S. Michl: Ärzte im Ersten Weltkrieg

Titel
Im Dienste des "Volkskörpers". Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Michl, Susanne
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 177
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rebecca Schwoch, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Susanne Michl hatte sich mit ihrer Dissertation zum Ziel gesetzt, das im Ersten Weltkrieg „hoch aufgeladene Spannungsfeld“ zwischen Gesundheitsdiskurs und -verhalten sowie Krankheitsrisiko Krieg in den Debatten zweier Ärzteschaften zu untersuchen. Als eine wichtige Quellengrundlage hat die Autorin für den deutsch-französischen Vergleich vor allem die „Publikationsorgane für die breite Ärzteschaft“ ausgewertet. (S. 13) Um die ärztlichen Denk- und Vorstellungsmuster über die Einwirkungen des Krieges auf den „Individual- und Kollektivkörper“ sowie die therapeutischen Möglichkeiten zu erforschen, hat Susanne Michl neun französische und neun deutsche ärztliche Zeitschriften zu Rate gezogen. (S. 14, S. 283)

Warum sich unter den deutschen Zeitschriften zwar die „Deutsche Medizinische Wochenschrift“, die Zeitschrift der Internisten, oder das „Neurologische Zentralblatt“ befinden, aber nicht das „Ärztliche Vereinsblatt für Deutschland“ (ab 1929 „Deutsches Ärzteblatt“) oder die „Ärztlichen Mitteilungen“, ist nicht verständlich. Diese beiden Blätter waren die Organe der zwei deutschen ärztlichen Spitzenverbände: Dem 1873 gegründeten „Deutschen Ärztevereinsbund“ gehörten so gut wie alle rechtsfähigen Ärztevereine an; der 1900 gegründete „Hartmannbund“ zählte bereits 1910 etwa 94% der deutschen Ärzte zu seinen Mitgliedern. 1 In diesen beiden Zeitschriften dürfte demnach ein profundes Meinungsbild der „breiten Ärzteschaft“ zu finden sein.

In den von Susanne Michl untersuchten psychiatrischen, venerologischen, gynäkologischen oder auch hygienischen Zeitschriften lassen sich hingegen gut Stellungnahmen zu speziellen medizinischen Gebieten finden, die Michl im zweiten und dritten Teil ihres Buches dargestellt hat: Die Sexualhygiene und pathologische „Schockwirkungen des Krieges“ wie Kriegsneurosen. So stellt Michl richtig fest, dass wissenschaftliche Abhandlungen in solchen Publikationsorganen „bei weitem den größten Raum“ einnahmen und standespolitische Fragen in den Hintergrund rückten. (S. 21) Wenn Susanne Michl aber meint, dass medizinhistorische Untersuchungen, die medizinische Fachorgane „als eine eigene Quellengattung mit hohem Erkenntniswert“ auswerten, selten seien, liegt sie falsch. (S. 20) Gerade Forschungsarbeiten zur ärztlichen Standespolitik – und diese Untersuchung hat im Prinzip auch eine stark standespolitische Komponente – haben die Arbeit an den Fachorganen zu schätzen und zu nutzen gewusst. 2 In diesen Arbeiten ist vor allem das ärztliche Professionsverständnis – für Deutschland – herausgearbeitet worden. Dieses war ab 1883 in nicht zu unterschätzender Weise durch das Krankenkassenwesen geprägt, gegen das die Ärzteschaft trotz zunehmender Wichtigkeit von Anbeginn vehement gekämpft hat – die Franzosen waren bei weitem nicht so gut gegen Krankheiten versichert wie die Deutschen. (S. 51) Im Übrigen war unter den Kassenärzten eine Vielzahl jüdischer Ärzte, die eigentlich nur in eigener Praxis eine Chance auf ungestörte Ausübung ihres Berufes finden konnten. Jüdische Ordinarien gab es kaum. Selbstverständlich meldeten sich 1914 erst recht jüdische Ärzte als Kriegsfreiwillige, auch um in die Einheit der deutschen Nation integriert zu werden. Der Antisemitismus verschwand trotzdem nicht aus den Köpfen, auch nicht aus denen des Militärs, denken wir an die „Judenzählung“ des Jahres 1916.

