T. Darieva u.a. (Hrsg.): Representations on the Margins of Europe

Cover
Titel
Representations on the Margins of Europe. Politics and Identities in the Baltic and South Caucasian States


Herausgeber
Darieva, Tsypylma; Kaschuba, Wolfgang
Reihe
Eigene und fremde Welten 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingo Schröder, Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung, Halle (Saale)

Auf dem expandierenden Feld der Studien zu postsozialistischen Transformationsprozessen stellt das vorliegende Buch zum Thema Identitätswandel in Osteuropa eine willkommene Ergänzung dar, zumal es sich dem Baltikum und dem Kaukasus widmet – zwei Regionen, denen die Sozialwissenschaften bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Thema des Buches ist die Konstruktion von Identität – von den Autoren generell als symbolischer Ausdruck sozialer Beziehungen verstanden – im Spannungsfeld politischer Interessen. In diesem Sinne konzentrieren sich die einzelnen Studien auf die Frage, welche Symbole im postsowjetischen Transformationsprozess Dominanz erlangt haben und wie diese in der öffentlichen Arena dargestellt werden.

Das Buch entstand auf der Grundlage eines Workshops aus dem Jahr 2005 zur Identitätspolitik in Armenien (etwa die Hälfte der Beiträge basiert auf Vorträgen dieses Workshops, die andere Hälfte wurde später hinzugefügt). Dieser Umstand ist offenkundig für das deutliche Ungleichgewicht in der geographischen Verteilung der Beiträge zugunsten des Kaukasus, und vor allem Armeniens, verantwortlich. Neun der vierzehn Kapitel beschäftigen sich mit dem Kaukasus, davon sieben mit Armenien und jeweils eins mit Georgien und Aserbaidschan. Von den fünf Kapiteln zum Baltikum thematisieren drei Estland und jeweils eines Lettland und Litauen. Diese geographische Schieflage kann als der offensichtlichste Mangel des Buches betrachtet werden. Weitere Beiträge zu den beiden letztgenannten baltischen Staaten und anderen Regionen des Kaukasus – zu Lasten der teilweise ein wenig redundanten Studien zu Armenien – hätten dem Buch sehr gut zu Gesicht gestanden.

Zum Inhalt: Der Band gliedert sich in drei Sektionen – „Bilder“ (icons), „Erzählungen“ (narratives) und „Riten“ (rites). Die erste Sektion thematisiert die symbolische Repräsentation von Vergangenheit anhand von Beispielen der Erinnerungskultur in Armenien, nationaler Geschichtsschreibung in Lettland und der Geschichte der Stadt Narva an der russisch-estnischen Grenze. Im zweiten Abschnitt werden narrative Konstruktionen von kollektiver Erinnerung und Identität an den Beispielen Estlands, des sowjetischen und post-sowjetischen Aserbaidschan sowie Litauens nach dem EU-Beitritt analysiert. Die dritte Sektion schließlich befasst sich mit der performativen Dimension von Identitäten anhand der Beispiele Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Der theoretische und komparative Ansatz des Buches wird von den Herausgebern in ihrer Einleitung und in einem Einstiegskapitel von Wolfgang Kaschuba über das „alte und neue Europa“ aus ethnologischer Sicht sowie in einem – bedauerlich kurzen – Nachwort des Historikers Jörg Baberowski abgesteckt.

Zur Einordnung: Abgesehen von seinem innovativen regionalen Schwerpunkt ist dieses Buch aus mehreren Gründen lesenswert: Erstens, weil es das Ergebnis einer seltenen und höchst willkommenen Zusammenarbeit von Historikern und Sozialwissenschaftlern in der Erforschung nationaler Identitätsbildung als historischem Prozess von der sowjetischen Vergangenheit hin zur postsowjetischen Gegenwart ist. Die historische Tiefe dieses Prozesses wird in synchronen Studien postsozialistischer Identitätspolitik allzu leicht vernachlässigt. Zweitens, weil Europa, und insbesondere die Europäische Union, den Bezugspunkt aller Beiträge darstellt. Das Baltikum und der Kaukasus teilen nicht nur eine Geschichte als Sowjetrepubliken, sondern auch ihre periphere Lage in Bezug zu Europa, wodurch sie in gleichem Maße Außenseiter und Teilhaber sind: die baltischen Staaten als neue EU-Mitglieder am äußersten Rand von „EU-ropa“ und der Kaukasus als Region an der Ostgrenze des geographischen Europa, die sich um Annäherung an den „Westen“ bemüht. Die geopolitische Lage hat gesellschaftliche Prozesse in beiden Regionen maßgeblich geprägt. Veränderungsprozesse nationaler Identitäten und symbolischer Grenzziehungen können als lokale Antworten imaginärer und praktischer Politik auf die Auswirkungen einer „Europäisierung“ auf verschiedenen Ebenen verstanden werden. Und drittens, weil das Buch einen wertvollen Beitrag auf dem hochinteressanten Feld der Erforschung gesellschaftlicher Dynamiken von Geschichtspolitik in postsozialistischen Staaten leistet. Während dramatische Kontroversen um das Verständnis nationaler Geschichte immer wieder in den Medien auftauchen – man denke nur an die Zusammenstöße von Russen und Esten über die Verlagerung eines russischen Soldatendenkmals in Tallinn im Jahre 2007 –, besteht weiterhin ein großer Bedarf an detaillierten wissenschaftlichen Untersuchungen der gesellschaftlichen Prozesse, die den Hintergrund solcher Kontroversen bilden.

Im Baltikum wie im Kaukasus sind die Dämonisierung oder das Übertünchen der sowjetischen Vergangenheit sowie die Idealisierung von Helden und Symbolen einer „nationalen“ Vergangenheit essentielle Ressourcen der Nationenbildung und der Legitimation politischer Eliten. Dies steht vielfach in Verbindung mit neuen Identitätsdiskursen, die eine Orientierung nach Westen, nach Europa postulieren. Solche politischen Diskurse spielen eine kaum zu überschätzende Rolle für die Konstruktion unterschiedlicher Formen kollektiver Identität in postsozialistischen Gesellschaften.
Aus all diesen Gründen ist es gewinnbringend, dieses Buch zu lesen. Man kann es jedem empfehlen, der an Prozessen der (Trans-)Formation von Identitäten in der postsozialistischen Welt interessiert ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch