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Titel
Die Romanovs.


Autor(en)
Stadelmann, Matthias
Erschienen
Stuttgart 2008: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolaus Katzer, Geschichte des 19. u. 20. Jh. unter besonderer Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr

Die Herrscher Russlands wurden zu Lebzeiten und von der Nachwelt dämonisiert oder verherrlicht, verabscheut oder romantisiert. Ihre außerordentliche Machtfülle faszinierte und schreckte gleichermaßen. Gleichgültig ließ sie niemanden. Die Stereotype, die durch die aktuelle dynamische Entwicklung Russlands wachgerufen werden – wie die Dichotomien von Erhabenheit und Barbarei, Reichtum und Elend, Großherzigkeit und Willkür – ziehen sich auch durch die vorrevolutionäre Geschichte und Geschichtsschreibung. Noch im gegenwärtigen Kult um die Gebeine der Familie des letzten Zaren, die am 17. Juli 1918 ausnahmslos dem Massaker eines bolschewistischen Exekutionskommandos zum Opfer fiel, und im patriotischen Spiel mit dem Romanow-Mythos deutet sich an, dass die postsowjetische Suche nach Tradition und Identität nicht abgeschlossen ist und immer wieder überraschende Blüten treibt.

Matthias Stadelmann hat sich von dieser Prädisposition nicht schrecken lassen. Ohnehin sind Dynastiegeschichten nichts für Melancholiker. Alles bewegt sich in vorgezeichneten Bahnen. Wie ein Korsett schnürt die Genealogie den historischen Stoff ein. Regentschaftszeiten suggerieren eine Sinnstruktur. Aus dem Dilemma, das Erwartbare darstellen zu müssen, führt kaum ein Weg heraus. Hinzu kommen Vorgaben des Verlags betreffend der Lesbarkeit für ein breiteres Publikum, des Umfangs oder des wissenschaftlichen Apparats.

Stadelmann beschränkt sich indessen nicht auf die Herrscherbiographien. Soweit es das Genre gestattet, fragt er nach den gesellschaftlichen Wurzeln der Selbstherrschaft, nach dem Wechselverhältnis von allmächtigem Staat und teils passiver, teils renitenter adliger, bäuerlicher, städtischer und schließlich proletarischer Gesellschaft sowie nach dem Spannungsverhältnis zwischen Zentralmacht und Peripherie, Reichsidentität und aufstrebendem Nationalismus. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Widersprüchlichkeit des Romanowschen Erbes für das moderne Russland des 20. und 21. Jahrhunderts zu konkretisieren. Bei allen Rückschlägen und persönlichen Unzulänglichkeiten einzelner Herrscher kann die Geschichte des Hauses Romanow als wiederholte „Suche nach dem vollkommenen System“ der Autokratie gelesen werden. Nikolaus I. (1825-1855) exerzierte sie beispielhaft, ohne dem Reich eine Ordnung mit Zukunft geben zu können. Stadelmann zeigt, dass es vor allem die Alternativlosigkeit der Selbstherrschaft war, die sie zum Garanten der „Stabilität“ des Imperiums machte. Weder die Volksrebellionen des 18. Jahrhunderts, noch der Aufstand aufgeklärter adeliger Offiziere 1825, weder die Bauern- und Studentenunruhen der 1860er-Jahre, noch die politische, soziale und nationale Revolution von 1905 vermochten die mächtigste Dynastie Europas in die Knie zu zwingen.

In sieben Sacheinheiten (neun Kapiteln) löst Stadelmann sich behutsam aus den personalgeschichtlichen Zwängen der Dynastiegeschichte, ohne freilich mit den chronologischen Konventionen brechen zu wollen. Jeder Zar und jede Zarin bzw. jeder Kaiser und jede Kaiserin finden gebührende individuelle Betrachtung. Allerdings werden nur drei, nämlich Peter I. (1682-1725), Katharina II. (1761-1796) und Alexander II. (1855-1881), in einer Weise exponiert, dass sie zum Signum einer Epoche werden. Stadelmann fasst diese für das neuzeitliche Russland konstitutiven Epochen unter die Formeln „Traditionsbruch und Umwälzung der Grundlagen der Herrschaft“, „Machtentfaltung des russischen Absolutismus im Zeichen von Aufklärung und Expansion“ sowie „Umbau am perfekten Gebäude“. Vor, zwischen und nach diesen Sattelzeiten gab es entsprechend viel Epigonentum, Schwäche, Stagnation und Verfall. Doch auch die Glanzzeiten erweisen sich als janusköpfig. Die Methoden der Herrschaftspraxis sind vielfach grausam; der Krieg erscheint mal als Konsequenz, mal als Ursache reformerischer Bestrebungen, ist jedenfalls eng mit dem Wandel des Imperiums verknüpft. Für den prunkvollen Aufstieg zur europäischen Großmacht im 18. Jahrhundert – das Kernstück der Romanowschen Erfolgsgeschichte – und für den fortwirkenden Zwang, technologisch mit den rivalisierenden Imperien Schritt halten zu müssen, sind also gewaltige menschliche und materielle Kosten zu veranschlagen.