Dass im Laufe des Krieges allzu viele meinten, „die Selektionswirkung des Krieges [sei] eine dysgenische […], da nicht die Schwächsten (die zu Hause blieben), sondern die Gesündesten, die Kühnsten – kurz: die Besten vernichtet würden“ 3, ist hinlänglich bekannt. (S. 62-75) Der ärztliche Blick konzentrierte sich aber nicht nur auf die Soldaten, so Michl, sondern auch auf die Zivilbevölkerung. Der „zweite Sieg an der Heimatfront“ wurde beiden Ärzteschaften zunehmend wichtig, denn, so versicherten sich die Ärzte beider Länder: „Was nütze der schönste Waffensieg, wenn die Nation vom Aussterben bedroht sei?“ (S. 82)

Diese Einigkeit zwischen französischen und deutschen Ärzten endete allerdings beim Krankheits- und Gesundheitsverständnis während des Krieges, das in Frankreich und Deutschland nach Michl „ganz unterschiedliche Merkmale“ aufwies, deren Aufzeigen der Autorin jedoch nicht immer deutlich gelingt. (S. 279) Hier sei ein Beispiel herausgegriffen: Beiden Ärzteschaften galt zunächst die sexualhygienische Erziehung als das effizienteste Mittel im Kampf gegen die venerische „Volksseuche“ Syphilis. Auf Grund der emporschnellenden Geschlechtskrankenrate setzte sich in beiden Ländern jedoch durch, nicht nur die Frau respektive die Prostituierte prophylaktischen Untersuchungen unterziehen zu wollen, sondern auch den Mann respektive den Soldaten. In Frankreich setzte man auf eine kostenlose „flächendeckende Implementierung der ambulanten Behandlungsform nach militärischem Muster“, es entstand ein Geflecht von zivilen und militärischen Einrichtungen, „deren Kontrolle in einer spezialistischen Hand zusammengefasst war“. (S. 178) Doch konnte sich eine kontinuierliche Zwangsuntersuchung aller Soldaten unter Strafandrohung durch das „cabinet prophylactique“ nicht durchsetzen. (S. 121-126) Die Mitglieder der Académie de Médecine, dem höchsten Expertengremium für hygienische Gesundheitsangelegenheiten, waren sich zwar darüber einig, sexualhygienische Aufklärung in die breite Bevölkerung tragen zu müssen, um das Verantwortungsgefühl zu schärfen, trugen aber gleichzeitig einer „ständigen Todesbedrohung Rechnung“, womit Michl meint, die Académie habe Soldaten wie Offiziere in Gesundheitsfragen zumindest für die Kriegszeit jeglichen Moralvorstellungen enthoben. (S. 179) In Deutschland hingegen gab es keine solche flächendeckende Fürsorge hinsichtlich der Geschlechtskranken. Außerdem wurden „selbstverschuldete Krankheiten“ von der Krankenversicherung nicht mehr übernommen. Hier sprangen die Beratungsstellen für Geschlechtskranke ein, die eine kostenlose Untersuchung und Aufklärung gewährleisteten. Eine gewollte Zwangskontrolle der geschlechtskranken Soldaten scheiterte hier letztendlich an den deutschen Militärbehörden, die meinten, ohne ausdrückliche Zustimmung der Erkrankten nicht berechtigt zu sein, deren Namen an die Landesversicherungsanstalten weiterzugeben. (S. 126-131) Durch diese Entwicklung warfen die französischen Ärzte den deutschen Kollegen vor, sich in den Dienst des Staates beziehungsweise des Militärs zu stellen, ihre liberale Profession und das auf Vertrauen und dem Berufsgeheimnis basierende Arzt-Patienten-Verhältnis würden sie damit verleugnen. In Deutschland, so beschreibt es Michl, fügte sich das zivile deutsche Professionsverständnis tatsächlich nahtlos in die neuen Kriegsbedingungen ein; den Übergang von einer Zivil- in eine Kriegsgesellschaft vollzogen deutsche Ärzte ohne Schwierigkeiten.

