J. Nagel: Die Ostindienkompanien

Titel
Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien


Autor(en)
Nagel, Jürgen G.
Erschienen
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mareike Menne, Universität Stuttgart, Historisches Institut

Eine Zeit, die sich selbst als eine der „Globalisierung“ deutet, bedarf der Vorläufergeschichten. Eine solche hält man mit Jürgen Nagels erster deutschsprachiger Darstellung der Ostindienkompanien in der Hand. Freilich liegt der Schwerpunkt der Kompanienforschung weiterhin in den Ländern, die eine führende Rolle im frühmodernen Überseehandel einnahmen: Großbritannien und die Niederlande. Doch auch die kleineren Kompanien erfuhren in ihren Nachfolgenationen, etwa Frankreich, Dänemark und Schweden, Beachtung. Die Kompanien aus Territorien des Alten Reiches hingegen fristen bis heute ein weitgehend unerforschtes und daher oft bedeutungsloses Dasein. So gilt auch Nagels Fokus den Protagonisten East India Company und Vereenigde Oostindische Compagnie, doch macht er den Leser gleichfalls mit kleineren Kompanien vertraut.

Überblicksdarstellungen dienen verschiedenen Leserinteressen und verlangen dem Autor daher sowohl profunde Fachkenntnisse in Gegenstand und Forschung als auch darstellerisches Vermögen, Serviceorientierung und Anregungen für Spezialstudien ab. Wie profitiert nun welche Lesergruppe von Nagels Buch, was wird sie vermissen?

Studierenden kann die Darstellung zunächst eine Einführung sowohl in die Kompaniengeschichte als auch überhaupt in den Gegenstandsbereich des frühneuzeitlichen internationalen Wirtschaftslebens geben. Abbildungen, Daten und Literaturhinweise werden bei eigenen Präsentationen und Arbeiten Verwendung finden können. In der reichen Faktenpräsentation mag die ein oder andere Irreführung oder Lücke zunächst nicht auffallen. Kompanien werden durch Oktroi bzw. Charter ins Leben gerufen (S. 39) – doch wie entstehen sie sozial, organisatorisch, ökonomisch? Die Antworten müssen im Text gesucht werden (etwa S. 43) – dies sollte jedoch nicht mehr die Aufgabe des Lesers sein. Passivformulierungen umgehen zudem die Nennung von Urhebern (z.B. S. 122). Irreführend ist die Bezeichnung von Niederlassungen der Ostender Kompanie als „belgisch“ (S. 73), gleichfalls wäre die europäische Einbettung ihres „Scheiterns“, die Pragmatische Sanktion, eine Erwähnung wert (S. 136f.). Auch der Verweis auf die monetäre Dimension der Opiumkriege, die Rolle des Silbers, würde Studierenden bei der Verschränkung von Einzelphänomenen und globalen Strukturen helfen (S. 92).

Ähnlich ambivalent erweist sich die Lektüre auf einen Einsatz in der universitären Lehre hin: Nagel fügt Abbildungen und Karten hinzu, doch welche Funktion erfüllen sie? Im Hauptteil des Buches widmet er sich den beiden großen Kompanien, der englischen und der niederländischen und wechselt zwischen unabhängigen Einzeldarstellungen und dem Vergleich. Methodisch schwierig ist hier, dass die tertia comparationis als Gliederungshilfe dienen, doch die Kapitel sich davon emanzipieren. Die Kapitelabschlüsse sperren sich jeder Lesestrategie, auch wenn sie je für sich wertvoll und nachvollziehbar sind; sie treten als Zusammenfassung (S. 102), als Interpretation und Bewertung (S. 131), als Vergleich (S. 140) auf. So ist die Lektüre empfehlenswert, falls ein schneller Überblick über die Kompanien und den Ostasienhandel erforderlich ist, etwa zur Einführung in eine Lehrreihe oder zur Ergänzung von größeren Seminarthemen. Gleichfalls sind einige Kapitel aufgrund der mageren Quellen oder fremdsprachigen Literatur unabkömmlich – etwa zur schwedischen oder dänischen Kompanie. Für die intensive, problemorientierte Arbeit müssen jedoch mindestens die englischen Spezialstudien herangezogen werden – die mithilfe des kommentierten Literaturverzeichnisses und der Anmerkungen nun leichter gefunden werden können.

