 1926 – im Todesjahr des Konzernherrn – zur Hälfte in die Vereinigten Stahlwerke fusioniert wurde. Nüchtern, doch nie um präzise Wertungen verlegen, zeichnet Lesczenski diese Anordnung und findet durchaus auch Verständnis für die im Kollektiv nicht eben als Sympathieträger auftretenden Familienmitglieder.

Etwas pointierter hätten möglicherweise die Schlussfolgerungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft in der – für seine Branchenkollegen repräsentativen – Wahrnehmung Thyssens ausfallen können. Des Industriellen berüchtigte Kriegszielforderungen werden zwar keineswegs unterschlagen, jedoch nicht mit seinen später zitierten larmoyanten Einlassungen über die harten Versailler Konditionen in Bezug gesetzt. Dass Thyssen – wiederum im Einklang mit der Mehrheit seiner Klasse – an Annexion und Ausplünderung kaum Anstoß nahm, wird zu Recht mit einem verengten ökonomischen Blick erklärt. Doch eigentlich bemerkenswert scheint, dass genuin bürgerliche Werte wie Rechtmäßigkeit hier ebenso wenig zum Tragen kamen wie das sonst hochgehaltene Idealbild eines staatlich garantierten, nicht aber regulierten, allein vom Wettbewerb geleiteten Marktes. Offenbar war es 1916 mit diesen Überzeugungen durchaus vereinbar, sich mit staatlicher Hilfe fremde Rohstoffe anzueignen und auf diese Weise die internationale Position zu stärken: Diebstahl statt Wettbewerb. – Dies sind jedoch eher Geschmacks- und Interpretationsfragen, die nichts an der hohen Qualität dieser vorbildlichen Industriellenbiographie ändern. Um die Unternehmensgeschichte muss man sich nicht sorgen.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft: Lothar Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs, München 2004; Avraham Barkai, Oskar Wassermann und die Deutsche Bank. Bankier in schwieriger Zeit, München 2005; Christopher Kopper, Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier, München 2006; Boris Gehlen, Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer, Stuttgart 2007.
2 Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 173-198.
3 Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333-359.
4 Vgl. Dolores L. Augustine, Arriving in the upper class: the wealthy business elite of Wilhelmine Germany, in: David Blackbourn / Richard J. Evans (Hrsg.), The German Bourgeoisie. Essays on the social history of the German middle class from the late eighteenth to the early twentieth century, London 1991, S. 46-86, hier S. 57, 69f.