O. Mosochin: Das Recht zu repressieren

Titel
Das Recht zu repressieren [Prawo na repressi]. Außergerichtliche Vollmachten der Organe der Staatlichen Sicherheit [Wnesudebnyje polnomotschija organow gosudarstwennoi besopasnosti]


Autor(en)
Mosochin, Oleg Borisowitsch
Erschienen
Moskau 2006: Kutschkowo Pole
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aleksei Tepljakow, Nowosibirsk/ Marc Junge, Bochum

Unser Bild von den Opfern des ‚Großen Terrors' in der Sowjetunion 1937-1938 ist von den Moskauer Schauprozessen geprägt. Vervollständigt werden muss dieses Bild durch die so genannten „Massenoperationen“. Dazu gehören erstens die „nationalen Operationen“ gegen in der UdSSR lebende Deutsche, Polen, Letten, Griechen usw.1 und zweitens die Verfolgungen ehemaliger ‚Kulaken’, ‚Krimineller’ und andere antisowjetischer ‚Elemente’ unter dem Befehl Nr. 00447.

Die Massenverfolgungen zeigen, dass das Bild des ‚Großen Terrors’ der Korrektur bedarf. Im Unterschied zu der lange vorherrschenden Auffassung, dass sich der ‚Große Terror’ hauptsächlich gegen Eliten, das heißt Wirtschaftsleiter, Parteiführer, Militärs und Schriftsteller bzw. die Intelligenz überhaupt gerichtet habe, kristallisiert sich seit der Öffnung der Archive heraus, dass einfache Bürger bis hin zu Randgruppen der damaligen Gesellschaft vom ‚Großen Terror’ bei weitem am stärksten betroffen waren.

Auch Oleg Borisowitsch Mosochins Buch „Das Recht zu repressieren“ befasst sich mit den Massenverfolgungen und deren Vorgeschichte, genauer mit dem Organ, dass die Verfolgungen durchgeführt hat, dem Volkskommissariat des Inneren der UdSSR, dem NKWD. Selbst Mitarbeiter der Nachfolgeorganisation des NKWD bzw. des zentralen Geheimdienstarchivs des Föderativen Sicherheitsdienstes der Russländischen Föderation (FSB RF) und Mitglied der russischen „Gesellschaft zur Erforschung des vaterländischen Sonderdienstes“ versucht er eine Ehrenrettung des staatlichen Geheimdienstes seines Landes. Er steht damit in einer Reihe ähnlicher Versuche ehemaliger Stasi-Mitarbeiter in Deutschland und ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter in Bulgarien.

Gemäß dem Titel seines Buches wendet Mosochin sich gegen eine (nachträgliche) Kriminalisierung des Geheimdienstes. Der Dienst habe seine „außergerichtlichen Vollmachten“ von den höchsten gesetzgebenden Organen des Landes übertragen bekommen (S. 20-22). Damit einhergehend reduziert er den Geheimdienst auf ein rein ausführendes Organ. „[…] Nicht eine Entscheidung wurde von den Sicherheitsorganen und der Staatsanwaltschaft selbständig gefällt. Das Politbüro hat streng die Tätigkeit dieser Behörden kontrolliert, indem es periodisch die leitenden Kader durch Parteimitglieder ersetzt hat. […] Alle Fragen der Verfolgungspolitik der staatlichen Organe wurden im Politbüro besprochen, organisiert und durch das Politbüro gebracht.“5 (S. 193-194)

Folgt man weiter der Argumentationslinie Mosochins, hat auch den ‚Großen Terror’ nicht der NKWD, sondern das Politbüro zu verantworten. So führt er nicht ganz zu Unrecht die Schaffung der außergerichtlichen Organe wie der „Sonderberatung“ (osoboje soweschtschanie)2, der „Dwoika“3 und der „Troika“4, in denen der NKWD die dominierende Rolle spielte, auf Gesetze und Regierungsbeschlüsse zurück. Dasselbe gilt für die Kompetenzen und die zahlreichen Befehle, Direktiven und Anweisungen, die die Arbeit dieser Gremien begleitet haben. Für die Zeit des ‚Großen Terrors’ versucht Mosochin den Staatssicherheitsdienst vollkommen vor möglicher Kritik zu schützen. Sowohl der Weg in die massenhaften Verfolgungen als auch der ‚Große Terror’ erscheinen in seiner Darstellung in erster Linie als (überzogene oder legitime?) Reaktion der politischen Führung auf außenpolitische und weltwirtschaftliche Bedrohungen und erst in zweiter Linie als Reflex auf den Kampf um die Macht innerhalb der politischen Eliten. Er argumentiert ebenfalls mit der psychischen Disposition Stalins und dessen Kampf um persönliche Macht (S. 14-15, S. 17).

Schon für das Jahr 1934 konstatiert Mosochin: „Der außenpolitische Druck blockierte die Tendenz zu einer gewissen Abschwächung der Strafpolitik des sowjetischen Staates, die sich zu dieser Zeit [1934] bemerkbar gemacht hatte.“ (S. 14) Kriegsgefahr, Grenzsicherung und die Sicherung der (Rüstungs-) Produktion bedingten seiner Meinung nach auch 1937 und 1938 die Stoßrichtung der Massenverfolgungen (z.B. S. 141, S. 151, S. 155). Als die wichtigste Zielgruppe der Verfolgungen in dieser Periode bezeichnet Mosochin die ehemaligen ideologischen (ideinyje) Gegner Stalins, die über große politische Erfahrung und Einfluss in Partei und Staat verfügt hätten (S. 15). Explizit innenpolitische Faktoren einschließlich des Überwachungs- und Unterdrückungsalltags werden nur am Rande abgehandelt. Die Vorschläge des NKWD zur Bekämpfung von „Missständen“ sowie sein Stil und seine Methoden zu ihrer „Behebung“ finden kaum Beachtung. Auf diese Weise verschwinden sowohl die Eigeninteressen des NKWD als auch die mögliche Mitverantwortung des Staatssicherheitsdienstes ganz aus dem Blickfeld.

