Cover
Titel
Free Trade Nation. Commerce, Consumption, and Civil Society in Modern Britain


Autor(en)
Trentmann, Frank
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
$ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Engel, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Georg-August-Universität

„Free Trade Nation“ thematisiert die Geschichte des Freihandels in Großbritannien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise. Der Band gehört jedoch nicht auf die turmhohen Stapel dogmen- und politikhistorischer Literatur zum Wirtschaftsliberalismus. Frank Trentmann nimmt weder in wissenschaftsgeschichtlicher Manier ökonomische Theoretiker in den Blick, noch fokussiert er vorrangig auf jene Staatsmänner, die beginnend mit der Aufhebung der Corn Laws 1846 einen freihändlerischen Ordnungsrahmen schufen. Vielmehr ist seine politökonomische Ideengeschichte in doppelter Hinsicht als Konsumgeschichte konzipiert:

Sein Augenmerk gilt der Rezeption, Adaption und Proklamation des Freihandelskonzepts in der britischen Öffentlichkeit, also gleichsam den ‚Endverbrauchern’ der Idee. Zugleich postuliert Trentmann, dass in der britischen Auseinandersetzung um den Freihandel die politische Öffentlichkeit erstmals als eine Gesamtheit von Konsumenten begriffen wurde, nicht länger nur als eine Gesamtheit von Erwerbstätigen. Die Debatte sei also weniger entlang der divergierenden Interessenlagen von Bauern, Handwerkern, Arbeitern, Industriellen, Kaufleuten oder Bankiers geführt worden, sondern vorrangig mit Blick auf die britischen Verbraucher, vor allem auch der (Haushalt führenden) Frauen. Im Freihandelsdiskurs direkt greifbar, so Trentmann, gehen der Aufstieg der Massenkonsumgesellschaft und der Massendemokratie Hand in Hand und bringen dabei gemeinsam moderne ‚citizen-consumers’ hervor.

Letztere befürworteten vor 1914 mehrheitlich das Freihandelsprinzip, allerdings nicht um in Befolgung des Ricardoschen Arguments vom komparativen Kostenvorteils ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Ganz im Gegenteil wurde das Freihandelsprinzip selbst in jenen Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg verfochten, in denen die Macht Großbritanniens stagnierte und sich die übrige Staatenwelt dem Protektionismus zuwandte. Von größerem Nutzen für das Vereinigte Königreich wäre in diesem Umfeld zweifellos eine Abkehr vom Freihandelsprinzip gewesen. Eben diese scheinbare Inkonsistenz ist es, die Trentmann mit einer Untersuchung der politischen Kultur Großbritanniens aufzulösen bestrebt ist.

Der Schlüssel zu einem Verständnis der Freihandelsbewegung liegt ihm zufolge in der symbolischen Aufladung des Freihandelskonzepts, welches für die Auflösung feudaler und handelskapitalistischer Privilegien zugunsten der von sinkenden Preisen profitierenden Konsumenten stand und somit eine zutiefst modernisierende, demokratische und gerechte Botschaft in sich trug. Britisches Sendungsbewusstsein begriff eine internationale Ausbreitung des Freihandelsprinzips zudem als Beitrag zum Frieden der Staatengemeinschaft, indem man sich von allgemein größeren Außenhandelsabhängigkeiten einen stärkeren Zwang zur Konfliktvermeidung erhoffte. In derselben Weise, so Trentmanns treffende Pointierung, in der die heutige kritische Öffentlichkeit westlicher Länder im „Fair Trade“ ein ethisches Gestaltungsprinzip globalen wirtschaftlichen Austauschs erblickt, sah die spätviktorianische und edwardianische Öffentlichkeit eben dies im Prinzip des „Free Trade“.

Den Ansatz von „Free Trade Nation“ ebenso wie die hier dargelegte Hauptthese entwickelt Trentmann bereits in der 23seitigen Einleitung. Der Hauptteil des Buches dient im Wesentlichen der Detaillierung und Illustrierung der Grundidee. Er besteht aus zwei (in etwa chronologisch am Ersten Weltkrieg geschiedenen) Blöcken – „Building a Free Trade Nation“ und „Unravelling“. Dies evoziert allerdings ein etwas schlichtes Bild von Aufstieg und Niedergang der Freihandelsidee und betont die Zäsur des Weltkriegs stärker, als es die offenen Auseinandersetzungen vor und nach dem Krieg geraten erscheinen lassen.

Das erste Kapitel, „Free Trade Stories“, greift typische Narrative der Debatte um 1900 auf. Die freihändlerische Seite konstruierte eine ins katastrophenhafte übersteigerte Erinnerung an die „Hungry Forties“ (vor Aufhebung der Corn Laws), während die Protektionisten eher mit Zukunftsbildern arbeiteten, etwa auf Plakaten die angestrebte „Tarif Reform“ als Automobil der ‚Freihandelskutsche’ Baujahr 1846 entgegensetzten. Weiterhin demonstriert Trentmann im Detail, wie Freihandel als Agenda einer sozialen Bewegung marginalisierter Akteure aufgegriffen wurde, die nach größerer Anerkennung in der politischen Kultur strebten und letztendlich als „citizen-consumers“ auch erhielten.

„Bread and Circuses“ ist eine überraschend exakte Inhaltsangabe des zweiten Kapitels. Vor allem im Hinblick auf die Wahlen des Jahres 1910 expandierten die von beiden Seiten betriebenen Kampagnen quantitativ und qualitativ, brachten zu Demonstrationszwecken eingerichtete protektionistische „Dump Shops“ und konkurrierende „Free Trade Shops“ hervor und überzogen im Wahlkampf schließlich sogar die britischen Seebäder mit einer Welle von Veranstaltungen. Zentrale Ikone der Auseinandersetzung wurde der Weißbrotlaib. Zölle auf Getreideimporte hätte die für einen fixen Geldbetrag backbare Brotgröße unweigerlich verringert, auch wenn die Veränderung minimal gewesen wäre. Doch den Freihändlern gelang es, eine wirkungsvolle Ikonografie sehr unterschiedlicher Brotlaibe zu etablieren.

Mit „Uneasy Globalizers“ nimmt Trentmann die internationale Dimension in den Blick. Konfliktlinien und schrumpfende Gestaltungsmöglichkeiten werden vor allem an zwei Beispielen verdeutlicht. Das erste ist die unverschuldete Verwicklung Großbritanniens in einen kanadisch-deutschen Handelskrieg. Zweitens wird die Auseinandersetzung um die internationale Konkurrenz kolonialen Rohrzuckers gegen subventionierten europäischen Rübenzucker analysiert. Chamberlains aus den außenpolitischen Problemen erwachsende Pläne einer Abkehr vom Freihandel polarisierte die Öffentlichkeit allerdings so sehr, dass eine revitalisierte Freihandelsbewegung noch einmal die Oberhand gewann.

In „Consumers Divided“ zeigt Trentmann dann aber den schwindenden Rückhalt für das Freihandelsprojekt unter den britischen Konsumenten auf. Greifbar wird dies besonders in den durch den Ersten Weltkrieg nötigen Eingriffen in die Lebensmittelversorgung. In der Frage, ob man nach 1918 die Vorkriegssituation wiederherstellen konnte bzw. sollte, war die Wählerschaft gespalten. Eine gesicherte Versorgung gewann Priorität über möglichst niedrige Preise. Konsumentenschutz wurde zudem auf Forderungen nach gesunden Lebensmitteln erweitert, was sich gerade auch gegen die vorherige Ikone des Freihandels, den Weißbrotlaib richtete. Die konservative Bewegung, „home grown food“ (einschließlich Agrarprodukten des Empires) zu bevorzugen, gewann an Gewicht.

„Visible Hands“ zeichnet das Ringen um eine Wirtschaftsordnung im und vor allem nach dem Weltkrieg nach. Trentmann greift dabei die internationale Perspektive wieder auf, indem Fragen der Wirtschaftsordnung und der politischen Weltordnung verknüpft werden. Umgang mit und Abgrenzung zum Kriegsgegner Deutschland und das ‚extremkollektivistische’ Experiment Sowjetunion bildeten neue Folien in der Diskussion, die in diesem Abschnitt vor allem über die intellektuellen Beiträge zu Vorteilen und Nachteilen einer stärkeren Koordination der Wirtschaft beleuchtet wird.

„Losing Interest“ führt veränderte Interessenslagen der Geschäftswelt, den Aufstieg der Labour Party und ihre Abwendung von der Freihandelsagenda sowie den gleichzeitigen Niedergang des Laissez-faire-Ansatzes der Liberalen Partei vor. Die wachsende Komplexität des wirtschaftlichen Geschehens und der Wähler- bzw. Konsumenteninteressen ließen vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen die „Free Trade“-Agenda immer mehr zu einem simplizistischen Schlagwort werden. Das demokratische Projekt des „Free Trade“ schrumpfte zu einer nur noch in liberalen Kreisen und von Ökonomen verfochtenen Außenhandelstheorie des „free trade“ – Trentmann nutzt explizit die Groß- und Kleinschreibung, um diese Verschiebung zu verdeutlichen. Entsprechend knapp kann das siebte Kapitel „Final Days“ ausfallen, welches die Einführung des „General Tarif“ im Kontext der Weltwirtschaftskrise als Schlusspunkt der im Buch skizzierten Entwicklung rekonstruiert: „When it was done, it was done quickly“ (S. 331).

In einem Epilog fasst Trentmann die wichtigsten Aussagen zusammen und bemüht sich zudem, an die aktuelle Globalisierungsdiskussion anzuschließen. Dies vermittelt anregende Einsichten, selbst wenn seine Argumente nicht jeden zur Gänze überzeugen werden. Der liberalen Ökonomie hält er entgegen, dass die Orientierung am methodologischen Individualismus und der Nutzenmaximierung als vermeintlicher Hauptdimension menschlichen Handels in die Irre führt, wenn es um eine demokratisch geleitete Gestaltung von Wirtschaftsordnungen geht. Dies blendet nämlich aus, dass sich Akteure von wandelbaren, in der politischen Kultur generierten Überzeugungen leiten lassen. Attac und der kritischen Öffentlichkeit wiederum nimmt Trentmann die Illusion, dass Globalisierung immer ein Projekt der kapitalistischen Elite gewesen sei. Die Liberalisierung des Handels zu Beginn der Moderne ging im Gegenteil gerade von einer progressiven Öffentlichkeit aus, die überkommene Privilegien und die Bereicherung einzelner ökonomischer Akteure auf Kosten der Verbraucher ins Visier nahm. Entsprechend widerspricht Trentmann auch der Konzeption Polanyis und Thompsons, die Herausbildung der modernen Marktgesellschaft habe zur Unterminierung ‚moralischer’ Gesellschaftsstrukturen beigetragen – ganz im Gegenteil sei es gerade das artikulierte Konsumenteninteresse an freien Märkten gewesen, welches der Massendemokratie und der modernen Staatsbürgergesellschaft in Großbritannien zum Durchbruch verholfen habe. Über diese wohl fundierte Gegenthese wird sich trefflich streiten lassen.

Wer sich tiefer in das Thema einlesen möchte, findet im Band statt eines Literaturverzeichnisses einen ausführlich kommentierenden „Guide to further reading“ vor. Mit der in sich geschlossenen Einleitung – welche die Untersuchung nicht ergebnisoffen wirken lässt – und dem gegenwartsbezogenen Schluss präsentiert sich „Free Trade Nation“ ohnehin nicht als typisches geschichtswissenschaftliches Werk, es liest sich mehr wie eine Folge quellenfundierter Essays. Die Auswahl der Fallbeispiele erfolgt allerdings assoziativ und wird nicht transparent hergeleitet – so bleibt unklar, ob es vielleicht andere Problemfelder gibt, deren Analyse die große Argumentationslinie stellenweise konterkariert hätte. Trotz dieses Unwohlseins überzeugt Trentmanns Ansatz. Er vermittelt in der Dichte seiner geschichtlichen Rekonstruktion ein lebendiges Bild einer weitgehend unbekannten politischen Massenkultur des Freihandels vom Ende des Viktorianischen Zeitalters bis in die Weltwirtschaftskrise. Gerade auch aufgrund seiner klugen Bezüge zur gegenwärtigen Debatte sei der Band nicht nur Historikerinnen und Historikern, sondern jedem wirtschaftspolitisch Interessierten ans Herz gelegt.

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