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Titel
Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse


Autor(en)
Zaretsky, Eli
Erschienen
Anzahl Seiten
621 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uffa Jensen, Graduiertenkolleg "Generationengeschichte", Georg-August-Universität Göttingen

Die beachtliche Wirkungskraft der Psychoanalyse in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist noch immer erklärungsbedürftig. Eine historische Einordnung scheint trotz aller Diskussion um sie noch nicht gelungen. Der US-amerikanische Kulturhistoriker Eli Zaretsky möchte mit seinem Buch „Freuds Jahrhundert“ eine historisch abgeklärte und umfassende Geschichte der Psychoanalyse liefern, die einerseits die Bedeutung der Psychoanalyse historisch würdigt, andererseits die vielfältige Kritik an ihr und ihrem Schöpfer berücksichtigt.1 Den Einfluss der Psychoanalyse führt Zaretsky auf die Tatsache zurück, dass sie die „erste große Theorie und Praxis des ‚persönlichen Lebens’“ (S. 15) verkörpere, wobei Zaretsky mit dem Begriff des persönlichen Lebens die „historisch spezifische Erfahrung der Singularität und Innerlichkeit“ (S. 16) meint, die mit der „zweiten Moderne“ am Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sei. Wie der Kalvinismus die „erste Moderne“ und das klassische Zeitalter des industriellen Kapitalismus eingeläutet habe, so sieht Zaretsky das Zeitalter des Fordismus und der Konsumwirtschaft durch die Psychoanalyse vorbereitet bzw. begleitet. Hier geht die Analogie sogar noch weiter: „In der neueren abendländischen Geschichte gab es zwei spezifische, jeweils epochentypische Weisen der Introspektion: den Kalvinismus und die Lehre Sigmund Freuds.“ (S. 29) Es kann in solchen Passagen schon überraschen, wie unkritisch der Autor die Webersche Protestantismusthese übernimmt, die ja nicht gerade unwidersprochen geblieben ist. Aber auch die andere Seite der Analogie ist problematisch, worauf zurückzukommen sein wird. Später im Buch benutzt Zarestky Anleihen aus der Religionsgeschichte durchaus fruchtbarer, jedoch geht es dabei in der Regel um den Sektencharakter der psychoanalytischen Bewegung und dessen Auswirkungen.

Freuds Werk und die Psychoanalyse insgesamt als Ausdruck einer neuen Vorstellung von persönlichem Leben zu verhandeln, was im Übrigen bereits auf viel ältere Freud-Interpretationen etwa von Philip Rieff zurückgreift, bringt Zaretsky eine ganze Reihe von Vorteilen ein.2 Es erlaubt ihm vor allem einen durchaus informativen und spannenden Überblick über Freuds Theorien. Die Freudsche Vorstellung des Unbewussten kann Zaretsky somit erfolgreich – gegen viele Skeptiker seit Henri Frederic Ellenberger 3 – als echte Entdeckung herausstellen, weil es ein persönliches Unbewusstes darstellte. Damit verbunden war die Vorstellung des Selbst als „Produkt eines äußerst spezifischen und ortsgebundenen Entwicklungsprozesses, als getrieben von komplexen Motivationen, die nur im Kontext einer durch und durch persönlichen, nicht reproduzierbaren inneren Welt zu verstehen sind“ (S. 62). In ähnlicher Weise gelingt es ihm die Bedeutung der Freudschen Sexualtheorien herauszustreichen: Individuelle Sexualität ist in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ nicht mehr biologisch festgelegt, sondern ein Produkt eines individuellen, psychischen Prozesses. Sexualität wurde „etwas unverwechselbar Persönliches“ (S. 80). Selbst die inneren Spaltungen der psychoanalytischen Bewegung interpretiert Zaretsky vor dem Hintergrund der Theorie des persönlichen Lebens, weil Alfred Adler und Carl G. Jung rivalisierende Konzepte präsentiert hatten.

Zugleich produziert diese Sicht auf die Psychoanalyse auch gravierende Probleme und blinde Flecken: Freud wird damit in eine soziologische Modernisierungstheorie aus Entfamilisierung, Individualisierung und Lebensstilpluralisierung gepresst. Mit seinen modernisierungstheoretischen Überlegungen macht Zaretsky eher unfreiwillig auf eine zentrale Schwierigkeit der Psychoanalyse aufmerksam, dass sie nämlich eine westliche Subjekttheorie darstellt, die als solches Teil eines umfassenden Narrativs von Moderne ist. Da Zaretsky diesem Narrativ selbst verhaftet bleibt, kann er die Freudianische Gegenüberstellung von moderner und primitiver Kultur, die sich paradigmatisch in „Totem und Tabu“ findet und die den neurotischen Patienten und den "Wilden" auf eine Entwicklungsstufe stellt, auch nicht historisieren.4 Entscheidender ist jedoch ein zweiter Kritikpunkt: Zwar hat das Buch in der Verbindung von psychoanalytischer Theoriegeschichte und soziologischen Veränderungsprozessen von Selbst und Subjektivität einige Stärken. Andererseits kann auch diese Studie die gesellschaftliche Bedeutung der Psychoanalyse wiederum nur durch die Anbindung an Großtheorien behaupten. Die Wege ihres Eindringens in die Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts – ihre transnationale Rezeptions-, Popularisierungs-, Wirkungs- und Praxisgeschichte – werden eben nicht historisch analysiert, sondern mit Hilfe allgemeiner Aussagen über Modernisierungsprozesse als bereits geklärt ausgewiesen. Zwischen psychoanalytischer Theorie und der Veränderung des persönlichen Lebens klafft so weiterhin eine große Lücke, über die wir auch nach der Lektüre wenig wissen.

Es gibt jedoch nicht nur Probleme mit Zaretskys Forschungsdesign und seinen historischen Analogien. Auch einige inhaltliche Grundaussagen über die Geschichte der Psychoanalyse und ihrer Wirkung erscheinen fragwürdig. Während man es dem Buch sicher nicht anlasten kann, dass es vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Freud-Debatten der letzten Jahre geschrieben wurde und in dieser Hinsicht auch eine Verteidigungsschrift mit den Mitteln historischer Bilanzierung und Einordnung sein will, so irritiert der amerikanische Fokus an anderer Stelle sehr. Schon die amerikanische Ausrichtung seiner Modernisierungstheorie ist bemerkenswert, scheint er doch auch die europäischen Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts durch die amerikanische Brille zu sehen: So werden die natürlich vorhandenen Tendenzen des Fordismus und der Konsumkultur in Europa größer und bedeutender als sie waren. Andere eher europäische Anknüpfungspunkte an Hypnosetherapien, Okkultismus, Lebens- und Sexualreform etc. verblassen dagegen. Noch widersprüchlicher ist Zaretskys Beschreibung der europäischen Wirkungsgeschichte. So wird einerseits zugestanden, dass Freud in Europa vor allem nach dem Ersten Weltkrieg sehr populär war; andererseits soll sich die Zukunft der Psychoanalyse in den USA entschieden haben, weil sie angeblich nur hier durchgreifenden Erfolg hatte. Bereits Freud war stets von starken Zweifeln geplagt, ob sich seine Wissenschaft angesichts des tiefen Antisemitismus und des Konservativismus in Europa würde durchsetzen können. Zaretskys Sicht auf die europäische Geschichte der Psychoanalyse reproduziert dies: Als jüdisch gebrandmarkt und aus den medizinisch-psychiatrischen Institutionen ausgeschlossen wurde sie zu einer marginalisierten Sekte, deren Zukunft jenseits des Atlantiks lag: „in Europa erfunden, in Amerika verändert und dann nach Europa reimportiert“ (S. 212).

Solche Behauptungen werden jedoch in Zaretskys Darstellung immer wieder relativiert: So soll z.B. Berlin der Weimarer Jahre die Stadt gewesen sein, in der Freuds Bücher am meisten gelesen wurden (S. 217), während sie sich in den USA bis in die 1930er-Jahre nicht gut verkauften (S. 520). Da diese Behauptung des europäischen Desinteresses und der Ablehnung in nicht wenigen anderen Werken zur Psychoanalyse noch immer auftaucht, macht es umso misslicher, dass Zaretsky hier eine Chance vergibt. Was aber – und diese Frage ist viel entscheidender – gilt als Maßstab für den Einfluss der Psychoanalyse? Das ist letztlich nicht klar: Während entscheidend für die Marginalisierung in Europa die schlechte Position der Psychoanalyse im wissenschaftlichen Feld ist, wird in den Passagen über ihren Erfolg in Amerika immer wieder auf ihre Popularität hingewiesen. Letzteres nicht für Europa in Betracht zu ziehen, bleibt daher ein zentrales Manko der Thesenführung Zaretskys. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass Zaretsky die (zugegeben fremdsprachige) Forschungsliteratur zum Umfeld der Psychoanalyse in Europa kaum rezipiert hat.

Es überrascht dann schon nicht mehr, dass Zaretsky das psychoanalytische Jahrhundert seit den 1970er-Jahren in die US-amerikanische Identitätspolitik auslaufen lässt, während sie in der medizinischen Praxis im Zeitalter von Prosac und anderer Psychopharmaka kaum mehr eine Rolle spiele. Letztlich ist sich Zaretsky jedoch nicht klar darüber, ob er den Bedeutungsverlust der Psychoanalyse als Niedergang oder als Normalisierung interpretieren soll. Sicher ist er sich jedoch, dass der verringerte Einfluss auf das Ende jenes Verständnisses von persönlichem Leben zurückzuführen ist, mit dem der Siegeszug der Psychoanalyse begann. Dass die Vorstellung eines persönlichen Lebens heutzutage keine Rolle mehr spielt, wird jedoch ebenfalls mehr behauptet als gezeigt. Insgesamt ist somit festzustellen, dass Zaretsky einen umfassenden Versuch einer Geschichte der Psychoanalyse vorgelegt hat, der zwar einen brauchbaren Überblick darstellt, aber letztlich doch zu sehr Ideen-, Schul- und Bewegungsgeschichte bleibt, um ihre Wirkungsmacht historisch detailliert darlegen zu können und nicht mittels soziologischer Großthesen lediglich festzustellen.

Anmerkungen:
1 Die Freud-Kritik ist keineswegs verstummt, auch wenn die nordamerikanischen „Freud Wars“ etwas abgeklungen zu sein scheinen. Für zwei neuere Angriffe vgl. etwa Todd Dufresne, Against Freud: Critics Talk Back, Stanford 2007. Catherine Meyer / Mikkel Borch-Jacobsen (Hrsg.), Le livre noir de la psychoanalyse: Vivre, penser et aller mieux sans Freud, Paris 2005.
2 Vgl. Philip Rieff, Freud: The Mind of the Moralist, London 1958. Ders., The Triumph of the Therapeutic: Uses of Faith After Freud, New York 1966.
3 Vgl. Henry Frederic Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, Bern 1973.
4 Für eine Problematisierung dieser Aspekte vgl. Ranjana Khanna, Dark Continents: Psychoanalysis and Colonialism, Durham (N.C.) 2003.

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