G. Dethlefs u.a. (Hrsg.): Modell und Wirklichkeit

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Titel
Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806-1813


Herausgeber
Dethlefs, Gerd; Owzar, Armin; Weiss, Gisela
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 56
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thorsten Smidt, Museumslandschaft Hessen Kassel

„Welches Volk wollte denn unter die preußische Willkürherrschaft zurückkehren, wenn es einmal die Wohltaten einer weisen und liberalen Regierung gekostet hat?“1 Napoleon umriss die Vision eines Modellstaates, als er seinem Bruder Jérôme im November 1807 die Verfassung für das neu gegründete Königreich Westphalen übersandte. Er wollte die Segnungen der französischen Revolution exportieren und die Deutschen auf diese Weise „moralisch erobern“. Doch lange hatte die Geschichtsschreibung kaum etwas davon wissen wollen, lagen die Modellstaatsexperimente doch gleichsam quer zu den sich ab 1800 herausbildenden Nationalstaaten. Der vorherrschende Topos der „Fremdherrschaft“ sollte erst in den 1970er-Jahren von sozial- und rechtsgeschichtlichen Fragen zurückgedrängt werden.2 Nun entwickelte sich ein Interesse für die Modernisierungsimpulse ebenso wie für die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Beschäftigung mit den napoleonischen Modellstaaten 200 Jahre nach ihrer Gründung. Trotz ihres raschen Zusammenbruchs werden sie mehr oder weniger dezidiert als Modell- bzw. Reformstaaten mit nachhaltiger Vorbildwirkung beschrieben.3

Ein inhaltliches Schwergewicht in dieser Diskussion ist der von Gerd Dethlefs, Armin Owzar und Gisela Weiß herausgegebene Band, der die umfangreichen Ergebnisse einer bereits 2004 in Münster abgehaltenen Tagung bündelt. Mit seinem Titel „Modell und Wirklichkeit“ bekräftigt er einerseits das Modellstaatsaxiom und zielt andererseits auf ein Desiderat, das Armin Owzar in seiner fundierten Einführung benennt: So seien „die mentalen Probleme in einer Übergangsphase vom Ancien régime zum modernen Verwaltungsstaat“ vermehrt zu beachten; Fragen nach Modernisierung dürften nicht über den „Einzelnen in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen“ hinwegsehen lassen (S. 13). Mehrere der insgesamt 28 Beiträge eröffnen eine mikrohistorische Perspektive auf die vielfältigen Reformbemühungen und die konkreten Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung. Als weiteres Verdienst des Bandes kommt hinzu, die Auswirkungen der Reformbürokratie in zwei Staaten zu vergleichen und dabei das Großherzogtum Berg aus dem Schatten des größeren Königreichs Westphalen hervortreten zu lassen.

Es ist einmal mehr Helmut Berding, der in einem einleitenden, grundlegenden Aufsatz die zunehmende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Königreich Westphalen auf die innere Widersprüchlichkeit eines Modell- und Satellitenstaat zurückführt. Bereits das erste Kapitel stellt dann aber die inzwischen überholte Frage nach „Scheinkonstitutionalismus oder Modellstaat“. Helmut Stubbe da Luz’ Bewertung der westphälischen Reichsstände als „politische Sandkiste“ (S. 38) wird diesem ersten Parlament eines deutschen Staates nicht gerecht, weil er die Mitwirkungsmöglichkeiten der Parlamentarier bei der Beratung der Gesetzentwürfe in den Kommissionen, bevor es überhaupt zur Abstimmung kam, unterschlägt.4 Dass es tatsächlich Anlaufschwierigkeiten auf dem Weg zu einer modernen Repräsentativverfassung gab, vermag dagegen Peter Fleck entlang der zeitgenössischen Diskussion etwa um die noch nicht vorhandene politisierte Bürgerschicht nachzuzeichnen.

Das umfangreichere zweite Kapitel wendet sich zunächst dem wichtigen Aspekt der Legitimation qua Repräsentation zu, um dann – gleichsam als Gegenprobe – nach Loyalität und Akzeptanz zu fragen. In dem Maße wie Hans Ottomeyer Jérômes Zeichen der Souveränität, also die Staatsporträts, sein Kronorden oder das aufwendige Zeremoniell, als Notwendigkeit angesichts der prekären Legitimationsbasis deutet, vermag Gerd Fenner auch die Architektur und die fast utopisch zu nennende Stadtplanung in der westphälischen Hauptstadt Kassel als Mittel der Herrschaftslegitimierung darzustellen. Wie erhellend eine Ergänzung der ansonsten dominierenden historischen um kunsthistorische Fragestellungen ist, zeigt gleichfalls Claudia Hattendorffs Analyse des politischen Bildeinsatzes am Beispiel des Friedens von Tilsit, der Geburtsstunde des Königreichs Westphalen. Nach Oliver Benjamin Hemmerles Beschäftigung mit dem Konzept der Schwesterrepublik untersuchen hingegen die Beiträge von Uli Kahmann, Peter Burg, Claudie Paye, Rüdiger Schmidt und Martin Knauer sehr ertragreich die Loyalität lokaler Amtsträger, Probleme der Zweisprachigkeit sowie den alten Traditionen folgenden Staatskult.

