V. Grieb: Hellenistische Demokratie

Titel
Hellenistische Demokratie. Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen


Autor(en)
Grieb, Volker
Reihe
Historia Einzelschriften 199
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 77,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marietta Horster, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Volker Grieb stellt in seiner Hamburger Dissertation eine klare These zur Diskussion: Griechische Poleis in hellenistischer Zeit waren nicht nur der Form nach demokratisch organisiert, sondern die Bürgerschaften dieser Städte lebten zumindest bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. eine aktive Demokratie und engagierten sich (in ihrer in der Volksversammlung organisierten Gesamtheit) für ihr jeweiliges Gemeinwesen. In welchen konkreten Formen und mit welchen Mitteln dies geschah, war abhängig von den außenpolitischen Umständen und Einflüssen, mit denen die jeweilige Stadt konfrontiert und in die sie eingebunden war. Grieb untersucht diese Annahmen anhand von vier Städten: Athen, Milet, Kos und Rhodos.

Mit seiner These einer engagierten Bürgerschaft wendet sich der Autor explizit gegen die in der Forschung vertretene Ansicht, dass die weiterhin existierenden Institutionen hellenistischer Demokratien im wesentlichen von einer kleinen Gruppe von Honoratioren gesteuert und dominiert wurden, die durch ihr finanzielles und politisches Engagement fast schon als Oligarchie bezeichnet werden könnten, deren Euergetismus fast eine Art von Regierungssystem sei.1 Auch wenn in den letzten 20 Jahren zunehmend auch die gesellschaftspolitische Vitalität und institutionelle Vielfalt hellenistischer Poleis thematisiert worden sei, so sei doch die Frage nach Funktion und Rolle von Ekklesia und der Bürgerschaft kaum gestellt worden.

Die von Grieb entwickelten Kriterien, um seine These zu prüfen, sind vor allem: 1) die Exklusivität von Bürgerrecht und Bürgerschaft, 2) die Freiheit in der Gestaltung der Außenpolitik durch die Volksversammlung, 3) die Existenz von (außenpolitisch orientierten) Interessengruppen, die um Zustimmung in der Volksversammlung konkurrieren, um ihre Interessen durchzusetzen, 4) die Abhängigkeit des Engagements der Wohlhabenden von der Volksversammlung: durch Los oder Wahl, durch Kontrolle und durch die Ehrung für Ämter, Liturgien, durch Richterentsendung und Gesandtschaften, 5) die Auswahlkriterien, die Voraussetzungen oder auch die Offenheit der Auswahl durch Losverfahren bei der Besetzung von Ämtern und der entsprechend breiten Beteiligung der Bürger durch die Übernahme von Aufgaben für ihre Stadt. Diese und einige andere Kriterien prüft Grieb in den vier Hauptkapiteln seines Buches an den ausgewählten Beispielstädten durch.

Einige der vom Autor diskutierten Thesen und Kriterien muten allerdings fast wie Windmühlenkämpfe an, so zum Beispiel die Exklusivität des Bürgerrechts in einer Stadt. Da mit wenigen Ausnahmen, in denen in Dekreten und in der Geschichtsschreibung die gesamte Bevölkerung einer Stadt angesprochen ist (und beispielsweise mit plethos bezeichnet wird), unsere Quellen sich meist auf die Bürger (das Volk) oder aber auf einzelne andere klar definierte Gruppen (wie die xenoi) beziehen, ist die Diskussion um die Exklusivität der Bürgerschaft nicht ganz nachvollziehbar. Außerdem unterstellt eine solche Argumentation vielleicht sogar eine Quantifizierung, in der die übrige freie Bevölkerung diejenige mit Bürgerrecht zahlenmäßig übertreffen würde? Die Exklusivität ist wohl durchaus graduell – in der Art und Weise der Leichtigkeit des Erwerbs des Bürgerrechts – aber niemals grundsätzlich in Frage gestellt worden, auch nicht von denen, die davon ausgeschlossen waren. Eine Aussage wie: „Daß die Bürgerschaft innerhalb der Bevölkerung der Polis bereits eine exklusive Gruppe ausmachte, die von ihrem politischen Monopole zahlreiche Bewohner ausschloß, bleibt in der bisherigen Forschung zudem weitestgehend unberücksichtigt.“ (S. 319) ist für die Frage nach demokratischer Praxis und Selbstverständnis der Bürger irrelevant und ist auch zu Recht in diesem Kontext von der Forschung vernachlässigt worden.

