G. D. Hundert, Jews in Poland-Lithuania

Titel
Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity


Autor(en)
Hundert, Gershon David
Reihe
S. Mark Taper Foundation Imprint in Jewish Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 44,18
Rezensiert für H-Soz-Kult von
François Guesnet, University College London

Die Forschungen zur osteuropäisch-jüdischen Geschichte, die nach Jahrzehnten der fast vollständigen Nichtbefassung erst in den 1980er-Jahren in nennenswertem Umfang wieder einsetzten, haben in den letzten Jahren einen beeindruckenden Aufschwung genommen. Gerade die jüdische Geschichtsschreibung in Nordamerika erweist sich als ihrer Wurzeln überaus bewusste ‚community’, die das Wissen um ihre osteuropäischen Wurzeln wach hielt. Im Rahmen des Beitrags der Geschichtsschreibung stellen die Forschungen von Gershon Hundert hierzu einen der zentralen Bausteine dar – mehrere Pionierarbeiten gehen auf ihn zurück 1.

Auch die hier zur Diskussion stehende Überblicksdarstellung über die in den Gebieten der polnischen Krone lebende jüdische Gemeinschaft im 18. Jahrhundert hat binnen kürzester Zeit den Status eines Standardwerks erlangt. Der hierbei im Untertitel formulierte Anspruch, „eine Genealogie der Moderne“ vorzulegen, weckt Erwartungen, die der Autor letztlich gar nicht erfüllen möchte: so argumentiert er eingangs dafür, „den Begriff der ‚Moderne’ von jeglichem nicht-chronologischen Bedeutungsgehalt zu befreien und ihn lediglich als das zu definieren, was in den vergangenen zwei Jahrhunderten geschehen ist. Auf diese Weise“, so Hundert weiter, „können wir uns von der einengenden Dichotomie von und zwanghaften Befassung mit ‚Tradition und Wandel’ befreien und die komplexere und menschlichere Realität der Koexistenz einer Vielzahl von Verhaltensweisen und Erscheinungsformen, die einer beständigen Veränderung unterlagen, in den Blick nehmen“ (S. 4). Wenn es je ein verführerischeres Angebot gegeben hätte, die Gesamtheit der querelles des anciens et des modernes über Bord zu werfen und sich auf die reine Substanz der Chronologie zu beschränken, so möge es dem Rezensenten angezeigt werden.

Der Aufbau des Werks ist synoptisch. Die ersten beiden Kapitel sind der Demographie und der Erwerbstätigkeit der polnisch-litauischen Judenheit gewidmet. In der polnischen Krone entfaltete sich im Verlauf der frühen Neuzeit die bis dato größte und kompakteste Niederlassung der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft, die über ein enges Netz von mitgliederstarken Gemeinden verfügte (S. 21-31). Zwar gab es bis zur Gleichstellung im Königreich Polen im Jahr 1862 eine Vielzahl von Ortschaften, die die Niederlassung von Juden durch eine Privileg ‘de non tolerandis Judaeis’ verhindern konnten, in der großen Mehrzahl von Dörfern und Städten mit jüdischer Bevölkerung unterlagen diese jedoch kaum relevanten Niederlassungseinschränkungen: es gab im Polen-Litauen der frühen Neuzeit keine Ghettos. Hundert hebt die im Vergleich zum Heiligen Römischen Reich oder Westeuropa wesentlich größere Ausdifferenzierung der Erwerbstätigkeit und die besondere Bedeutung der jüdisch-aristokratischen Allianz im Bereich des Pachtwesens hervor. Diese bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts stabile Kooperation beruhte auf der Ausbeutung der leibeigenen Bauernschaft einerseits und auf der internationalen und Binnenvermarktung der Produkte dieser Gutsherrschaft andererseits, wobei achtzig Prozent (!) der polnischen Judenheit am Ausgang des 18. Jahrhunderts direkt oder indirekt mit der Produktion und Distribution von Alkohol befasst waren (S. 53). Ausführlich geht Hundert auf die jüdisch-christlich-stadtbürgerliche Konkurrenz ein, in der jüdische Unternehmer aufgrund adligen Schutzes die Oberhand hatten: „Einer der Schlüssel für die Blüte der polnischen Judenheit war die politische Machtlosigkeit der christlichen Stadtbürger“ (S. 47). Das dritte Kapitel widmet Hundert jenem „entscheidenden Ingrediens“ der polnisch-jüdischen Geschichte, „das die Juden auf Dauer zu Fremden und Auswärtigen in der polnischen Kultur“ machte: dem Verhältnis der Kirche und des Klerus zu den Juden (S. 57-78). Hundert ordnet katholische Haltungen zu den Juden in die Erfolgsgeschichte der Gegenreformation in Polen und die sich spätestens seit dem Einfall der Schweden im Jahr 1655 etablierende Auffassung von der Schutzfunktion der Kirche für die polnische Nation ein. Weitere Kapitel wenden sich mit der Konstitution und Stellung der Gemeinde als Körperschaft und der Entwicklung übergemeindlicher Vertretungskörperschaften (den Landjudenschaften der Kronländer) einem intensiv erforschten Gegenstand zu. Die überragende Bedeutung der Ausdifferenzierung einer autonomen, selbstbewussten und oligarchisch gefügten Gemeindeführung, die durch die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts jährlich zusammentretenden Landjudenschaften über ein dicht geknüpftes Kommunikations- und Beziehungsnetz verfügte, ist akademische opinio communis, illustriert durch ein ausführliches Zitat aus dem Protokollbuch des Vierländerrats, der Zusammenkunft der Landjudenschaften (S: 96-98), das das Selbstverständnis der Gemeindeführungen als politisch handelnder Führung deutlich spürbar werden lässt.