Leser jenseits des universitären Geschichtsstudiums werden vermutlich dank der Schlagworte „Globalisierung“ und „Abenteuer“, „Asien/Indien“ zu diesem Werk gefunden haben. Es ist allerdings fraglich, ob die Kompanien tatsächlich als Wegbereiter der Globalisierung zu bewerten sind. Hier wie auch in anderen Zusammenhängen verwendet Nagel die Moderne als Maßstab, an dem er den „Weg“, die Qualitäten „Innovation“ oder „Verspätung“ (Kapitel VI) ausrichtet. Diese Haltung wird sicherlich bei vielen allgemein interessierten Lesern auf Identifikation oder Einbindungsmöglichkeiten treffen, doch führt sie nicht zum Wissenszuwachs. Selbstverständlich müssen wir uns für die Untersuchung von vermeintlichen Randgebieten rechtfertigen, doch gehen damit auch Aspekte verloren. Die Kompanien werden nicht in ihrer eigenen Zeit betrachtet. Ihre Qualität liegt nicht allein darin, Wegbereiter für etwas Folgendes zu sein. Die Kompanien und die Strukturen vormodernen Überseehandels, dies zeigt Nagel und benennt es doch nicht, sind bereits Praktiken globalen Handelns. Die politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen und Konvergenzen dieser Praktiken in Ostasien und in Europa weisen gleichfalls auf Strukturmerkmale hin, die ihren Wert in ihrer Zeit haben. Hierin läge auch der eigentliche Gewinn einer Verwendung des Konzepts „Globalisierung“ – indem es historisiert und damit hinterfragt würde.

Gleiches gilt für die moderne Vorstellung der vormodernen Gesellschaftsmodelle: Offenbar war eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Menschen in den Überseehandel involviert. Damit lebten diese Menschen in einer Realität, die grenz-, sprach- und gruppenüberschreitend war, mobil sein musste, in unterschiedliche Rechtssysteme eingebunden war oder diese gar neu schuf, definiert durch Handelsinteressen. Die soziale Realität der Kompanien, so wie Nagel sie beschreibt, zeichnet ein Gegenmodell zum dynastischen, ständischen Europa des „Absolutismus“. Nagel zeigt, dass Formen von „Modernität“ – das kapitalistische Europa, neue Aufstiegskanäle, Professionalisierungen, Bürgerlichkeit – die alten Instanzen nicht ausschlossen, sondern für sich zu funktionalisieren wussten.

Auch die Qualität des „Abenteuers“ schrumpft bis auf wenige Bezüge (etwa S. 56) auf eine Reminiszenz an exotische oder waghalsige Expeditionen zusammen. Dabei beschreibt Nagel das Abenteuer des Fernhandels mittelbar: die Herausforderungen der Seefahrt, die Organisation des Handels, die Veränderungen in den Nationalwirtschaften bzw. im Verhältnis zwischen Kaufmannschaft und Staat, die Schwierigkeiten in der Zusammenstellung und Führung internationaler Teams, das Eindringen in einen bereits bestehenden Handelsraum – und dennoch die Übernahme der Hegemonialposition, die aus dem Fernhandel nach und nach ein Kolonialsystem entstehen ließ. Die Dimensionen des frühneuzeitlichen Fernhandels waren nicht nur für den englischen Schiffsjungen ein Abenteuer; sie bieten in ihren Bezügen und in der Freilegung ihrer Möglichkeitsbedingungen eine intellektuelle Herausforderung, die die heute selbstverständliche Notwendigkeit der wirtschaftlichen Weltordnung relativiert. Dieser frohe Skeptizismus an aktuellen Deutungsmodellen und Rechtfertigungen historischer Forschung bleibt dem enzyklopädischen Leser jedoch versagt.