Im Jahre 1913 feierte das Haus Romanow sein 300. Jubiläum als herrschende Dynastie. Wenig deutete auf den baldigen Zusammenbruch seiner Herrschaft. Dennoch führt eine Auseinandersetzung mit Nikolaus II. (1894-1917) unweigerlich in die Grundprobleme des gesamten Herrscherhauses und über dieses hinaus der neueren russischen Geschichte. Aufgestiegen aus den Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts gingen die Romanows in einer erneuten Zeit der Wirren zwischen 1914 und 1921 unter. Eine Rückkehr zur Monarchie lag seither außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Was als Scheitern auf der ganzen Linie erscheinen könnte, hat indessen nicht verhindert, dass das Imperium in einem komplexen Geschehenszusammenhang restituiert werden konnte. Es ist bis heute ein Paradigma russischer Politik geblieben. Insofern behält die Frage nach den Kontinuitäten der jüngeren russischen Geschichte über die Epochenbrüche von 1917 und 1991 hinweg ihre grundlegende Bedeutung. Stadelmanns politisch-dynastischer Längsschnitt durch drei Jahrhunderte verweist auf die fortdauernden Herausforderungen jeder Regierung Russlands – die kulturellen Leistungen der Eliten mit dem Bildungsnotstand der breiten Bevölkerungsmasse, den exorbitanten Reichtum einer kleinen Schar von Begünstigten mit dem kärglichen Dasein sozialer Unterschichten und den Glanz der Metropolen mit dem Elend der Provinz zu versöhnen. Die Autokratie stand für den „starken Staat“, dessen Beamte gleichwohl vor den Beharrungskräften des riesigen Landes entweder kapitulierten oder sich ihnen zu eigenen Gunsten anpassten.

Stadelmann erörtert am historischen Material letztlich auch aktuelle politische Existenzfragen Russlands. Wie viel „fremden“ Einfluss darf eine Regierung riskieren, ohne ihre Legitimität zu untergraben? Welches Reformtempo gewährleistet gleichermaßen Wandel und Stabilität? Stadelmanns These lautet, das „alte“ Imperium der Romanows halte trotz der aufwendig restaurierten Paläste und Kirchen nur sehr vordergründig Einzug in das gegenwärtige Russland der Hochhäuser aus Stahl und Glas und der Förderstätten für Öl und Gas. Letzteres werde stärker durch die Embleme der Sowjetzeit und die Wirkkräfte des säkularen Industriestaats geprägt. Doch darüber lässt sich streiten. Zweifellos lebt die Faszinationskraft der „untergegangenen“ vorrevolutionären Welt weitgehend vom Symbolischen und hat der Kultur- und Zivilisationsbruch der sowjetischen Moderne unverrückbare Tatsachen geschaffen. Dennoch beflügeln weiterhin die selbstherrlichen Gestalter des neuzeitlichen Russlands die gegenwärtigen imperialen Phantasien. Das Bestreben des postkommunistischen russischen Staates, seinem Anspruch auf eine Großmachtstellung durch Anleihen in der vorrevolutionären Geschichte Nachdruck zu verleihen, ist unverkennbar.

Vor diesem Hintergrund bedeutet das Erscheinen einer neuen Dynastiegeschichte zweierlei: Sie liegt einerseits im Trend des Büchermarkts. Zudem entspricht sie der sich abzeichnenden Rückbesinnung der historischen Wissenschaft auf die „Realien“ der politischen Geschichte. Andererseits bietet sie die Chance eines Korrektivs gegenüber einer statischen Sicht auf die Autokratie. Stadelmann nutzt das klassische Genre, um das Bild der Romanows vor dem breiteren Hintergrund der Geschichte Russlands zu nuancieren. Sein kleiner Band ist anders konzipiert als etwa die verdienstvolle Sammlung von knappen Zarenbiographien, die Hans-Joachim Torke herausgegeben hat.1 Stadelmann geht es nicht nur um individuelle Porträts, sondern um Epochenprofile, Zusammenhänge und Zäsuren über die einzelnen Regentschaften hinweg. Allerdings reicht seine Gestaltungsfreiheit nicht so weit, dass er hätte ein grundlegend eigenes Konzept zum Tragen bringen können, wie es Richard Wortman mit seinem innovativen Blick auf die „inszenierte“ autokratische Macht entwickelt hat.2 Das neu inspirierte Interesse an den Romanows sollte genutzt werden, die Dynastiegeschichte mit der seit einigen Jahren entwickelten „Neuen Imperialgeschichte“ zu verknüpfen.3 Eingebunden in eine vergleichende Forschung könnte sie dazu beitragen, ein multiperspektivisches Bild von der Autokratie als einer entscheidenden Triebkraft der historischen Entwicklung zu gewinnen. In diesem Zusammenhang wäre nicht nur nach der symbolischen, sondern auch nach der System bildenden Kraft der „Familie“ bzw. aller Zweige der Dynastie für Gesellschaft, Ökonomie, Staat, Armee und Imperium zu fragen.

Anmerkungen:
1 Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren 1547-1917. München 1995. Die dritte aktualisierte Auflage erschien 2005.
2 Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Bd. 1-2. Princeton 1995-2000.
3 I.V. Gerasimov u.a. (Hrsg.), Novaja imperskaja istorija postsovetskogo prostranstva. Sbornik statej. Kazan’ 2004; Aleksej Miller (Hrsg.), Rossijskaja imperija v sravnitel’noj perspective. Sbornik statej. Moskau 2004; Jane Burbank / David L. Ransel (Hrsg.), Imperial Russia: New Histories for the Empire. Bloomington, Indianapolis 1998.

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