Cover
Titel
M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession


Herausgeber
Hepp, Adalbert; Löw, Martina
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
178 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

M. Rainer Lepsius mag keine Festschriften – es seien „artifizielle Sammelsurien“. Daher hat ihm der Campus-Verlag ein alternatives Geschenk zu seinem 80. Geburtstag überreicht: ein (auto)biographisches Taschenbuch. Das von Adalbert Hepp, dem ehemaligen Leiter der Wissenschaftsabteilung des Verlags, und der Darmstädter Soziologie-Professorin Martina Löw herausgegebene Buch öffnet eine auf den Menschen Lepsius zentrierte Lektüre: Ein kurzer Abschnitt „Vita“ – eine Art lexikalischer Eintrag –, ein rund 60-seitiges Interview sowie ein weiterer 70-seitiger Textblock „Autobiographische Skizzen“ füllen das Buch. Einen Einblick in Lepsius’ wissenschaftliches Werk bieten lediglich eine fünfseitige ‚Splittersammlung’ „Ansichten und Einsichten die Soziologie betreffend“ sowie ein bereits 1989 veröffentlichter Aufsatz über „Die Soziologie und die Kriterien sozialer Rationalität“.

Zwischen dem Interview und den autobiographischen Skizzen ergeben sich zwar gelegentlich Überschneidungen und einzelne Wiederholungen, doch insgesamt ergänzen sich diese beiden Textabschnitte sehr gut. Was Lepsius über seine Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus in den Skizzen nur andeutet, wird in der Interviewsituation vertieft. Lepsius typisiert hier mit Blick auf die Eltern bestimmte Verhaltensweisen im Verhältnis zum Nationalsozialismus. Auf der einen Seite steht die Mutter, die er als „entschiedene Anti-Nationalsozialistin“ charakterisiert, auf der anderen Seite der Vater in einer ständigen ‚Sowohl-als-auch-Stellung’. Einerseits habe der Vater die Ausartungen des totalitären Regimes gesehen, andererseits habe er verschiedene Leistungen der Nationalsozialisten als vorbildlich anerkannt. In dieser Ambivalenz seien viele Deutsche gefangen gewesen: „Und nur diejenigen, die über einen Wertbezug für ihre Urteilsbildung verfügten, über den sie nicht abwägen konnten, nur die waren nicht faschistisch. Ich rede jetzt nicht von Antifaschismus, also von aktiver Bekämpfung. Ich rede nur von Nicht-Faschisten.“ (S. 18)

Neben die Thematisierung von Lepsius’ Jugend im Nationalsozialismus treten prominent seine wissenschaftliche Entwicklung hin zur Soziologie, die für den promovierten Volkswirt keineswegs geradlinig verlief, sowie die Erörterung seiner soziologischen Referenzpunkte. Robert K. Merton wirkte auf Lepsius stärker ein als Talcott Parsons. Früh orientierte er sich an den Remigranten Horkheimer, Adorno und René König, während von den „’Daheimgebliebenen’“ Hans Freyer, Helmut Schelsky oder Arnold Gehlen nichts mehr zu lernen war. Ein weiterer zentraler Teil von Lepsius’ Soziologieverständnis „entwickelte sich aus dem Werk von Max Weber“: „Also was mir an Weber gefällt, ist eine dynamische Wahrnehmung von Analysedimensionen, die in jeweils konkreten empirisch-historischen Konstellationen zu analysieren sind. Person bricht Struktur, etwa in einer charismatischen Konstellation, Struktur bricht Person, etwa in einer bürokratischen Konstellation, Kultur motiviert die Person und legitimiert die Struktur.“ (S. 55)

Während methodische Fragen und Probleme der Soziologie eher kursorisch gestreift werden, wird sowohl in den autobiographischen Skizzen als auch im Interview-Teil die Rolle der Soziologie für die gegenwärtige Gesellschaft eingehender erörtert. Hier zeigt sich eine gewisse Skepsis und Ratlosigkeit. Dem Einwurf von Martina Löw, man habe den Eindruck, dass „Soziologen zwar unendlich viele Sachen machen, nur die relevanten Fragen nicht mehr angehen“, pflichtet Lepsius voll und ganz bei (S. 42f.). Skeptisch fällt auch der Blick auf die Entwicklung der Universitäten und der Hochschulpolitik aus. Lepsius beschreibt den Weg von der Ordinarienuniversität, in der er noch groß wurde, über die „Gruppenuniversität“ der 1960er-Jahre hin zum „rationalisierte[n] ‚Dienstleistungsbetrieb’ nach ökonomischen Managementkriterien“ seit etwa 2000 (S. 69). Dabei entgeht er – weitgehend – der Gefahr, in einen „Altherrenton“ zu verfallen, wie Lepsius solche Gespräche bezeichnet, in denen die Beteiligten den guten alten Zeiten hinterhertrauern. Was die Frische und Spritzigkeit sowie die intensiven Theoriedebatten in der Soziologie betrifft, blickt Lepsius jedoch etwas wehmütig zurück und vermisst bei den jüngeren Soziologen einen „’Glauben an die Mission der Soziologie’“. Sie hätten „keine großen Erwartungen mehr“; ihnen gehe es um „eine Stelle, eine ökonomische Basis“, „eine Reputation“ (S. 13f.).

