C. Mauch u.a. (Hrsg.): The World beyond the Windshield

Titel
The World beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe


Herausgeber
Mauch, Christof; Zeller, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
$ 22.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Ruppmann, Bad Homburg

Als Wolfgang Schivelbusch vor rund 30 Jahren seinen kulturwissenschaftlichen Quervergleich zur Geschichte der Eisenbahnreise veröffentlichte, bereicherte er die Geschichtsschreibung mit einem neuen Genre.1 Seine Studie verband den technischen Wandel im Verkehrswesen, ausgelöst durch das innovative Verkehrsmittel Eisenbahn, mit den sozialen, mentalen und psychischen Implikationen auf die Gesellschaft. Erstaunlicherweise fand der Ansatz Schivelbuschs in der Geschichtsschreibung kaum Nachfolger. Die meisten historischen Studien zu den Verkehrsmitteln Automobil und Flugzeug versäumten die Integration aller Gesichtspunkte des von ihnen induzierten Wandels, ganz abgesehen von der unzureichenden Berücksichtigung spezifischer technik-, wissenschafts- oder wissensgeschichtlicher Entwicklungen. Von solcherlei Ausblendungen besonders betroffen war der Straßenbau, obwohl er die unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung des schienenungebundenen, motorisierten Individualverkehrs zu Lande darstellte. Seit der zunehmenden Verbreitung des Automobils ab Mitte der 1920er-Jahre durchlief der Verkehrsweg Straße innerhalb weniger Jahrzehnte eine dramatische Evolution. Im Endergebnis zeitigte die Motorisierung des Straßenverkehrs völlig neue Straßenarten. Ihre Herausbildung differierte in den Ländern jenseits und diesseits des Atlantiks, nicht nur wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Prozesses, sondern auch aufgrund der abweichenden Aufladung mit gesellschaftspolitischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Motiven.

Es ist das Verdienst der beiden Herausgeber Christof Mauch und Thomas Zeller, mit ihrem Sammelband Teilaspekte dieses unbekannten Kapitels der Kulturgeschichte des modernen Straßenwesens in das Bewusstsein der historischen Forschung zu heben. Nach der etwas vollmundigen Ankündigung des Verlagsprospekts wird hier der „erste systematische, akademische und vergleichende Blick auf das Beziehungsgefüge zwischen Straße und Landschaft“2 vorgestellt – und eine bereits vordem publizierte Studie großzügig negiert.3 Der Sammelband umfasst zehn Beiträge, wovon sechs Straßenbauten in den USA behandeln, während sich die restlichen vier mit den Autobahnen in Italien, Deutschland (BRD und DDR) und Großbritannien beschäftigen. Dargestellt wird die von kulturellen Bedingungslagen und dem jeweiligen Zeitgeist bestimmte Evolution der einzelnen Straßentypen. Das Interesse der Autoren gilt vor allem dem im Ablauf der Zeit eingetretenen technologischen, sozialen und ästhetischen Wandel im Straßenbau, um an der Schnittstelle zwischen kultureller Disposition, ‚gebauter’ Umwelt und der so genannten ‚unberührten Natur’ Einsichten über die Formierung von Straßenlandschaften zu gewinnen. Erfreulicherweise wird das Thema aber nicht allein aus der Perspektive staatlicher Entscheider und der Fach-Ingenieure betrachtet. Vielmehr kommt auch der Blickwinkel der Straßenbenutzer zur Sprache, die aus höchst unterschiedlichen Gründen auf Straßen unterwegs sind und deshalb keinesfalls als passive Verkehrsteilnehmer angesehen werden dürfen. Die ästhetische Konzeption einer Straße, das heißt ihre möglichst selbstverständliche und unauffällige Einbettung in die vorhandene Landschaft, stellt eine weitere Dimension der historischen Betrachtung des Straßenbaus dar. Heute impliziert dieses Vorgehen auch die Prüfung der Umweltverträglichkeit.

