V. Kivelson u.a. (Hrsg.): Picturing Russia

Cover
Titel
Picturing Russia. Explorations in Visual Culture


Herausgeber
Kivelson, Valerie A.; Neuberger, Joan
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 284 S.
Preis
€ 35,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Dies ist ein von vielen lang erwartetes Buch, eines, das mehr oder weniger alles in sich vereint, was in der amerikanischen Forschung zur russischen und sowjetischen Geschichte Rang und Namen hat, und ein ausgesprochen schönes Werk dazu: unterhaltsam geschrieben, aufwändig illustriert und ehrgeizig in seinen Zielen. In 49 (!) Beiträgen setzen sich Historiker und Historikerinnen mit Bildern, materiellen Objekten, Photographien und Filmen auseinander. Herausgekommen ist dabei ein Kaleidoskop, das die verschiedensten Aspekte der russischen/russländischen und sowjetischen Geschichte spiegelt, vor allem aber auch die Vielseitigkeit und Problematik des Themas „Visual Culture“ für Historiker deutlich macht.

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeberinnen ein ehrgeiziges und optimistisches Programm auf. Visuelle Kultur soll in ihrer Gesamtheit erforscht werden. Es geht also nicht nur um Bilder und deren Interpretation, sondern um eine umfangreichere Geschichte des Sehens. Wie betrachteten Menschen in der Vergangenheit ihre Welt, von welchen Bildern und visuellen Eindrücken waren sie umgeben, was wollten Bilder aussagen? Das theoretisch angehauchte – aber diesbezüglich angenehm schlank gehaltene – Schlagwort lautet „seeing as an embedded social practice“ (S. 2). Die hier entwickelte These von einer russischen visuellen Kultur wird unter dem Begriff „seeing into being“ (S. 6) gefasst. Sehen, so die Herausgeberinnen, schafft eine eigene Realität. Diese zu beschreiben und womöglich zu erklären ist ein erklärtes Ziel des Buches. Das andere ist es, Bilder stärker als Quellen für Historiker zu erschließen und sie über ihren Status als bloße Illustration herauszuheben.

Die Formulierung vom „seeing as an embedded social practice“ ist so weit gefasst, dass die verschiedensten methodischen Ansätze sich darunter wiederfinden können. So lange nur ein optisch erfassbares Objekt eine Rolle spielt, kann das „Sehen in der russischen Geschichte“ beschrieben werden. Und tatsächlich gelingt es vielen Autoren, dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Welt der Vergangenheit aussah. Seien es Beschreibungen der Architektur und städtischen Struktur St. Petersburgs im frühen 19. Jahrhundert, die man wohl genauso gut unter dem Stichwort „spatial“ hätte fassen können (Richard Stites), von Ikonen mit sowohl religiösen als auch politischen Bedeutungen (Gary Marker und Daniel Rowland), Kleidung und Frisuren (David Ransel, Christine Ruane, Louise McReynolds, Mark Steinberg), die Repräsentation des „Empire“ in Denkmalen und Alltagsgegenständen (Willard Sunderland), Darstellungen der berühmten „lubki“ (Richard Wortman) oder auch der Moskauer Metro (Mike O'Mahony): In kurzen, essayhaften Texten bekommt der Leser tatsächlich ein „Bild“ der Geschichte vermittelt. Das ist unterhaltsam und interessant.

Doch bleibt die Frage, was es uns Neues bringt, wie sehr unser Bild von der russischen Geschichte sich nicht nur „visualisiert“ und materialisiert, sondern auch verändert. An wissenschaftlich neuen Thesen ist das Buch leider eher arm. Dass, wie Simon Franklin in seinem dramatisch geschriebenen Kapitel am Ende konstatiert, die zahlreichen Wachsflecken in einem alten Bibelmanuskript darauf hinweisen, dass der Kalenderteil häufiger benutzt wurde als andere Textteile, ist so überraschend dann doch nicht. Ähnlich die Beschreibung von Rubelnoten des frühen 20. Jahrhunderts (James Cracraft): Das Porträt Peters des Großen auf den Geldscheinen soll ein Image des russischen Reiches vermitteln, das für Macht und Aufklärung steht.

Der Großteil der Texte ist keineswegs so banal. Doch fragt der Leser sich bei einigen Beiträgen, ob der von Kivelson und Neuberger formulierte Ehrgeiz, aus den visuellen Quellen etwas herauszulesen, was in herkömmlichem Material verborgen bleibt, tatsächlich erfüllt wird – und letztlich sogar, ob er überhaupt erfüllt werden kann. Mark Steinberg schreibt in seinem Essay zu Photographien von „Workers in Suits“ bezeichnenderweise häufig: „their photographs remind us“ (S. 128, S. 130), und Robert Weinberg beginnt seinen Essay gleich mit der Ankündigung, die sowjetischen Darstellungen von Juden stützten unsere bisherigen Kenntnisse zu diesem Thema (S. 152). Wir sehen in den Bildern offenbar häufig nur das, was wir ohnehin schon wissen (oder zu wissen glauben). Einige Autoren vermeiden dieses Dilemma und nehmen ein Bild oder einen Gegenstand einfach nur zum Anlass ihrer Beschreibungen: so Kollmann, Smith und Northrop in ihren lesenswerten, in Bezug auf Methoden und Quellen jedoch vollkommen klassischen Beiträgen.