Auch Griebs Vermeidung der Wörter Volk und Volksversammlung, da diese missverständlich seien, zugunsten von Bürgerschaft und Ekklesia, ist sicher nicht notwendig, denn in der deutschen wie in (fast?) allen modernen Sprachen gibt es einen klaren Bedeutungsunterschied zwischen dem territorial gemeinten Begriff der Bevölkerung und dem unter anderem auch durch den Rechtsstatus definierten Begriff des Volkes. Die Argumentation, dass die außenpolitische Situation die innenpolitischen Verhältnisse ganz grundlegend beeinflusst und es in der Zeit bis zur Dominanz durch die Römer immer unterschiedliche Interessengruppen in den Poleis gegeben habe, die wesentlich auch durch ihre unterschiedlichen außenpolitischen Präferenzen und Interessen getrieben seien, wird bis auf Athen in den anderen drei Beispielpoleis mit der Existenz von promakedonischen und prorömischen Parteien nur für den Dritten Makedonischen Krieg nachgewiesen und damit nur für eine kurze Zeit. Allerdings ist durchaus fraglich, ob selbst in dieser kritischen Situation eine derart klare Trennung von Gruppen überhaupt möglich ist und die Situation trifft. Für die Rhodier wird diese Trennung der Interessengruppen ja erst ex-post (durch die Reaktion der Römer auf die Rhodier nach der Schlacht von Pydna) und außerdem aus römischer Sicht konstruiert, worauf dann die Rhodier ihrerseits entsprechend drastisch und eindeutig reagieren müssen, um noch weitere wirtschaftliche und politische Sanktionen abzuwenden.

Problematisch ist sicher auch, dass nicht immer die gleichen Kriterien bei der Beurteilung der verschiedenen Städte angewandt werden. So wird der Diskussion in der Sekundärliteratur zu Milet und Didyma entsprechend für diese Stadt ein Unterkapitel „Kult und Politik“ eingeführt (S. 221–224), da in dieser Stadt in hellenistischer Zeit eine Verknüpfung von Kult und Politik belegt sei (S. 221). Zentrales Argument für diese Sondersituation in Milet ist, dass die Dekrete und Bürgerrechtsverleihungen durch die Bürgerschaft im Delphinion angebracht worden sind. Außerdem werden in wenigen Texten wie im Vertrag mit Mylasa dann auch Prozession und Opferhandlungen genannt. Vergleichbares ist aber mit der Aufstellung der Dekrete in den Heiligtümern von Athen (Akropolis usw.) und Kos (Asklepieion) als zentralen Publikationsorten ‚politischer‘ Entscheidungen durchaus bekannt (was Grieb zum Beispiel S. 152 auch erwähnt). Eine Verknüpfung von Kult und Politik ist daher anders als von Grieb postuliert nicht die Ausnahme, sondern die Normalität. Die Frage nach der Rolle von wohlhabenden Stiftern wird in einigen Fällen eher verdrängt als diskutiert: Wenn beispielsweise ein koischer Bürger ein Heiligtum für Zeus und Demos stiftet, so ist dies nicht ohne weiteres als eine deutliche und besondere Manifestation der demokratischen Tradition dieser Bürgerschaft zu interpretieren (S. 193).

Auch wenn es einiges an diesem Buch methodisch wie inhaltlich zu kritisieren gibt: Grieb hat mit seiner grundsätzlichen Infragestellung der Dominanz von Honoratiorenregimes in hellenistischen Städten ebenso wie mit seiner Fokussierung auf die demokratische Praxis und das Selbstverständnis der Bürger einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um den Zustand der hellenistischen Poleis und die Funktionsmechanismen gesellschaftlicher Interaktionen in den griechischen Städten hellenistischer Zeit geleistet.

Anmerkung:
1 Grieb wendet sich hier (S. 14f.) explizit gegen Paul Veyne, Le pain et le cirque: sociologie historique d’un pluralisme politique, Paris 1976 [im Literaturverzeichnis vergessen], Friedemann Quaß, Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens. Untersuchungen zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit, Stuttgart 1993 und Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn ²1994.

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