Cover
Titel
Time and the Shape of History.


Autor(en)
Corfield, Penelope
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 309 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Völkel, Historisches Institut, Universität Rostock

Penelope J. Corfield ist Professorin am Royal Holloway College der Universität London und bisher vor allem mit sozialhistorischen Studien zum 18. Jahrhundert hervorgetreten. „Time and the Shape of History“ scheint ihr erstes ‚theoretisches Werk‘ zu sein. Den Kern des Essays bilden Überlegungen zur ‚longue durée‘, die Zeitvorstellungen der verschiedenartigsten Ethnien und Gesellschaften sowie die Rollen von Kontinuität, stufenweisen Wandel und Revolution. Das Buch versteht sich insgesamt als Teil der Bewegung zur ‚Großen Geschichte‘ (big history), ohne dass freilich der Namensgeber dieser Richtung, David Christians „Maps of Time. An Introduction to Big History“ (2004) explizit genannt würde.

Zur Einteilung dienen acht Kapitel, jeweils ergänzt um so genannte „Chapterlinks“, also als Beispiele gedachte Weiterführungen, die freilich nur eine sehr ungefähre Entwicklung der Gesamtargumentation abzusehen gestatten. Kapitel eins beschäftigt sich mit „History in Time“ und hat „Time Travel“ als Überleitung. Es geht so fort mit „Deep Continuities“, „Micro-change“, „Radical Discontinuity“, „Mutable Modernity“, „Variable Stages“, „Multiple Dimensions“, um in Abschnitt acht bei „History Past and Future“ zu enden. Die jeweiligen „Chapterlinks“ heißen „Time Cycles“, „Time Lines“, „Time Ends“, „Time Names“, „Time Pieces“ und „Time Power“. Corfield begreift ihre Abschnitte wie „spokes on a turning wheel“, das heißt Speichen eines Rades. Beabsichtigt scheint also weniger eine phänomenologische als eine thematische Untersuchung der Bedeutungen, die heutige Zeitvorstellungen für den Historiker gewinnen können.

Schon nach Lektüre der ersten Abschnitte ist klar, dass es sich auch nicht um eine fachspezifische Erörterung von Zeit-Fragen, sondern um eine Art transdisziplinären Ansatz handelt, der bei ‚intuitiv üblichen‘ Zeit- und Geschichtsvorstellungen ansetzt. Diese Vorstellungen rückt Penelope Corfield in den gegenwärtigen Horizont der von den Einzelwissenschaften dynamisch differenzierten Zeitkonzepte, um deren Bedeutungsgehalt in den erwähnten acht Durchgängen auf das Selbstverständnis der Historiker überzuleiten. Deshalb könnte man als Endabsicht des Werkes den Versuch angeben, den Common-Sense-Begriff historischer Zeit universalwissenschaftlich auf die Höhe unserer Zeit zu heben. Das bleibt in jeder Hinsicht ein seltsam thesenfreies, argumentativ schwebendes, beharrlich ökumenisches Unterfangen, das nicht mehr tun will, als die doch hinlänglich diskutierten Zeitkonzepte der Kontinuität, des Wandels und des revolutionären Bruchs in einer ‚verflochtenen Geschichte’ (braided history) zu versöhnen. Weder mit Hilfe der Gliederung noch anhand der Lektüre ist es möglich, eine genaue argumentative oder inhaltliche Bestandsaufnahme dieses Essays zu geben, zumal auch die Bibliographie die Struktur nicht reflektiert und einfach nur mit „further reading“ bezeichnet ist. Die Abbildungen scheinen ebenfalls eher zufällig ausgewählt zu sein und erfahren keine genaue Interpretation. Anstatt nun eine inhaltliche Zusammenfassung zu wagen und Corfields Versuch damit entweder Gewalt oder zu viel Ehre anzutun, seien zwei kleine Abschnitte vorgestellt und kritisch analysiert. Auf diese Weise meint der Rezensent, dem argumentativen Stil dieses Werkes noch am nächsten zu kommen.