Andere Autoren nutzen die Gelegenheit, ihre Thesen aus umfangreicheren Publikationen auszuführen und zu stützen mit einer dichten, und häufig hochinteressanten, Beschreibung bildlicher Quellen. Dazu zählen Valerie Kivelsons Überlegungen zu Landkarten aus Gerichtsprozessen, Ernest Zitsers brillante Analyse des Kupferstiches von Peters des Großen Hochzeit sowie Gary Markers Beschreibung der Katharinenabbildung von 1721 oder auch Donald Ostrowskis Argumente zu mongolischen Traditionen in der moskovitischen Gesellschaft. Diese Texte vertreten eigene, originelle Thesen und, was für dieses Buch von besonderer Bedeutung ist, sie lehren uns tatsächlich zu sehen. Ebenso wichtig ist allerdings, dass die entscheidenden Thesen nicht aus der reinen Bildanalyse erwachsen sind, sondern stets in einem dichten Kontext und vor dem Hintergrund aussagekräftiger Textquellen stehen. Diese Tatsache wird im gesamten Konzept des Buches sowie in den Selbstdarstellungen der einzelnen Beiträge leider etwas vernachlässigt, um nicht zu sagen geleugnet. Als Einzige spricht Francine Hirsch diese Schwierigkeit an, wenn sie ihre Quelle problematisiert. Während andere Autoren allzu gern beteuern, ein Bild sage mehr als tausend Worte, macht Hirsch deutlich, wie wenig ihr die an nationalsozialistische Darstellungen erinnernden Fotos „nationaler Typen“ aus den 1920er-Jahren eigentlich zu sagen haben, wenn sie ohne – textuellen – Kontext betrachtet werden.

Es gibt noch eine weitere Gruppe von Essays, die uns in diesem Buch „sehen lehren“ und das Thema der Bildsprache wirklich ernst nehmen: Analysen von Gemälden (Christopher Ely), Photographien (Catherine Evtuhov) und Filmen (Joan Neuberger und Lilya Kaganovsky). Hier sind es eindeutig die Kunst- und die Filmwissenschaften, aus deren Methodenfundus die Autoren schöpfen konnten. Insbesondere Ely gelingt es, diese benachbarten Methoden für Fragen – und interessante Ergebnisse – der Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen. Seine Beschreibung eines Wassiljew-Gemäldes stellt auf überzeugende Weise die Annahme eines orientalistischen Machtanspruches Russlands über seine Kolonien in Frage. Die Beiträge von David Ransel, Richard Wortman, Mark Steinberg und Catherine Evtuhov sprechen auf faszinierende Art und Weise das Problem an, wie verschiedene soziale Gruppen sich bildlich darstellten und von anderen Schichten abzugrenzen versuchten, aber auch, wie unterschiedlich Bilder gesehen wurden – je nach Bildungsgrad und vorgegebenen Assoziationen.

Die unterschiedlichen Sehweisen, Vielschichtigkeiten und Widersprüchlichkeiten von Bildern sind ein Thema, das in zahlreichen Beiträgen auftaucht. Wenn dies, wie bei Wortman, Rückschlüsse auf die sozial determinierten Wahrnehmungen von Gesellschaft, Macht und Imperium zulässt, ist es höchst lesenswert. In Laura Engelsteins Beitrag dagegen bleibt die methodische Frage leider vollkommen offen: Wenn Slawophile ebenso wie Westler Andrejewitschs Gemälde „Die Erscheinung Christi“ lobten und jeweils im Sinne ihrer eigenen, gegensätzlichen Ideologien interpretierten, weist dies auf eine vollkommene Willkürlichkeit der Bildsprache hin, oder welche anderen Schlüsse sind zu ziehen?

Insgesamt halten sich Begeisterung und Enttäuschung die Waage. So begrüßenswert es ist, die „visuelle Kultur“ Russlands zum Gegenstand zu machen, so widersprüchlich sind doch die hier vorliegenden Ergebnisse. Die Texte überschlagen sich teilweise vor Enthusiasmus für den proklamierten visual turn, doch bei näherem Hinsehen beantworten sie die Frage, ob Bilder als Quellen für Historiker taugen, keineswegs eindeutig affirmativ. Die zuweilen hervorscheinende Absicht, Bildquellen mehr oder weniger kontextlos zu „lesen“ und dabei zu überraschenden Resultaten zu gelangen, ist wohl zum Scheitern verurteilt. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich sind auch Textquellen, wie uns jedes Proseminar lehrt, kontextgebunden, ihr Verständnis auf die Einordnung in einen größeren Rahmen angewiesen. Hinzu kommt die auffallende Kürze der Texte: nur den wenigsten Autoren ist es gelungen, auf den zur Verfügung stehenden Seiten Quelle und Kontext angemessen zu berücksichtigen und auch, wie es in einem solchen Band mit Pioniergeist angebracht gewesen wäre, Methode und Theorie zu diskutieren. So angenehm es ist, dass Quelle und Argument nicht in einer Flut von theoretischen Ausführungen untergehen, so irritierend ist doch die fast vollständige Absenz von Fußnoten und Literaturnachweisen.

Insgesamt also sicher ein gut zu lesendes und anregendes Buch. Wer es als Kaleidoskop betrachtet, wird nicht enttäuscht sein, Studenten und auch Laien werden einen inspirierenden Einstieg in die verschiedensten Themen finden. Wer sich allerdings neue Thesen und fundierte Überlegungen zum Verhältnis von Historikern zur visuellen Dimension verspricht, muss sich auf die Lektüre der Einleitung und einiger weniger Kapitel des Bandes beschränken.

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