Die Qualität des Sammelbandes ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der komprimiert geschriebenen Einzelbeiträge und den eingestreuten Reflexionen zu den kulturellen Unterschieden zwischen US-amerikanischem und europäischem Autobahnbau. Rudi J. Koshars Beitrag zur „Fahrkultur und Bedeutung der Straßen“ (S. 14-34) baut unter anderem auf der These auf, dass Aneignung und Akzeptanz einer zeitgemäßen (also nach dem jeweiligen Stand der Anschauung ‚modernen’) (Schnell)Straße nicht auf der Arbeitsqualität der Straßenbau-Ingenieure und den Vorgaben der Behörden beruht, sondern durch die Erlebnisse und Eindrücke der regelmäßig auf ihr verkehrenden Autofahrer entsteht. Das Autofahren schuf somit im Zeitalter des Massenkonsums selbst auf "Hitlers Autobahnen" die Grundlage für die Demokratisierung der Verkehrsteilnehmer. Timothy Davis (S. 35-58) verortet den Höhepunkt der amerikanischen Parkway-Entwicklung zwischen den Jahren 1915 und 1935. ‚Parkways’ stellten damals den Inbegriff automobilgerechter Straßen dar, weil sie anscheinend die Dichotomie zwischen dem verkehrstechnischen Fortschritt und den traditionellen amerikanischen Werten in gelungenen Symbiosen miteinander versöhnten. Die zunehmende Motorisierung ab etwa Mitte 1930 und der wachsende Pendelverkehr zwischen den Geschäftszentren und den endlosen Vorstädten änderten Form und Funktion der Verbindungsstraßen: Sie wurden vierspurig gebaut, auf höhere Geschwindigkeiten ausgelegt und nunmehr ‚Freeways’ genannt. Die stetig weiter steigenden Forderungen des Massenverkehrs nach Effizienzsteigerung und Verkehrssicherheit transformierte viele der traditionellen Routen nach 1950 zu ‚Expressways’; der Bau der ‚Interstate Highways’ tat ein übriges, um viele der Parkways eine Zeit lang zu ‚Museumsstraßen’ degenerieren zu lassen.

Der Beitrag Anne Mitchel Whisnant (S. 59-78) untersucht die komplexen Vorgänge bei der Konzeption des bekannten Blue Ridge Parkways durch die südöstlichen Appalachen. Sie weist nach, dass der für Bau und Unterhalt der Straße verantwortliche National Park Service es bewusst darauf angelegt hatte, die Straße als Bestandteil eines rückständig gebliebenen Gebietes innerhalb der Vereinigten Staaten zu inszenieren und aus touristischen Gründen auf diesem Entwicklungsstand zu verharren. Die immer wieder kolportierte Geschichte von einem Verkehrsweg in Harmonie mit der umgebenden Landschaft war somit das Produkt politisch-ökonomischer Interessen, die jedoch die kulturell tief verwurzelte Erwartungshaltung amerikanischer Autofahrer sehr erfolgreich bediente. Ähnlich aufschlussreich ist die Studie von Suzanne Julin (S. 79-93) über zwei äußerst sorgfältig konzipierte Panoramastraße, den Needles Highway und die Iron Mountain Road im Custer State Park in den Black Hills, South Dakota. Den Bau regte der Gouverneur zusammen mit der Touristik-Industrie schon in den 1920er-Jahren an. Die Ausflugsstraßen überraschten abenteuerlustige Automobilwanderer mit außergewöhnlichen Naturschauspielen, einzigartigen Landschaftsbildern und unerwarteten Anblicken (Mount Rushmore Memorial).

