G. A. Lehmann (Hrsg.): Römische Herrschaft im Germanien

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Titel
Römische Präsenz und Herrschaft im Germanien der augusteischen Zeit. Der Fundplatz von Kalkriese im Kontext neuerer Forschungen und Ausgrabungsbefunde


Herausgeber
Lehmann, Gustav Adolf; Wiegels, Rainer
Reihe
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, 279
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
449 S.
Preis
€ 196,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kehne, Historisches Seminar, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

Der Sammelband, der neuere Forschungen zur augusteischen Durchdringung Germaniens, zu archäologischen Befunden bei Kalkriese, ihrer historischen Einordnung als Relikte der Germanicusfeldzüge oder der Varusschlacht sowie zu deren Quellen bietet, enthält (nur) 20 der auf einer Tagung der Universität Osnabrück und der Kommission ‚Imperium und Barbaricum‘ der Göttinger Akademie der Wissenschaften in Osnabrück im Jahr 2004 geleisteten Beiträge, die hier lediglich in Auswahl behandelt werden können.

Die ersten vier Aufsätze referieren archäologische und bodenkundliche Forschungen in Kalkriese. Susanne Wilbers-Rost fasst „Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen auf dem ‚Oberesch‘“ (S. 9–28) zusammen; ihr Versuch, damit Dios Bericht über die Varusschlacht zu korrigieren, beinhaltet im Glauben an die Identität von Kalkriese als Stätte der Varusschlacht zahlreiche methodisch verfehlte Zirkelschlüsse. Birgit Großkopf präsentiert in „Die menschlichen Überreste der Fundstelle Kalkriese-Oberesch“ (S. 29–36) den Befund von durchweg zusammen mit Tierknochen in Gruben gelangten Knochen männlicher Erwachsener, wobei „die Dauer der Oberflächenlagerung [...] nicht exakt eingegrenzt werden“ kann (S. 34); dass bislang Knochen von Kindern und Frauen fehlen, macht diesbezügliche Varusschlacht-Theorien zweifelhaft. Divergenzen zu antiken Topographiebeschreibungen offenbaren auch Eva Tolksdorf-Lienemanns „Bodenkundliche Untersuchungen zu Geländestrukturen und Nutzungen der historischen Oberfläche zur Zeit um Christi Geburt“ (S. 37–46), die die Gegend als offene Siedlungslandschaft charakterisieren. Joachim Harnecker und Günther Moosbauer resümieren zur Kalkrieser-Niewedder Senke „Untersuchungen zu den militärischen Auseinandersetzungen“ (S. 47–73), nach denen „die dokumentierten Befunde außerhalb des ‚Oberesch‘ überwiegend in einem anderen zeitlichen und kulturellen Kontext und damit nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit Kampfhandlungen“ stehen (S. 64); die räumliche Ausdehnung des Kampfplatzes Kalkriese wäre damit weit geringer als angenommen und eine sich kilometerlang hinziehende Schlacht archäologisch nicht beweisbar.

Unter den sechs epigraphisch oder numismatisch ausgerichteten Beiträgen stellte sich Rainer Wiegels (S. 89–111) der Frage: „Legio I in Kalkriese? Zu einer Ritzinschrift auf dem Mundblech einer Schwertscheide“. Die Anwesenheit des inschriftlich genannten T(itus) Vibi(i) c(enturia) Tadi(i) l(egionis) p(rimae) im kalkrieser Kampfgeschehen ist deswegen so brisant, weil die einzige in spätaugusteisch/frühtiberischer Zeit existierende legio I erst in der von Tiberius 9/10 n.Chr. gebildeten und Caecina unterstellten niedergermanischen Heeresgruppe nach Germanien kam und im Zuge der Germanicusfeldzüge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kalkriese passierte. Daran vermögen alle Spekulationen über eine unbeweisbare frühere Verlegung nach Mainz, Vexillationen und anderes mehr nichts zu ändern, mit denen Wiegels diesen Befund gemäß seiner Identifizierungsthese „von Kalkriese als Kampfplatz im Kontext der Varus-Niederlage“ (S. 95) wegzuinterpretieren versucht. Frank Berger, auf dessen methodisch ungenügende Ergebnissicherung die numismatische Fehldatierung der Kalkriesefunde zurückgeht, dokumentiert seine Wissenschaftsferne erneut schon im Titel seines Beitrages: „Unverändert: Die Datierung der Varusschlacht“ (S. 113–117). Diese Feststellung beruhigt, zumal auf der Tagung niemand 9 n.Chr. als das Jahr der clades Variana in Zweifel zog. Seine Beurteilung des durch Neufunde nicht nennenswert veränderten Münzspektrums stützt sich weiterhin nur auf Münztypen, da er offenbar noch nicht verstanden hat, dass sich die wissenschaftlich relevante numismatische Diskussion längst nicht mehr darum dreht – bezeichnenderweise fehlt im Kalkrieser Fundspektrum schon der in die Jahre nach 5 n.Chr. datierte zweite Gaius/Lucius-Typ 1 –, sondern um sekundäre Datierungsmerkmale wie Kontermarken oder Einhiebe. Am 12. Juni 2004 war er in Osnabrück ohnehin der einzige im Raum, der zuletzt noch an seiner These von Kalkriese als finalem Schlachtfeld der Varusschlacht festhielt.