Diese Überblicksdarstellung ist nicht forschungsorientiert und will es auch nicht sein. Hin und wieder finden sich jedoch auch im Text Verweise auf aktuelle Studien, theoretische Modelle oder Forschungsdiskurse, etwa zu kommunikativen Problemen (S. 32). Für sämtliche Lesergruppen wären gerade bei einem Gegenstandsbereich, der auch „den Anderen“ umfasst, methodisch-theoretische Hinweise wünschenswert. Wie werden die Gegenstände in der Forschung überhaupt konstruiert? Welche Disziplinen sind wie an der Erforschung des Gegenstandsbereichs beteiligt? Wie ist das Verhältnis zwischen Fremd- und Selbstsichten im Aufeinandertreffen von Europäern einerseits und Afrikanern sowie Asiaten andererseits? Den konstitutiven Charakter von Oktrois einmal vorausgesetzt – wie funktionierte anschließend die Kommunikation innerhalb der Kompanien, zwischen Kompanien und externen europäischen sowie nichteuropäischen Akteuren? Was war lingua franca des Fernhandels – und wenn dies Englisch oder Niederländisch waren, dann folgt daraus, dass Europa in der Frühen Neuzeit eben nicht nur das Lateinische und das Französische im internationalen Verkehr verwendete. Die Sprachgewohnheiten internationaler Prozesse der Frühmoderne auf Latein und Französisch zu reduzieren zeugte dann eher von einer anhaltenden Hegemonie politischer und geistesgeschichtlicher Deutungen als von einer präzisen Beschreibung frühneuzeitlicher Kommunikationsmöglichkeiten.

Gleichgültig, welche Lesehaltung bestimmend ist – das Buch weist grundsätzliche Probleme und Stärken auf. Auch wenn eine Überblicksdarstellung nicht zwangsläufig quellengestützt sein muss und es hier auch aufgrund der bisweilen schwachen Grundlage (S. 19) nicht immer sein kann, so wären Hinweise auf Quellen (etwa in Form eines Verzeichnisses oder Katalogs) dringend erwünscht. Dies ist insofern ein gravierender Mangel, als der Autor die Türen zur weiteren Forschung nicht aufzeigt. Nagel verwendet, wenn überhaupt, ausschließlich gedruckte Quellen (etwa S. 29); dass aber selbst Marco Polo nach Schmitt zitiert wird, ist allenfalls in Seminararbeiten akzeptabel (S. 35). Gleichfalls bedenklich ist die Vernachlässigung von Belegen: Ganze Abschnitte kommen ohne eine einzige Endnote aus (z. B. zur Ostender Kompanie, S. 136-138), die wichtigen und für eigene Arbeiten sehnlich gesuchten Zahlen entbehren bisweilen des Nachweises (S. 52, 56) oder Nagel behilft sich mit vagen Formulierungen und Vermutungen (S. 56) – wobei er hier nicht verschleiert, sondern auf die Notwendigkeit zur kreativen Vervollständigung wiederholt hinweist.

Kommentierte Auswahlbibliographien sind inzwischen selten anzutreffen. Nagel gestaltete seine mit viel Lektüreerfahrung und berücksichtigte ein breites Spektrum. Der Ausschluss von Aufsätzen aus der Auswahlbibliographie mit dem Verweis auf die Anmerkungen ist nachvollziehbar pragmatisch, begrenzt jedoch die Servicefunktion. Ähnlich ambivalent ist das Sachregister zu werten – willkommen zur Orientierung im Buch, doch die Zielgruppe Nichtfachleute zöge eventuell ein Glossar vor.

„Abenteuer Fernhandel“ eignet sich als Einstieg und erster Überblick für einen Gegenstandsbereich, der in den kommenden Jahren sicherlich auch in der deutschsprachigen Forschung an Bedeutung gewinnen wird. Insbesondere bei der gezielten Auswahl fremdsprachiger Literatur wird die Darstellung hilfreich sein. Dennoch kommt der Leser ohne ein offenes Auge für die Schwächen nicht aus.

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