Ein ganz anderes Thema nahm sich Carl A. Zimring vor (S. 94-107), nämlich die so genannte „Straßenrand-Wirtschaft“, wie Motels, Schnell-Imbisse, Tankstellen, Plakatwände, Anzeigetafeln und Schrottplätze – beliebte Topoi für Darstellungen in allen Medien, wenn es darum geht, das ‚typisch Amerikanische’ in Bildern einzufangen. Als zeitliche Trennlinie für die Entwicklung wählte er das ‚Autobahn-Verschönerungs-Gesetz von 1965’ (Highway Beautification Act of 1965). Bis ungefähr 1960 wuchs die Geschäftstätigkeit entlang der Highways fast ungehemmt, so dass die Auswüchse einer Wegwerfgesellschaft schließlich massiven Widerstand hervorriefen. Die den Sammelband beschließende Studie von Jeremy L Korr (S. 187-210) über den Capital Beltway unterscheidet sich signifikant von den übrigen Arbeiten, weil sie sich mit einer stark befahrenen urbanen Ringstraße rund um Washington DC beschäftigt, die 64 Meilen durch dicht besiedeltes Gebiet führt und deshalb zugleich überregionale, regionale, lokale und städtische Verkehrsbedürfnisse befriedigen muss. „Inside the Beltway“ ist seit etwa 1980 die Metapher für Nachrichten über das politische Geschehen in der amerikanischen Hauptstadt (S. 187). Die Straße wurde ab 1950 geplant und realisiert, ohne dass die betroffene Bevölkerung die Möglichkeit zur Mitsprache hatte. Nach ihrer Fertigstellung schied sie die Bürger in einen „innerhalb“ und einen „außerhalb“ des Straßenzugs wohnenden Teil.

Die ersten norditalienischen Autobahnen aus den 1920er-Jahren galten in der deutschen Autobahnliteratur immer als die großen Vorbilder des hiesigen Geschehens ab 1926. Umso überraschender ist der Befund von Massimo Moraglio (S. 108-124), dass es den italienischen Straßenbauern vor und nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem um die Herstellung effizienter Landverbindungen ging, mit denen Kommunikation, Transport und Verkehr in einem eisenbahnarmen Land höchstmöglich gesteigert werden sollten. Thomas Zeller (S. 125-142) repetierte seine schon mehrfach veröffentlichten Erkenntnisse über den Widerstreit zwischen Straßenbauern und Landschaftsarchitekten im Dritten Reich und dessen Wandel im demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland. Analog dazu kondensierte Axel Dossmann (S. 143-167) die Substanz seiner Dissertation zu der Grundaussage, dass die Autobahnbehörde in der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg (wohl auch mangels finanzieller Ressourcen) keinen Sinn für Ästhetik und Ökologie entwickelte, jedoch beim Brückenbau Wert auf ein ‚klassisches’ Erscheinungsbild legte, mit dem man uneingestanden an die während des Dritten Reiches im thüringischen und sächsischen Raum errichteten Vorbilder anknüpfte. In Großbritannien begann der Autobahnbau erst in den 1950er-Jahren. Wie Peter Merriam zeigt (S. 168-186), versuchten die Landschaftsarchitekten über ihr gärtnerisches Wissen um die Jahrhunderte alte Tradition der geformten Parklandschaften Einfluss auf die Streckenführung und -gestaltung zu nehmen, was ihnen nur in den späten 1950er-Jahren gelang.

Die Narrative zu den einzelnen Untersuchungsobjekten weckt die Neugier auf mehr vergleichende Forschungen, selbst wenn Straßengeschichte als Randaspekt der übergeordneten Verkehrsgeschichte gedeutet wird. Sie räumen mit manchem Mythos auf und schaffen Klarheit, wo bisher nur Vermutungen herrschten. Gerne hätte man aber auch etwas über den Autobahnbau in Frankreich, in der Schweiz oder in den Niederlanden während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren, der sich trotz einer Pfadabhängigkeit zum vorhandenen System im Nachbarland wegen der nationalen Konstellationen doch in je eigener Weise entwickelt hat. Ob es für den Sammelband notwendig war, den neuen Zweig der „Odology“ (S. 3), das heißt der Wissenschaft der Straßenforschung, in Clios weiten Garten einzuführen, sei dahingestellt.4

Anmerkungen:
1 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977.
2 Strohkark, Ingrid, Die Wahrnehmung von "Landschaft" und der Bau von Autobahnen in Deutschland, Frankreich und Italien vor 1933, Berlin 2001 [Diss., Elektronische Ressource].
3 Verlagsprospekt der Ohio University Press aus dem Jahr 2007, S. 2.
4 Eine etymologische Ableitung dieses Begriffs wird erstaunlicherweise nicht gegeben. Möglicherweise verbirgt sich darin das althochdeutsche Wort „Ot“ (Kurzform „Odo“), was so viel wie „reicher Erbbesitz“ bedeutet.

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