Zur Aussagekraft kalkrieser Fundmünzen äußerten sich demgegenüber professionell David Wigg-Wolf (S. 119–134) und Reinhard Wolters („Kalkriese und die Datierung okkupationszeitlicher Militäranlagen“, S. 135–160). Beide vergleichen die Zusammensetzung von Münzfunden in römischen Plätzen mit denen in Kalkriese und betonen korrekt die Bedeutung der Gegenstempel für die Feindatierung der relativ emissionsarmen Zeit zwischen 3 v. und 16 n.Chr. Ersterer behauptet zwar „the battlefield at Kalkriese must surley be dated to AD 9“ (S. 133), kann aber weder dieses, noch den von ihm angenommenen massiven Zufluss an Bronzen in die Rheinlande für die Zeit vor 16 n.Chr. beweisen und fragt: „Should we expect to find a ‚Germanicus horizon‘ at all?“ 2 Auch Wolters – übrigens der einzige im Sammelband vertretene Kritiker der Theorie von Kalkriese als Ort der Varusschlacht – stellt diese Frage (S. 142), zumal Einigkeit darüber bestehe, dass die Münzen des Varus- und Germanicus-Horizonts zu 99 Prozent identisch sind, korrigiert Fehldatierungen bezüglich Bergers ‚Germanicus-Horizont‘ östlich des Rheins, für den nur noch sieben Stücke übrig bleiben, so dass das Fehlen der wenigen 9–16 n.Chr. geprägten Münzen in Kalkriese dieses als Germanicus-Gefechtsfeld nicht ausschließen. Der Vergleichsfall Oberaden, wo „trotz kontinuierlicher Münzherstellung die aktuellsten Edelmetallprägungen bei der Aufgabe des Lagers mindestens 6 Jahre alt“ waren, zeige (S. 151), wie wenig Datierungskraft dem Fehlen aktueller Prägungen an einem Militärplatz zukommt. Überhaupt sei das dreiphasige Einteilungsschema von Konrad Kraft nicht mehr haltbar, weil sich „faktisch nur zwei numismatische Horizonte unterscheiden“ lassen (S. 145): Drusus/Oberaden und Varus/Germanicus/Haltern/Kalkriese. Nach Hinweis auf weitere Zirkelschlüsse und andere methodische Fehler von Berger (S. 148) präsentiert Wolters für die „Ausgabezeit“ der Kalkriesefundmünzen überzeugend ein bis in die Mitte des 2. Jahrzehnts n.Chr. hineinreichendes Verteilungsmodell. In der chronologischen Abfolge der Fundplätze Oberaden – Anreppen – Halten – Kalkriese ist dessen Münzspektrum der Struktur nach jünger als das von Haltern, für das sich nicht nur in literarischen Nachrichten, sondern auch archäologisch „eine vielleicht sogar über 9 n.Chr. hinausgehende Datierung anzeigen könnte“ (S. 156f.), wonach „die jahrzehntelang als fester Orientierungsrahmen dienende [...] Datierung von Haltern [...] auf 9 n.Chr. [...] nicht mehr als unumstößlich gesehen wird; ihre numismatische Basis ist mit der differenzierteren Sicht des Fundkomplexes Augsburg-Oberhausen längst korrodiert“ (S. 157).