„The Power of Continuity“ (S. 46ff.), sechster Abschnitt von „Deep Continuities“, beginnt mit der Bemerkung: „Everywhere, then there are marks of persistence through time.“ (S. 46) Danach folgt die für diese Arbeit typische gedankliche Drift: „Not only the landscape but all buildings other than those actually under construction are visible reminders of ‚the presence of the past‘, as observes I.M. Pei, the Japanese architect responsible for renovating France’s palace-museum the Louvre. Individuals meanwhile continue as ‚walking archives’ of their own genetic histories. And our automatic reflexes provide a reminder of our far-distant ancestral origins, as in the case of the sudden frisson in times of fright or tension – the heiliger Schauer or ‚holy shiver’ of the German poets – which is a biological inheritance from a pre-human bristling of fur.“

Es folgen sodann, wie bei Corfield keineswegs selten, paradoxale Bemerkungen, das heißt Verweise auf das dichterische Empfinden der Unbeständigkeit von Welt und Liebe, aber auch auf das Gespenst der Beständigkeit im ostentativsten Wandel, etwa der Revolution in Frankreich 1849: „Plus ça change – plus c’est la même chose“ (S. 47, Alphonse Karr). Darum bleibe es eine fortbestehende Aufgabe („perennial challenge“) das Ephemere vom dauerhaft Bestehenden abzusondern, da im Kosmos eine Mischung aus Unbestimmtheit und Beständigkeit anzunehmen sei. Max Planck habe solche ‚Universalkonstanten‘ eingefordert. Hier treffe er sich mit dem späten Einstein, der ebenfalls absolute Größen im Kosmos suchte. „While the scientific arguments remain to be clarified, some foundational role for continuity remains intrinsic, not least as the contrasting basis against which change can be identified.“ (S. 48) Das Ende des Abschnittes ist dabei überaus tröstlich, denn überall dort, wo der Wandel chaotisch und bedrohlich aufzutreten scheine, dort nahe auch schon das Rettende im „through-time survival“: „The asphalt jungles within cities can be greened by planting trees and using latticed concrete with space for grass to grow, adopting the pre-urban within the urban. How all these elements of persistence, both mental and material, then interact with the countervailing forces of change constitutes the very stuff of existence.“ (ebd.) An solchen Abschnitten wird deutlich, wie man sich die Neuaufladung des Zeitbegriffs gemäß den universalisierten Wissenshorizonten von Corfield vorzustellen hat.

Während sich der Leser hier sozusagen noch in der ‚Vorschule‘ befindet, gelangt er im Paragraphen „Dimensions within History“ (S. 211- 216), dem vierten Abschnitt von „Multiple Dimensions“, zu der zentralen Idee der „dreidimensionalen Geschichte“. Wieder ist Corfield von der unbegrenzten gegenseitigen Durchdringung von „Persistenz, Mikro-Wandel (momentum) und Makro-Wandel (turbulence)“ überwältigt. Wo aber ist die Richtung, wo bleibt die Entschiedenheit der historischen Situation?, fragt sich der Leser, wenn ihm die „braided history“ solcherart vorgeführt wird: „‚Big‘ organising factors, like demographics, climate, biology, technology, economics, culture, ideas, literacy, religion, politics, science, all can persist, can develop slowly, and can mutate rapidly.“ (S. 212) Auch das Resümee des Abschnitts bleibt so trivial wie enigmatisch: „Very long-term results tend to be more readily explained in terms of very long-term trends and causation; but short term outcomes, if sufficiently momentous, often depend on a combination of short-, medium- and long-term causes in interactive combination. So the patterns shift and recombine, but not inexplicably.“ (S. 216) Auf welche Fragen sind solche Antworten gemünzt?

„Time and the Shape of History“ ist ein ambitioniertes Buch, das auf die zweifellos veränderten Voraussetzungen für ein zeitgemäßes Zeitgefühl der Historiker zielt. Es ist allerdings daran gescheitert, für diese große und komplexe Fragestellung einen geeigneten Fokus und eine passende Methode zu entwickeln. Corfield kann sich für keinen der heute möglichen Ansätze entscheiden: nicht für historische Zeit versus physikalische bzw. biologische Zeit, nicht für Evolution der Arten versus politisch-soziales Handeln, nicht für eine lebensweltliche Phänomenologie historischer Zeit, nicht für Zeit und historische Erzählung, nicht für Zeit und Gedächtnis, nicht für eine Zeitlehre der historischen Diskurse, nicht für eine materiale Diskussion der Periodisierung oder auch nur für eine Wirkungsgeschichte von Fernand Braudel. Assoziativ aneinandergereiht findet sich von allem etwas, nichts systematisch entwickelt, nichts an einer deutlich hervortretenden eigenen historiographischen Praxis erprobt. Heutige Historiker sind mit fast jeder Form von ‚temporaler und kausaler‘ Komplexität vertraut. Es hilft ihnen wenig, wenn mit dem Vorweisen von Komplexität nicht zugleich eine spezifische Form, ein lösungsfähiges Problem verbunden ist. Dem Essay „Time and the Shape of History“ mangelt es an beidem.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch