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Titel
Theorie der Massenkultur.


Autor(en)
Makropoulos, Michael
Erschienen
München 2008: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Ludwig Hofmann, Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur

Massenkultur! Bereits mit der Verwendung des Wortes „Masse“ im Titel seines Buches setzt Michael Makropoulos ein erstes theoretisches Statement. Seit den Schriften von José Ortega y Gasset und Gustave Le Bon ist dieser Terminus im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch tendenziell negativ besetzt.1 Gemeinhin wird in deutschsprachigen Forschungskontexten deshalb seit den 1970er-Jahren von Populärkultur – oder kurz Pop-Kultur – gesprochen. Warum also jetzt diese Wortwahl? Diese Frage hat deshalb große Bedeutung, weil Makropoulos zu jenen Theoretikern zu zählen ist, die Worte mit Bedacht wählen. Der Berliner Sozialwissenschaftler ist ein Meister der ebenso knappen wie präzisen Sprache, was sich nicht zuletzt an den Umfängen seiner Veröffentlichungen ablesen lässt. Selten hat eines seiner Bücher mehr als 180 Seiten, das vorliegende Buch kommt sogar mit knapp 170 Seiten aus. Und dennoch gelingt es dem Autor, darin einen kulturwissenschaftlichen Bogen zu spannen, der mehr als hundert Jahre Theoriegeschichte umfasst.

Warum also „Massenkultur“? Der Autor selbst gibt gleich im ersten Satz eine Antwort: „Noch in seinen despektierlichsten Verwendungen hat der Begriff ‚Massenkultur’ einen Bedeutungsüberschuss, der mehr signalisiert als die ideelle Summe der industrialisierten Freizeit-, Konsum- und Medienwelten, die zur hegemonialen kulturellen Wirklichkeit in den modernen Gesellschaften geworden sind.“ (S. 7) Woraus dieser Bedeutungsüberschuss besteht, versucht Makropoulos anhand eines Rundgangs durch das 20. Jahrhundert herauszuarbeiten. Als Ariadnefaden dient ihm dabei das Kontingenztheorem, das ihm den Weg durch dieses zeithistorische und theoriegeschichtliche Labyrinth weist.

Kontingent ist, was auch anders möglich ist. So lässt sich das Phänomen der Kontingenz auf die wahrscheinlich kürzeste Art und Weise beschreiben. Makropoulos geht tiefer und stellt fest, dass es sich bei Kontingenz um „jene spezifische Unbestimmtheit [handle], in der etwas weder notwendig noch unmöglich ist und sich darin als wirkliche Alternative manifestiert“ (S. 33). In dieser Definition schwingen die Aspekte der Unsicherheit und der Chance mit, die für ein Verständnis der Moderne bekanntlich konstitutiv sind. Überhaupt steht Makropoulos` Konzeption der Massenkultur im Kontext einer Theorie der Moderne. In diesem Sinne kann seine Studie als Endpunkt einer Trilogie gelesen werden, die Makropoulos 1989 mit seiner Dissertation über Walter Benjamins Theorie der Moderne eröffnet und 1997 mit seiner Habilitationsschrift „Modernität und Kontingenz“ weiter geführt hat. 2 Den Vexierpunkt seiner Trilogie bildet die so genannte Klassische Moderne der 1920er-Jahre, jene Epoche zwischen den Gewitterstürzen der Weltkriege, in denen die Kontingenzkultur laut Makropoulos ihre paradigmatische Form erhalten hat.

Sozialgeschichtlich manifestiere sich der Umgang mit Kontingenz, die „Kontingenzverarbeitung“, wie Michael Makropoulos das nennt, auf ganz verschiedenen Feldern: politisch durch staatliche Wohlfahrtsangebote und die Herausbildung des modernen Versicherungswesens, soziologisch durch Praktiken der Sozialdisziplinierung (von Gerhard Oestreich bis zu Michel Foucault) und raumästhetisch durch die Paradigmen des „Neuen Bauens“, die sich insbesondere im Funktionalismus der modernen Architektur äußern. Kenntnisreich führt Makropoulos durch das Dickicht avantgardistischer Bewegungen, die schließlich in einer Kultivierung der Oberfläche kulminieren: „[Die] glatten Fassaden des neuen Bauens, die schillernden Reklamewelten der Warenästhetik, die neuen Wirklichkeiten der Massenmedien, vor allem des Films, und nicht zuletzt die aus der ästhetischen Abstraktion abgeleiteten Ausdrucksformen der visuellen Kommunikation [schmelzen] zu einer neuen Erfahrungswelt zusammen.“ (S. 82f.)

Damit wird deutlich, dass der von Makropoulos zur Diskussion gestellte Begriff der „Massenkultur“ auf einer grundlegenden Bedeutungsverschiebung basiert: Unter „Masse“ versteht er nicht mehr die verdichtete Menge auf den Straßen und Plätzen der modernen Großstädte, wie José Ortega y Gasset das Phänomen ebenso dramatisch wie suggestiv gezeichnet hat. Makropoulos möchte „Masse“ als soziologische Kategorie revitalisieren, indem er sie als Kategorie der Mediengesellschaft positioniert. „Massenkultur – so lautet also die eigentliche Hypothese – macht die artifiziellen Wirklichkeiten, die aus Technisierungsprozessen hervorgegangen sind, unbeschadet ihrer Künstlichkeit zur modernen Lebenswelt im strikten Sinne, nämlich zum alltäglichen Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten.“ (S. 84) Unter diesen Vorzeichen wird Kontingenz zunehmend entdramatisiert, sie wird zum Möglichkeitskosmos, zu einem wachsenden Raum von Chancen und Gelegenheiten, die sich immer wieder erneuern. „Change. We can believe in!“

Soziologischer Träger dieser positiven Bedeutungsverschiebung ist laut Makropoulos die Mittelschicht. Ihr rasantes Wachstum in Mitteleuropa und den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffte erst die empirische Basis, auf deren Grundlage sich diese Verschiebung vollziehen konnte. Unter dem Vorzeichen stetig wachsender Volkswirtschaften werde Kontingenz primär als Bündel von Chancen wahrgenommen. Und an dieser Stelle wandelt sich Michael Makropoulos’ mit großem Gewinn zu lesendes Buch von der sozialwissenschaftlichen Analyse zum Plädoyer für den politischen und ökonomischen Liberalismus. Mehr noch: Der Wirtschaftsliberalismus erscheint als die einzig adäquate ökonomische Form moderner Gesellschaften: „Seine ontologische Voraussetzung ist die massenkulturelle Positivierung der Kontingenz. Seine soziologische Basis ist die Mittelschicht. Und sein formgebendes Medium ist die kommunikative Normalisierung.“ (S. 155) Ob diese positive Bedeutungsverschiebung allerdings auch in Zeiten umfassender rezessiver Krisen Bestand hat, muss sich erst noch erweisen. Makropoulos selbst ist erfahren genug, um auf die historische Gebundenheit seiner Analyse zu verweisen.

Anmerkungen:
1 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, München 2007 (Originalsausgabe: La rebelión de las masas, Madrid 1929); Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Stuttgart 2008 (Originalausgabe: Psychologie des foules, Paris 1895).
2 Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989; Ders., Modernität und Kontingenz, München 1997.

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