Über eine Kontrolle geschlechtskranker Militärangehöriger hatten beide Ärzteschaften also unterschiedliche Vorstellungen, das hat Michl akribisch herausgearbeitet. In den Handlungsoptionen gegenüber der Zivilbevölkerung unterschieden sich beide jedoch nicht grundlegend. Die Prostituierte stellte z.B. eine erhöhte Gefahr für die „Kampfesfähigkeit“ des Soldaten dar. Beide Ärzteschaften waren sich einig, dass hier zu drastischen Mitteln gegriffen werden müsse: Zwangsinternierung und Zwangsbehandlung wurden befürwortet. Bezüglich der Debatten um die Kriegsvergewaltigungen hat Susanne Michl deutlich gemacht, wie dem „Kriegsopfer Frau“ bevölkerungsstrategische Bedenken entgegen gesetzt wurden: Eine Abtreibung der ungewollten Frucht lehnten deutsche und französische Ärzte in ihrer Mehrheit ab. (S. 163-171)

Interessant wäre es gewesen, die Stimme der zunehmend approbierten Ärztinnen zu hören – z.B. wurden 1913 in Deutschland 45 Ärztinnen approbiert, 1914 bereits 165 4 – und in die Einwirkung auf den Gesundheitsdiskurs während des Ersten Weltkrieges mit einzubeziehen. Insgesamt ist der komparatistische Ansatz von Susanne Michl – vor allem zu einem nicht-anglo-amerikanischen Land – trotz aller Kritik ein lohnens- und lobenswerter.

Anmerkungen
1 Vgl. Schwoch, Rebecca, Ärztliche Standespolitik im Nationalsozialismus. Julius Hadrich und Karl Haedenkamp als Beispiele, Husum 2001, S. 20-26; Tennstedt, Florian, Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Bonn 1977, S. 78.
2 Nur einige Beispiele: Gerst, Thomas, Ärztliche Standesorganisation und Standespolitik in Deutschland 1945-1955, Stuttgart 2004; Jeschal, Godwin, Politik und Wissenschaft deutscher Ärzte im Ersten Weltkrieg. Eine Untersuchung anhand der Fach- und Standespresse und der Protokolle des Reichstags, Pattensen 1977; Kiessling, Claudia Sybille, Dr. med. Hellmuth Unger (1891-1953). Dichterarzt und ärztlicher Pressepolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Husum 1999; Pernice, Andreas, Die Kontroversen über Familienpflege und Anstaltspsychiatrie in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie in der Zeit von 1844 bis 1902. Ein Beitrag zur Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Diss. med. Lübeck 1991; Schwoch, Standespolitik, (wie Anmerkung 1) 2001; Waigand, Beate, Antisemitismus auf Abruf. Das Deutsche Ärzteblatt und die jüdischen Mediziner 1918-1933, Frankfurt am Main u.a. 2001.
3 Matz, Bernhard, Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Ein Beitrag zur Geschichte von Psychiatrie und Psychologie des Zwanzigsten Jahrhunderts, Diss. rer. medic., Berlin 2000, S. 212; vgl. auch: Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 2003.
4 Vgl. Bleker, Johanna, Kriegsgewinnlerinnen? Studium und Berufsarbeit deutscher Medizinerinnen im Ersten Weltkrieg, in: Bleker, Johanna; Schleiermacher, Sabine, Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation, Weinheim 2000, S. 75-87, hier S. 76.