Titel
Contesting the German Empire 1871-1918.


Autor(en)
Jefferies, Matthew
Reihe
Contesting the Past
Erschienen
Oxford 2007: Wiley-Blackwell
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfrid Halder, Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus / Deutsch-osteuropäisches Forum, Privatdozent an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Seit einiger Zeit boomt auf dem wissenschaftlichen Buchmarkt die Einführungs- und Überblicksliteratur. Etliche Verlagshäuser haben gleich ganze Reihen neu begründet, die mit zumeist ähnlichen Konzepten bestrebt sind, in erster Linie Studierenden einen raschen Zugang zu einzelnen historischen Themengebieten zu ermöglichen. Zu nennen wären etwa die „Geschichte kompakt“-Reihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft oder die „Wissen“-Reihe von C. H. Beck. Der Fischer-Taschenbuchverlag hat seinerseits eine „Kompakt“-Reihe beigesteuert. Die Autorinnen und Autoren, die Einzelbände liefern, stehen in der Regel vor dem gleichen Dilemma: Sie sollen komplexe Zusammenhänge und Sachverhalte so aufbereiten – will heißen verkürzen –, dass sie in das Reihenformat mit 120 bis 150 Druckseiten „passen“. Da in erster Linie zentrale historische Themengebiete dergestalt abzuhandeln sind, sind bei den Autorinnen und Autoren die „Bauchschmerzen“ des „Weglassenmüssens“ und bei den Rezensentinnen und Rezensenten, die Bemerkungen vorprogrammiert, die sinngemäß lauten: „Ja, aber das hätte man schon etwas differenzierter ausführen müssen.“ Um es konkret zu machen: Volker Berghahn, ohne Zweifel seit vielen Jahren als herausragender Experte ausgewiesen, hatte in seinem „Wissen“-Band über den Ersten Weltkrieg nicht ganz 14 (Taschenbuch-)Seiten zur Verfügung, um „die tieferen Ursachen“, also die weitere Vorgeschichte des Konflikts, die „Verantwortung der Entscheidungsträger“ und „Missmanagement und Fehlkalkulationen in der Julikrise“ abzuhandeln .1 Dass hinter diesen wenigen Seiten ganze Bibliotheken überaus kontroverser, spätestens seit 1918 bis in die Gegenwart hinein aufgetürmter Forschungsliteratur stehen, liegt auf der Hand. Ebenso liegt auf der Hand, dass dergleichen Kurzversionen überaus marktgängig sind – Berghahns Büchlein hat in drei Jahren drei Auflagen erlebt –, folglich das Bild etwa der Julikrise in vielen (jungen) Köpfen (mit)bestimmen, und dass dieses Bild in den allfälligen Prüfungen der Bachelor- und Masterstudiengänge reproduziert wird, in der Hoffnung, den Erwartungen der Prüferinnen und Prüfer damit Genüge zu tun.

Damit daraus kein Blankoscheck für dauerhafte Verkürzungen wird, ist es umso mehr zu begrüßen, dass einige Verlage zu den Einführungen Parallelreihen anbieten, deren Zweck vor allem darin besteht, jenseits der gerafften Faktendarstellung deutlich zu machen, wie schwierig, kompliziert und dauerhaft kontrovers die Auseinandersetzung mit historischen Kernthemen wirklich ist. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat so den „Geschichte kompakt“-Bänden die „Kontroversen um die Geschichte“ hinzugesellt, der britische Verlag Blackwell Publishing hat nun die ähnlich geartete Reihe „Contesting the Past“ eröffnet, die darauf abzielt, „not merely to demonstrate that history is ‚argument without end’, but to show that study even of contradictory conceptions can be fruitful: that the jettisoning of one thesis or presentation leaves behind something of value.“ 2 Erschienen sind bislang drei Bände 3 und aus deutscher Sicht besonders erfreulich ist, dass darunter das vorliegende Buch von Matthew Jefferies ist.

Jefferies, der an der University of Manchester deutsche Geschichte lehrt, ist bereits durch eine ganze Reihe kleinerer und zwei größere Studien als Kenner der Geschichte des Kaiserreichs ausgewiesen.4 Was er nun geleistet hat, war wahrhaft Kärrnerarbeit. Denn natürlich ist klar, dass die Geschichte des (zweiten) Kaiserreichs zu den am intensivsten erforschten Phasen der deutschen Geschichte überhaupt gehört und dass eine dementsprechend riesige Zahl einschlägiger Publikationen vorliegt. Jefferies ist es gelungen, dies sei sogleich festgestellt, eine gut begehbare Schneise durch diesen Bücherwald zu schlagen. Wenn man ihm durch diese Schneise folgt, ist es möglich, ein klares und zugleich differenziertes Bild von den Hauptetappen der Kaiserreich-Forschung und deren „Krisenherden“ zu gewinnen.

Der Aufbau des Bandes folgt zunächst der wissenschaftshistorischen Chronologie der einschlägigen Geschichtsschreibung. Folglich beginnt Jefferies mit der Analyse der Arbeiten von Historikern, die selbst noch Zeitgenossen von Gründung und erster Entwicklung des Kaiserreichs waren, darunter natürlich Heinrich von Treitschke, Johann Gustav Droysen, Erich Marcks und andere (S. 7 ff.). Marcks steht bereits für diejenigen, welche die Diskussion auch nach dem Ende der Monarchie in der Weimarer Republik fortgesetzt haben. Mit Recht weist Jefferies auf die inhaltlichen Kontinuitätslinien der Kaiserreich-Interpretation auch über das Jahr 1945 hinaus hin, denn diese waren ja mitbedingt durch personelle Kontinuitäten, markant erkennbar etwa in der Gestalt Gerhard Ritters. Demgegenüber entfalteten stärker kritische Ansätze, die zum Teil von emigrierten Historikern in den USA und anderwärts bereits seit der Zeit vor 1939 entwickelt wurden – zu nennen sind hier beispielhaft nicht zuletzt Erich Eyck und Hans Rosenberg –, größeren Einfluss auf die deutsche Debatte erst nachdem der Streit um die Thesen Fritz Fischers zu Beginn der 1960er-Jahre eine neue Etappe der Forschung eingeläutet hatte. Völlig zu Recht geht Jefferies auf die Fischer-Kontroverse auch besonders ausführlich ein (S. 18ff.). In den 1960er-Jahren, besonders gegen deren Ende, verortet Jefferies, auch wiederum zu Recht, den Aufstieg der „new orthodoxy“, deren öffentlichkeitswirksamster Protagonist zweifellos Hans-Ulrich Wehler war und ist. Die jetzt weithin akzeptierte Negativfärbung der Geschichte des Kaiserreichs ging einher mit der „Sonderwegs-Debatte“. Ein Charakteristikum des Bandes ist es, dass Jefferies besonders stark die Sichtweise(n) der englischsprachigen Historiographie einbezieht, insbesondere immer wieder auf die Diskussionsbeiträge von Richard Evans, David Blackbourn und Geoff Eley rekurriert (S. 31ff.). Dies lag mit Blick auf sein eigenes wissenschaftliches Herkommen nahe, macht sein Buch aber zugleich zu einer wichtigen Ergänzung des vergleichbaren Bandes von Ewald Frie, der keineswegs ausschließlich, aber doch stärker auf die deutschsprachige Forschung konzentriert ist.5 Lobenswert ist auch, dass Jefferies sich auch mit den wesentlichen Beiträgen der DDR-Geschichtsschreibung über das Kaiserreich auseinandergesetzt (S. 37ff.) und nicht den einfacheren Weg eingeschlagen hat, diese mit Rücksicht auf das Verschwinden des zweiten deutschen Staates von der geschichtlichen Bühne einfach wegzulassen. Denn zweifellos haben sich viele Forscher im Westen, unbeschadet der notorischen, ideologisch bedingten Einseitigkeit der DDR-Historie immer wieder an deren Interpretationen gerieben.

Nach dem gewissermaßen als historiographiegeschichtlicher Gesamtüberblick zu verstehenden ersten Teil wendet sich Jefferies besonders kontrovers diskutierten Einzelaspekten der Geschichte des Kaiserreichs zu. An der Spitze stehen die langwierigen Auseinandersetzungen um die historische „Größe“, Leistung und Verantwortlichkeit Otto von Bismarcks und Kaiser Wilhelms II. (S. 47ff.). Wie wenig gerade diese abgeschlossen sind, wird sich gewiss in Kürze zeigen, wenn John Röhl den lange angekündigten, dritten und abschließenden Band seiner monumentalen Biographie des letzten Hohenzollern-Kaisers vorlegt. Ferner geht Jefferies den unterschiedlichen Sichten auf die Entwicklung des politischen Systems des Kaiserreichs nach – ob es nun die „stille Parlamentarisierung gab oder nicht (S. 90ff.). Zuletzt gelangt er zu den Akzenten, die jüngste Forschungsrichtungen wie die erneuerte Kulturgeschichte, die transnationale Geschichte und die Gender-Forschung dem Bild des Kaiserreichs hinzugefügt haben (S. 126ff.).

Matthew Jefferies hat eine ungemein kenntnisreiche Zusammenschau der Kaiserreichforschung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein vorgelegt, die nicht zuletzt durch die Nuanciertheit des eigenen Urteils besticht. Zusammen mit dem erwähnten Band von Frie ist es damit insbesondere für fortgeschrittene Studierende, aber auch sonstige an der komplizierten Geschichte des Kaiserreichs Interessierte vergleichsweise einfach, sich ein Bild von der Vielzahl der unterschiedlichen Sichtweisen und Argumentationen zu machen und damit zu einer Sicht des Kaiserreichs zu gelangen, die weit jenseits der naturgemäß beschränkten Perspektiven der Überblicksliteratur liegt. Somit gehört der Band in die Handbibliothek eines jeden, der sich ernsthaft mit dem Kaiserreich beschäftigt. Der Wermutstropfen besteht allerdings in dem für eine Paperback-Ausgabe relativ hohen Preis von annähernd 30 Euro, der nicht nur viele Studierende zurückschrecken lassen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, 3. Aufl., München 2006, S. 24-37.
2 Vgl. <http://blackwellpublishing.com/seriesbyseries.asp> (05.09.2008).
3 Vgl. Norman Housley, Contesting the Crusades, Oxford 2006; Gary R. Hess, Vietnam. Explaining Americas Lost War, Oxford 2008.
4 Matthew Jefferies, Politics and Culture in Wilhelmine Germany. The Case of Industrial Architecture, Oxford, Washington D. C. 1995; Ders.: Imperial Culture in Germany, 1871-1918, Basingstoke 2003.
5 Vgl. Ewald Frie, Das Deutsche Kaiserreich (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2004.