Unter den fünf Beiträgen zu anderen Römerplätzen Germaniens, behandelt Johann-Sebastian Kühlborn als Kenner der Materie souverän „Die Ausgrabungen in der frühkaiserzeitlichen Militäranlagen an der Lippe“ (S. 201–211), so etwa die spektakulären Speicherbauten im mehrphasigen Anreppen und das 1997 entdeckte Saisonlager Haltern-Ost; durch dessen Clavikula-Tor erscheint eine Datierung Kneblinghausens in augusteische Zeit „nicht mehr undenkbar“ (S. 210f.). Wolfgang Ebel-Zepezauer stellt „Dorsten-Holsterhausen als Waffenplatz in augusteischer Zeit“ (S. 213–224) mit sieben Marschlagern vor. Dass bislang weder frühtiberische Münzen noch der als ‚Halterner Hausmarke‘ anzusehende IMP/Lituus-Gegenstempel gefunden wurden, widerlegt Thesen gleichmäßiger Münzverteilung in frühkaiserzeitlichen Lagern; und dass selbst an diesem in den Feldzügen nach 9 n.Chr. zwingend genutzten Transitplatz ein numismatischer Germanicushorizont fehlt, ist ein weiterer Hinweis auf seine Identität mit dem Haltern/Kalkriesehorizont. Im längsten aller Beiträge, der wegen wichtiger Aussagen zu möglichen Germanicushorizonten schon eine eigenständige Behandlung erfordert, referiert Johannes Heinrichs (S. 225–320) „zunehmende Skepsis gegenüber der Identifizierung des Kampfplatzes bei Kalkriese mit dem letzten und entscheidenden Ort der Varusschlacht“ und Kritik an dessen „münzchronologisch fundierter Datierung“. Die einzige mögliche Lösung des numismatischen Streites (S. 229) sei die von Kehne geforderte Dokumentation eines „von römischem Militär zweifelsfrei bis ins Jahr 16 n.Chr. okkupiert[en]“ 3, aber nicht numismatisch datierten niederrheinischen Platzes, den Heinrichs im Domareal Kölns gefunden zu haben meint, wo dieser in einem mit einer Brandschicht versiegelten Komplex eine spätaugusteische Münzreihe zu isolieren versucht. Da diese Brandschicht jedoch nur numismatisch auf 14/15 n.Chr. datiert wird, münden alle daraus resultierenden Folgerungen in weitere Zirkelschlüsse.

Armin Becker berichtet fundiert über „Lahnau-Waldgirmes. Eine römische Stadtgründung im Lahntal aus der Zeit um Christi Geburt“ (S. 321-330) und unterstreicht den zivilen Charakter der 7,7 ha großen Anlage ohne eindeutige Militärbauten. Die Mehrphasigkeit der Innenbebauung ist offenkundig, besonders am Zentralgebäude; bis auf vier Gebäude wurden alle Bauten und die Befestigung durch Feuer zerstört. Auffälligerweise wurden dabei Bruchstücke einer extrem fragmentierten Bronzestatue in zwei Gruben von neutralem Material überdeckt, bevor die endgültige Verfüllung mit Brandschutt erfolgte. Ähnliche Befunde ergaben sich am Osttor, woraus zwischen Räumung bzw. Teilzerstörung der Anlage und deren Niederbrennen eine längere Zeitspanne folgt. Eine weitere Besonderheit ist die abschließende Planierung des letztgenannten Areals, die Becker zeitlich parallel zum unmittelbar benachbarten 2,9 ha umfassenden Feldlager sieht. Als Enddatum nimmt er 9 n.Chr. an. Aber die Zerschlagung des Reiterstandbildes würde auch gut in den Kontext der Meuterei 14 n.Chr. passen, so dass die Räumung, endgültige Zerstörung und Planierung dann in die Zeit der Germanicusfeldzüge fielen.