Wenn sich innenpolitische Themen dennoch nicht vermeiden lassen, wie bei Befehl Nr. 00447, der sich ja in der Hauptsache gegen die einfache Bevölkerung der Sowjetunion richtete, entschuldigt Mosochin den NKWD damit, dass er von seiner Führungsspitze und der Politik gehetzt, gedrängt, verführt und „gezwungen“ wurde und es nur deshalb zu „Fehlern“ und schließlich „Exzessen“ gekommen sei. Unbeachtet bleibt bei Mosochin, dass der NKWD (und die Miliz) privilegierter, integrierter und prägender Teil sowie Abbild des Systems und seine Mitarbeiter Träger der Ideologie waren. Der Staatssicherheitsdienst hatte gerade 1937-1938 großen Gestaltungsspielraum. Auch die gewichtige Rolle der untersten Ebene des NKWD (und der Miliz), der Rajon- und Stadtabteilungen, die bei Befehl Nr. 00447 die Möglichkeit nutzte, „auffällig“ gewordene Personen fast ohne lästige Kontrolle und langwierige Verfahren loszuwerden, ist nicht der Rede wert.

Mosochin ist grundsätzlich nicht an einer Diskussion interessiert. Den Forschungsstand ignoriert er völlig. Es werden ausschließlich und exklusiv die „objektiven“ Materialien aus dem Moskauer Zentrum (Präsidentenarchiv und Archiv des FSB RF) abgedruckt und paraphrasiert. Die Spezifik der einzelnen „Massenoperationen“ wird dabei wenig beachtet.

Das Buch Mosochins enthält umfangreiche Statistiken, vor allem in Bezug auf die Verfolgungen der 1920er- und 1930er-Jahre. Allerdings sind diese Statistiken in ihrer Mehrzahl seit mehreren Jahren publiziert bzw. auf der Website des FSB RF einsehbar. Dennoch sollte ihre Verwendung durch Mosochin mit Vorsicht behandelt werden. Im Vorwort behaupten A.M. Plechanow, Professor an der Akademie des FSB RF und W.I. Lasarew die von Mosochin aufgeführten Ziffern für die Jahre 1921-1953 seien deshalb besonders wichtig, weil „die so genannten ‚Demokraten’ bewusst den Maßstab der Verfolgungen in der UdSSR in Richtung einer maßlosen Übertreibung entstellen.“ Ganz davon abgesehen, dass sich diese Kritik offensichtlich auf Literatur bezieht, die aus den 1960er-Jahren stammt (Robert Conquest), stellt sich die Frage, ob wiederum den abgedruckten Statistiken zu trauen ist.

Der einzige Verdienst des Buches resultiert aus dem exklusiven Zugang des Autors zu Dokumenten des Zentralen Archivs des FSB RF und des Präsidentenarchivs. Es wird über die weitgehend veröffentlichten Statistiken hinaus aus bisher nicht zugänglichen Dokumenten zitiert, deren reine Existenz auf diese Weise erst bekannt wird. Insgesamt bedenklich ist, dass Mosochins Versuch, den NKWD reinzuwaschen, in Russland keine Debatte unter Historikerinnen und Historikern ausgelöst hat. Auf diese Weise wird die ohnehin starke Tendenz in der russländischen Föderation, Geschichte zu machen und nicht zu schreiben, weiter verstärkt.

Anmerkungen:
1 Es handelt sich dabei um die Verfolgungskampagnen gegen in der Sowjetunion lebende Ausländer aus den kapitalistischen Nachbarstaaten und ethnische Minoritäten, deren Herkunftsland einer dieser Nachbarstaaten war.
2 Bestanden hat die „Sonderberatung“ vom 5. November 1934 bis zum 1. September 1953. Mitglieder waren die Stellvertreter des Volkskommissars des Inneren der UdSSR, Bevollmächtigte aus dem NKWD der UdSSR, der Leiter der Hauptverwaltung der Miliz und der Volkskommissar des Inneren der Republiken, in denen der Fall aufgetreten war. Die Anwesenheit des Staatsanwaltes der UdSSR oder seiner Stellvertreter war ebenfalls bindend.
3 Zweiergremium aus dem Leiter des NKWD und dem Obersten Staatsanwalt der jeweiligen Republik, Region oder des Gebietes. Zielgruppe: Deutsche, Polen, Rumänen, Charbiner, Japaner usw. Hauptbefehle: Nr. 00485, Nr. 00486. Vor der Vollstreckung der Urteile war die Bestätigung durch die so genannte große „Dwoika“ in Moskau erforderlich.
4 Dreiergremium aus dem Leiter des NKWD, dem Obersten Staatsanwalt und dem Parteisekretär. Zielgruppen: ‚Ehemalige Kulaken, Anhänger der Weißen Armee, der zarischen Straforgane und sozialistischer Konkurrenzparteien, Teilnehmer an Aufständen, ehemalige und aktive Geistliche und nicht zuletzt kriminelle Wiederholungstäter, Asoziale und Schläger’. Befehl Nr. 00447. Vor der Vollstreckung der Urteile war keine zentrale Bestätigung aus Moskau erforderlich und die Staatsanwaltschaft war völlig ausgeschaltet.
5 Alle Übersetzungen aus dem russischen Original durch den Verfasser der Rezension.

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