Das dritte Kapitel widmet sich schließlich „Kirche und Religion“. Der bahnbrechenden Bedeutung des Königreichs Westphalen für die Entwicklung des Reformjudentums geht Arno Herzig nach. Dass die Reformen dabei nicht uneigennützige Wohltaten, sondern immer der Staatsräson geschuldet waren, zeigen Jörg van Norden und Alexander Dylong eindrucksvoll an der Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche.

Ähnliche Schlussfolgerungen bietet auch das Kapitel „Justiz und Verwaltung“. So beschreibt Rainer Pöppinghege die Übertragung des französischen Rechtssystems als Versuch, die Rheinbundstaaten zu homogenisieren und an das kaiserliche Frankreich zu assimilieren. Sehr ertragreich können daran Nicola Todorov, Bettina Severin-Barboutie, Monika Minninger, Fritz Dross, Franz-Josef Jakobi und Bärbel Sunderbrink anknüpfen, wenn sie in ihren lesenswerten Studien lokale Beharrungskräfte für die zögerliche Umsetzung des französischen Verwaltungsmodells bis hin zur Judengesetzgebung oder Armenpflege verantwortlich machen.

Ob Gerd Dethlefs im Kapitel „Handel, Transport und Gewerbe“ materialreich die neue Gewerbefreiheit vorstellt, Annette Hennigs die Verkehrspolitik beschreibt oder Harald Witthöft die angestrebte Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten analysiert, in einer beachtlichen inhaltlichen Bandbreite verdichtet sich das Bild der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Es ist gleichzeitig aber auch ein großes Verdienst des Sammelbandes, den Eindruck dieses allumfassenden Anspruchs selbst zu vermitteln, einer alle Lebensbereiche umfassenden Reformbürokratie. So erscheint es nur konsequent, im Zusammenhang des Buches aber leider etwas unterbelichtet, auch „Erfolgsgeschichten“ aus dem Königreich Westphalen vorzustellen: Mit dem Gründer eines der ersten „Mischkonzerne“, Johann Gottlob Nathusius, beschreibt Ulrich Hauer einen Hauptprofiteur der neuen (Wirtschafts-)Ordnung. Abschließend (und in einem eigenen Kapitel vereinzelt) stellt Berthold Friemel kenntnisreich einerseits die befruchtende Wirkung der neuen Staatsordnung auf die Literaturverhältnisse dar, andererseits den etwa für die Brüder Grimm oder Johannes von Müller in Anschlag zu bringenden Topos des Rettens.

Insgesamt vermag der Band in seiner gelungenen Zusammenstellung makro- und mikrohistorischer Perspektiven die weitere Diskussion über die napoleonischen Modellstaaten ebenso zu befördern wie er auch als Einstieg in das Thema unbedingt zu empfehlen ist.

Anmerkungen
1 Brief Napoleons an Jérôme, 15.11.1807, zitiert nach: Michael Eissenhauer (Hrsg.), König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen (Ausst.-Kat. Museumslandschaft Hessen Kassel), München 2008, S. 532.
2 Vgl. Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807–1813, Göttingen 1973; Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974.
3 Vgl. etwa Veit Veltzke (Hrsg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln u.a. 2007; Bettina Severin-Barboutie, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813), München 2008; Michael Eisenhauer, König Lustik!?; demnächst erscheinen: Andreas Hedwig / Klaus Malettke / Karl Murk (Hrsg.) Das Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte. Ein Modellstaat in der Außen- und Innenwirkung, Marburg 2008; Jens Flemming / Dietfrid Krause-Vilmar (Hrsg.), „Fremdherrschaft“ und „Freiheit“. Das Königreich Westphalen als napoleonischer „Modellstaat“, Kassel 2009.
4 Vgl. Arnulf Siebeneicker, „Repräsentanten der ganzen westphälischen Nation“. Das Parlament im politischen System des Königreichs Westphalen, in: Michael Eissenhauer, König Lustik!?, S. 113-119.