W. Neugebauer: Der österreichische Widerstand

Cover
Titel
Der österreichische Widerstand. 1938-1945


Autor(en)
Neugebauer, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hubert Feichtlbauer, Wien

Rund 100.000 Menschen in Österreich (damals „Ostmark“) waren gemäß nationalsozialistischer Unterlagen während der NS-Zeit wegen Widerstandes in irgendeiner Form inhaftiert. Mindestens 65.000 Juden und Jüdinnen wurden umgebracht, auch an die 10.000 Roma, weitere 4000 bis 5000 kamen als Widerstandskämpfer/innen um, zwischen 25.000 und 30.000 waren Euthanasie-Opfer. Das ist ein provisorisches „Zwischenergebnis“, das u.a. die Opfer von Militär- und Standgerichten noch nicht einschließt. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und das Karl-Vogelsang-Institut arbeiten noch an der Komplettierung dieser Unterlagen, aber aus früheren Quellen kennt man auch Hinweise auf mehr als 16.000 nichtjüdische österreichische KZ-Tote, 3500 erschossene Militärpersonen und 4500 Deserteure. Tausende fielen im bewaffneten Kampf gegen das NS-Regime als Widerständler, Partisanen oder Soldaten in alliierten Armeen.

Mit den 700.000 NSDAP-Mitgliedern – diese begünstigt, jene an Leib und Leben bedroht – sind solche Zahlen nur bedingt vergleichbar. Mehr als 30.000 Soldaten der Alliierten, denen das allein Ausschlag gebende Verdienst an der Befreiung Österreichs zukommt, bezahlten den Einsatz mit ihrem Leben. Die Moskauer Deklaration von 1943, die den Österreichern einen Beitrag zu ihrer Befreiung abverlangte, blieb nicht ungehört, aber es wäre unfair, die Tatsache zu verschweigen, dass in jeder vergleichbaren Situation jedes Volk Minderheiten von aktiven Widerständlern und aktiven Anpassern und eine Mehrheit von abwartenden opportunistischen Überlebenskünstlern hervorbringt.

Eine Aufarbeitung psychologischer Zwänge, seelischer Unwägbarkeiten und des wechselhaften Widerstreits von Gedanken und Gefühlen ist begreiflicher Weise nicht die Stärke eines Buches, dessen Verfasser der langjährige verdienstvolle wissenschaftliche Leiter des 1963 gegründeten Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes ist. Dafür glänzt dieser Band mit solider Detailrecherche und akribischer Aufarbeitung von Fakten, auch wenn die teilweise bis heute aufgestellte Behauptung, erst der Fall Waldheim in den späten 1980er-Jahren habe zu einer ernsthaften Befassung mit österreichischen NS-Verbrechern geführt, die Faktenlage stark vereinfacht. Auch der zeitkritische Autor Hellmut Butterweck resümierte in der „Presse“ (14. Juni 2008), man dürfe angesichts von 23.000 Prozessen und 13.000 Schuldsprüchen österreichischer Volksgerichte nach 1945 nicht vergessen: Den Ruf der Justiz hätten nicht fehlende Urteile, sondern bald folgende Begnadigungen ramponiert.

Wolfgang Neugebauer ist von einer vernünftigen Voraussetzung aus an dieses Buch herangegangen: Weder einer Hochstilisierung noch einer Bagatellisierung des österreichischen Widerstandes sollte es dienen und der Widerstand in einen „politisch-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang“ eingebettet werden (S. 17). Die Widerstandsforschung setzte in Österreich relativ spät ein. Einem von der Bundesregierung 1946 herausgebrachten „Rot-Weiß-Rot-Buch“ ist nie ein weiterer Band gefolgt. Erst 1962 erteilte die Wiener Regierung den Auftrag, genau zu erforschen, ob und wie Österreich dem Verlangen der Moskauer Deklaration nachgekommen war. Auch der Herold-Verlag wurde aktiv, und Ludwig Jedlicka, Karl Stadler, Herbert Steiner, Willy Lorenz und auch der Autor des vorliegenden Bandes brachten erste Veröffentlichungen zum Thema heraus.

An den Universitäten wurden Institute für Zeitgeschichte eingerichtet, die wertvolle Zuarbeiten für die bisher in der Reihe „Widerstand und Verfolgung“ erschienenen 13 Bände über Widerstand in Wien, Burgenland, Oberösterreich, Tirol, Niederösterreich und Salzburg leisteten. Die erste umfassende Gesamtdarstellung lieferte 1985 der in den USA lehrende Universitätsprofessor Radomir Luza, der selbst Widerstandskämpfer in Tschechien war („Der Widerstand in Österreich 1938-1945“). Das vorliegende Buch Neugebauers sammelte, kategorisierte, komprimierte und aktualisierte das bekannte Material und folgte dem Widerstandsbegriff nach Karl Stadler, der angesichts der Schwere der vom NS-Regime angedrohten Sanktionen „jegliche Opposition im Dritten Reich“ unter Widerstand subsumierte, „auch wenn es sich nur um einen vereinzelten Versuch handelt(e), anständig zu bleiben“ (S. 16).

Zur Rechtfertigung dieser Grundannahme beschreibt der Verfasser zuerst eingehend alle Institutionen des nationalsozialistischen Repressionssystems: von Gestapo, Kripo, Sicherheitsdienst (SD) der SS über den Volksgerichtshof und diverse Sondergerichte für Schwarzhören, Zersetzung der Wehrkraft, Schleichhandel u.ä. sowie Militärgerichte bis zu bestehenden Gerichten der traditionellen Justizorganisation, die vom Regime gefügig gemacht wurden.

Nach einer Darstellung der spezifischen Entwicklung des österreichischen Nationalsozialismus werden nachvollziehbar auch die Gründe geschildert, warum es nicht sofort nach der Auslöschung des österreichischen Staates im März 1938 zum Aufbau eines organisierten Widerstands kam: Flucht tausender Regimegegner, vor allem Juden, Inhaftierung des christlich-sozialen Spitzenpersonals des autoritären Ständestaates, aber auch opportunistische Anbiederungsversuche durch katholische Bischöfe und einzelne Sozialdemokraten wie Karl Renner. Aber schon im Sommer und Herbst 1938 regte sich erster Widerstand, nicht zuletzt in der katholischen Kirche nach dem HJ-Sturm auf das Erzbischöfliche Palais am 8. Oktober. In der Folge beschreibt Wolfgang Neugebauer dann die einzelnen Widerstandsgruppen nach ihrer weltanschaulichen Herkunft in großem Detail und bemühter Balance, die keinen relevanten Anhaltspunkt dafür bilden, dem Autor Einseitigkeit wegen seiner Herkunft aus dem äußeren linken Spektrum zu vorzuwerfen.

Beim Vergleichen springen immer zwei österreichtypische Besonderheiten ins Auge: Es waren ungleich weniger Sozialisten als Kommunisten im Widerstand aktiv und weniger evangelische als katholische Christen. Das Zweite erklärt sich nicht nur aus der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung, sondern auch aus der größeren Affinität der Protestanten zu großdeutschem Ideengut im traditionell katholisch geprägten Kaiserreich. Von den 1887 vom Volksgerichtshof verurteilten Österreichern waren knapp fünf Prozent einstige Sozialdemokraten, 52 Prozent KP-Mitglieder und je zehn Prozent aus katholisch-konservativen und legitimistischen Organisationen.

Von den kommunistischen Widerständlern waren freilich viele einstige Sozialdemokraten (nach Radomir Luza etwa 85 Prozent, S. 67), die nach dem „Umfaller“ ihrer Führung im Bürgerkrieg 1934 umgeschwenkt waren. Die Kommunisten waren auch die ersten und jahrelang die einzigen Linken, die offen die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich verfochten. Freilich macht Neugebauer für die kämpferische Abstinenz von Sozialdemokraten auch die „gleichermaßen humanitäre wie opportunistische Überlegung“ aus, „die Kader der Bewegung nicht in einem aussichtslos scheinenden Kampf aufzureiben“ (S. 63).

Über solche Fakten kann man heute problemlos reden. In der Zeit des Kalten Krieges passte dergleichen nicht ins politisch korrekte Bild. Der sozialdemokratische Justizminister Christian Broda hat in der Regierung Kreisky mehrfach bei Widerstandsforschern interveniert, die vollen Namen der NS-Justizfunktionäre zu verschweigen und die Beschreibung des Anteils der Kommunisten zu reduzieren – obwohl er selbst aus dem Kommunistischen Jugendverband kam und in den Umbruchtagen 1945 in Oberösterreich eine bis heute von Gerüchten umdunkelte Rolle spielte. Davon ist bei Neugebauer nicht die Rede, doch findet dieser, dass der 1943 von der Gestapo verhaftete Broda nur drei Monate Gefängnis ausfasste, einige seiner Mitarbeiter aber zum Tod verurteilt wurden, sei von Broda später plausibel erklärt worden (S. 93).

Die Widerständler aus den Reihen der katholischen Kirche (gemeint ist: des Klerus) beschreibt Neugebauer ausführlich. 2004 nannte die Historikerin Erika Weinzierl 724 eingesperrte Priester; sieben starben in der Haft, 15 wurden hingerichtet, 110 kamen in Konzentrationslagern um, 208 wurden des Landes verwiesen, mehr als 1500 erhielten Predigtverbot. Drei Bände von Jan Mikrut gehen auf 69 „Blutzeugen des Glaubens“ (so der Titel der Reihe) ein, sodass jedenfalls nicht die Person des bekanntesten von ihnen, Franz Jägerstätter, alle anderen Widerstandsopfer überstrahlt. Neugebauer hebt auch den effizienten kirchlichen Widerstand gegen das NS-Euthanasieprogramm hervor.

Katholische Laien als Widerständler versammelten sich vor allem in drei „Freiheitsbewegungen“: den Gruppen um Roman Scholz, um Jakob Kastelic und um Karl Lederer. Der Widerstand der Legitimisten, also der Habsburg-Anhänger, war, vom Autor richtig beschrieben, „besonders stark und vielfältig und stand im Kontrast zu ihrer relativ geringen politischen Bedeutung vor 1938 und nach 1945“ (S. 145). Ein wenig systemwidrig reiht Neugebauer in dieses Kapitel auch die Widerständler aus dem Cartellverband (CV) farbentragender katholischer Verbindungen ein und verweist auf Gerhard Hartmanns Buch „Der CV in Österreich“, wo man u.a. den Tod von 25 österreichischen „Blutzeugen“ dokumentiert findet.

Wolfgang Neugebauers vergisst auch den Widerstand und die Opfer der Zeugen Jehovas und selbst den begrenzt möglichen von Juden nicht und lässt auch Doron Rabinovici zu Wort kommen, der die erzwungene Mitwirkung von Juden an Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kollaborationsvorwurf verteidigt. Auch der Widerstand im Exil, in Gefängnissen und Lagern und im Alltag wird nicht übersehen und der sensiblen Frage der im Herbst 1944 aufgestellten fünf „österreichischen Bataillone“ in Slowenien nicht ausgewichen. Die schwierige psychologische Hintergrund – Kärntner Slowenen werden vom NS-Regime verfolgt, laufen zu Tito-Partisanen über und kehren als Repräsentanten eines Landes zurück, das nach 1945 Teile Kärntens für sich reklamiert – hätte eine stärkere Ausleuchtung verdient.

Nicht unwidersprochen bleiben dürften die Ausführungen zu der gegen Kriegsende gegründeten überparteilichen Widerstandsorganisation „O 5“ (für den fünften Buchstaben des Alphabets, also Oe = Österreich), in der Fritz Molden eine wichtige Rolle spielte. Neugebauer lässt sie nicht als „die“ österreichische Widerstandsbewegung gelten, während Molden ihre Mitgliederzahl mit 18.000 bis 20.000 angab, 50.000 Sympathisanten nicht eingeschlossen. Die kampflose Übergabe von Innsbruck durch den Tirol-Ableger von O 5 um den späteren Landeshauptmann und Außenminister Karl Gruber wird jedoch verdient gewürdigt. Ausführlich behandelt der Autor wieder die Aktivitäten rund um Carl Szokoll, der den Juli-Putsch 1944 in der Wehrmachtsspitze in Österreich perfekt organisiert hatte, einem Gestapo-Spitzel zum Opfer fiel, aber selbst überlebte.

Von Albert Camus stammt der Satz: „Ich habe in der Résistance etwas von dem wieder entdeckt, was dem Leben und dem Tod Würde verleiht.“ Davon bekommt man auch in diesem von Wolfgang Neugebauer gründlich recherchierten, übersichtlich geordneten und lesbar geschriebenen Buch immer wieder etwas zu spüren.

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