Daneben gibt es im Interview durchaus selbstironische Züge zu entdecken. Die Idee, an der Soziologie etwas „liebenswert“ zu finden, weist Lepsius weit von sich. Selbst die intensive Beschäftigung mit einem Problem, die Produktion von soziologischen Texten sei für ihn „pure Anstrengung“ gewesen: „Mehr als 20 bis 30 Seiten kann ich nicht schreiben. Dann ist Schluss.“ (S. 48) Ein Blick in die Publikationsliste bestätigt dies: Monographien waren nicht Lepsius’ Welt. Seine Doktorarbeit erschien als Dissertationsdruck, und seine Habilitationsschrift veröffentlichte er nie, was er im Nachhinein bedauert. Lepsius wirkt durch seine Aufsätze und Beiträge, die in Sammelbänden zusammengefasst breite Wirkung erzielten – weit über die Soziologie hinaus. Insofern ist seine Selbstkritik – „Ich empfinde ein großes Defizit. Ich habe mich viel zu wenig eingemischt. […] Rückblickend wünschte ich mir, ich hätte etwas mehr öffentliche Präsenz gezeigt.“ (S. 49) – angesichts von über 170 Aufsätzen und Artikeln (Rezensionen nicht mitgerechnet) wohl mit einem gehörigen Schuss Understatement gepaart.

Herauszuheben ist aus den autobiographischen Skizzen die Schilderung von Lepsius’ Rolle als Gründungsbeauftragter für das soziologische Institut der Universität Halle nach 1990. Hier gelingen Lepsius beeindruckende Skizzen über eine „Zeit der Frustrationen und zuweilen auch der Depression“ (S. 142) sowie des schwierigen Umgangs zwischen West- und Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung.

Überraschend ist schließlich der kritisch-distanzierte Blick auf die Geschichtswissenschaft. Lepsius, der mit dem Milieu-Begriff, mit der Charakterisierung charismatischer Herrschaft und überhaupt der Hervorhebung des „prozessualen Charakters“ von Max Webers Analyserahmen auf die Geschichtswissenschaft einwirkte und zahlreiche Verbindungslinien schuf (etwa in der Bürgertumsforschung), kommt zu bitteren Urteilen: „Der Transfer soziologischer, aber auch sozialpsychologischer Modelle und Analysewege steht offenbar vor hohen Barrieren. Für eine ‚historische Sozialwissenschaft’ sehe ich jedenfalls nur vereinzelte Ansätze, ihr Potential ist noch nicht entfaltet.“ Das Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen scheine eher eines „der gegenseitigen Vermeidung, nicht der Kooperation zu sein“ (S. 113f.). Solche Einschätzungen treffen für die neuere Entwicklung der Fächer wohl zu, und die Verbindungen waren in den 1960er- und 1970er-Jahren bestimmt enger als heute. Allerdings gibt es alternative Sichtweisen, und beide Fächer können in manchen Forschungsgebieten und Fragestellungen, etwa der „Historisierung des Sozialen“, voneinander profitieren und lernen.1

Ein gewisses Sammelsurium ist diese ‚alternative Festschrift’ für M. Rainer Lepsius doch geworden, aber ein roter Faden ist gleichwohl deutlich, und die Ergänzung zwischen Interview und bereits früher veröffentlichten autobiographischen Skizzen wirkt erhellend. Die Bedeutung, die Lepsius für die Geschichtswissenschaft gewann, wird allerdings in diesem Band nicht sichtbar – hier hilft letztlich nur die Lektüre seiner in Sammelbänden zusammengestellten zentralen Aufsätze weiter.

Anmerkung:
1 Nina Baur, Was kann die Soziologie methodisch von der Geschichtswissenschaft lernen?, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 33 (2008), Heft 3, S. 217-248; Dieter Gosewinkel / Dieter Rucht, „History meets Sociology“. Zivilgesellschaft als Prozess, in: Dieter Gosewinkel u.a. (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin 2003, S. 29-60; Thomas Mergel, Geschichte und Soziologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 621-651. Siehe auch das Programm der neu eingerichteten „Bielefeld Graduate School in History and Sociology“ (<http://www.uni-bielefeld.de/bghs/>).

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