In seiner Interpretation der innergemeindlichen Auseinandersetzungen in Wilna (S. 112-118) wendet sich Hundert gegen die ideologisierenden Zugriffe früherer Historiker wie Klausner oder Mahler. Hundert besteht darauf, dass es sich hierbei nicht um eine Auflehnung der jüdischen „Massen“ gegen die oligarchische Führung, sondern um einen Machtkampf innerhalb dieser Führungsschicht handelte. Hundert bestreitet nicht, dass der Begriff, der in den umfangreichen polnischen Quellen für die „neu in Erscheinung tretenden Gruppen von Händlern und Handwerkern“ benutzt wurde – pospólstwo – darauf verweist, „dass hiermit in der jüdischen Gemeinde die Politik der Straße einsetzt, in der die Meinung der Massen begannen, politisches Gewicht zu haben“ (S. 118) – den nächsten logischen Schritt, dass nämlich der Begriff der Moderne in Definitionen, wie sie von Shmuel Noah Eisenstadt bis David Ruderman auch für die jüdische Geschichte vorgeschlagen wurden, eng mit der Ausweitung politischer Partizipation verknüpft worden ist, möchte Hundert aber partout nicht gehen.

Eine vergleichbare Herangehensweise zeichnet auch den nächsten Schwerpunkt der Monographie aus, der der Popularisierung mystischer Auffassungen („The Popularization of Kabbalah“, S. 119-130), der Dynamisierung und Mobilisierung dieser Auffassungen („Mystic Ascetics and Religious Radicals“, S. 131-159), den religiösen Voraussetzungen des Chassidismus („The Contexts of Hasidism“, S. 160-185) und den ideologischen und sozialen Spezifika der chassidischen Bewegung selbst („Hasidism, a New Path“, S. 186-210). Hundert zeichnet auf Grundlage der gesamten relevanten Forschung (mit Ausnahme der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur) das Wesen der jüdischen Mystik nach, erläutert im Überblick zentrale Begriffe, Werke und Autoren und beschreibt ihre Verbreitungsgeschichte im östlichen Europa. Er macht deutlich, dass die Verbreitung religiösen Wissens unter anderem zu einer größeren Einbindung von Frauen führte. Die Komplexität religiösen und magischen Wissens brachte eine „Professionalisierung der Meister des Namens“ (S. 153) mit sich, also jener charismatischen und quasi-priesterlichen Funktionsträger, deren berühmtester der Ba’al Shem Tov, der Begründer des Chassidismus, werden sollte. Hier zitiert Hundert ausführlich aus der Igeret hakodesh, die diese mystische Begegnung beschreibt (S. 167-172). Seine askesefeindliche Haltung, seine Auffassung von der göttlichen Präsenz und die Forderung nach einem wirklich Gott zugewandten Gebet waren entscheidende religionspraktische Innovationen des Ba’al Shem Tov (S. 173-185).

Der Band wird abgeschlossen von einer relativ kursorischen Betrachtung („The Jews and the Sejm“, S. 211-231) über die Verhandlungen während des so genannten Vierjahressejms 1788-1791, in der zentrale Fragen einer konstitutionellen Reform der polnischen Rzeczpospolita durch die versammelten Landstände diskutiert wurden. Hundert hebt hervor, dass jüdische Unterhändler in bedeutendem Umfang und mit großem Selbstbewusstsein ihre Forderungen etwa nach einem Niederlassungsrecht in Warschau vortrugen. Er macht deutlich, dass hier sowohl mit aufgeklärten Argumenten als auch mit Bestechung einflussreicher Landboten und Aristokraten, wie auch des für Reformen aufgeschlossenen letzten polnischen Königs Stanislaw August Poniatowski jüdischen Forderungen Nachdruck verliehen werden sollte.

Zum Standardwerk wird diese Monographie durch Materialreichtum, eine umfassende Präsentation des Forschungsstandes und Hunderts Fähigkeit, die jüdische Geschichte immer wieder in den weiteren Horizont der polnischen und ostmitteleuropäischen Geschichte einzuordnen. Relativ unscharf bleibt, inwiefern das 18. Jahrhundert die fundamentalen Veränderungen der darauffolgenden Epoche vorbereitete, zu wenig wird außerdem deutlich, in welch intensives Netz von familialen, ökonomischen, religiösen und kommunikativen Austauschprozessen die polnische Judenheit eingebunden war.

Anmerkung:
1 Gershon David Hundert / Gershon C. Bacon, The Jews in Poland and Russia: Bibliographical Essays. Bloomington 1984; Gershon David Hundert (Hrsg.), Essential papers on Hasidism: origins to present. New York 1991; Ders., The Jews in a Polish Private Town. The Case of Opatów in the Eighteenth Century. Baltimore 1992; Ders. (Hrsg.), The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven, London 2008.

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