Drei Beiträge widmen sich literarischen Quellen der Varusniederlage. Ulrich Schmitzer stellt als diesbezüglich besonders ausgewiesener Kenner die Frage: „Tatsachenbericht oder literarische Fiktion? Velleius Paterculus über die clades Variana“ (S. 399–417). Er untersucht die Einbettung der von Velleius bewusst nicht dargestellten Varusniederlage in die auf Tiberius zugeschnittene Darstellung, worin sie „als negativer Gegenpol eine wichtige kompositorische Funktion“ erfüllt (S. 415), was den selektiven Bericht mit Auslassung der Historiker interessierenden Fakten erklärt. Gustav Adolf Lehmann steuert „Überlegungen“ über „Tacitus und die Dokumente“ bei (S. 419–430), analysiert sachkundig Arbeitsweise und authentische Verarbeitung von Informationen der acta senatus, meint (S. 420f.) überzeugend, „daß kein Kampfgeschehen der augusteischen Zeit von der römischen Seite aus so gründlich rekonstruiert, in seinem gesamten Verlauf erforscht und in [...] Berichten dokumentiert worden ist, wie die Katastrophe [...] im saltus Teutoburgiensis“, und dass Nachrichten der „spektakulären Expedition“ des Germanicusheeres 15 n.Chr. zum finalen Schlachtfeld der clades Variana (die auch er nicht bei Kalkriese verortet) „mit Sicherheit ihren Weg in das Staatsarchiv gefunden“ haben. Damit ist es unzulässig, den aus Gebeinen Gefallener errichteten tumulus negieren und durch Bestattungen in Erdvertiefungen ersetzen zu wollen. Bernd Manuwald stellt die Frage: „Politisches Ungeschick oder vorbestimmtes Verhängnis? Cassius Dios Bericht über die Varus-Schlacht“ (S. 431–449). Seine Darstellung ist unstrittig unsere „detaillierteste historiographische Quelle“ (S. 431); er hat verlässliche, detailgetreue Vorlagen verarbeitet und als einziger ohne die moralisierend-einseitigen Schuldzuweisungen an die Person des Varus über Ursachen, Vorbereitung und Kampfgeschehen der Niederlage berichtet, wobei „die Differenziertheit der Geländeformationen [...] ein Beleg dafür sein könnte, daß es sich [...] nicht um eine bloße Ansammlung von Topoi handelt [...], sondern daß wirkliche Nachrichten zugrunde liegen“ (S. 441).

An dem teils Sachunkenntnis, teils zahlreiche methodische Fehlschlüsse aufweisenden Beitrag von Boris Dreyer (S. 363–397) ist nur bemerkenswert, dass hier über die Tagungsvorträge hinaus ein Aufsatz nunmehr zum dritten Mal abgedruckt wurde, der die schon in der Zusammenstellung der Tagungsbeiträge zutage tretende einseitige Selektion der Herausgeber hinsichtlich der Identifikation des Kampfplatzes Kalkriese mit einer Stätte der Varusschlacht verfolgt. Bedauerlich ist auch, dass die aufgezeichnete Diskussion nicht wiedergegeben wurde; denn so bleibt nicht nur Wiegels falsche Behauptung: „Jedoch wurden auf dem Kolloquium [...] auch in den Diskussionsbeiträgen keine ernsthaften Einwände gegen die Datierung des Fundplatzes Kalkriese ins Jahr 9 n. Chr. vorgebracht“ (S. 96) unwidersprochen, der Band verschweigt auch, dass am Ende unter den Experten zumindest diesbezüglich Einigkeit herrschte, dass Kalkriese definitiv nicht als finales Schlachtfeld der Varusniederlage gelten kann.

Anmerkungen:
1 Wolters, Reinhard, Gaius und Lucius Caesar als designierte Konsuln und principes iuventutis. Die lex Valeria Cornelia und RIC I² 205ff., in: Chiron 32 (2002), S. 297–323.
2 Methodisch unzulässig sind hierbei Aussagen aufgrund der Prozentanteile von Münztypen in quantitativ inkommensurablen Kontexten wie den extrem divergierenden Befunden von Haltern mit mehr als 1500, Waldgirmes mit 117 oder Trebur-Geinsheim mit gerade einmal 14 Bronzen.
3 Kehne, Peter, Zur Datierung von Fundmünzen aus Kalkriese und zur Verlegung des Enddatums des Halterner Hauptlagers in die Zeit der Germanienkriege unter Tiberius und Germanicus, in: Rainer Wiegels (Hrsg.), Die Fundmünzen von Kalkriese und die frühkaiserzeitliche Münzprägung, Möhnesee 2000, S. 47–79, hier 53f.

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