Titel
The Fall of Napoleon. Vol. 1: The Allied Invasion of France, 1813-1814


Autor(en)
Leggiere, Michael V.
Erschienen
Anzahl Seiten
686 S.
Preis
29,99 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Deinet, Universität Duisburg-Essen

Ein kleines Wunder ist anzuzeigen. Über Napoleons Feldzüge meinte man doch alles zu wissen. Ganze Bibliotheken wurden schon mit dem Russlandfeldzug vollgeschrieben, kürzlich erschien in einer Liebhaber-Ausgabe eine Bibliografie (!) der Berichte und Untersuchungen über die Schlacht von Waterloo, und blättert man anlässlich der sich im Jahrestakt aneinander reihenden Gedenkdaten die Kataloge der einschlägigen Verlage durch, so hat man den Eindruck, dass die französischen Militärschriftsteller sich geradezu überschlagen in der Ausleuchtung auch der letzten Lücken in der Ereignisgeschichte und im Spektrum der die napoleonische Lichtgestalt umgebenden Sekundärpersönlichkeiten.

Eine solche Lücke hat jetzt der amerikanische Militärschriftsteller Michael V. Leggiere aufgetan. Man erinnert sich: Die Völkerschlacht von Leipzig brachte zwar die Wende in dem Befreiungskrieg von 1813, es gelang Napoleon aber, einen großen Teil seiner Armee einigermaßen intakt durch Deutschland zurückzuführen und die nach Frankreich eindringenden Alliierten in hartnäckige Abwehrschlachten zu verwickeln, bevor Blüchers Überrumpelungsstrategie sich durchsetzte und zu der für alle Seiten überraschenden, nahezu kampflosen Eroberung von Paris führte, worauf Napoleons Marschälle in Fontainebleau den Rücktritt des Kaisers erzwangen, der daraufhin sein erstes Exil in Elba antrat…

Was aber geschah eigentlich zwischen dem Rückzug Napoleons hinter den Rhein und den Abwehrschlachten in Frankreich? Warum gingen die Heere der Verbündeten überhaupt über den Fluss, und das mitten im Winter? Wie gelang es ihnen, diese seit Jahrzehnten von den Franzosen befestigte natürliche Grenze so problemlos zu durchstoßen und den Krieg in das französische Mutterland zu tragen? Und warum konnten die französischen Truppen die Rheinlinie nicht halten und so den Winterfeldzug für die alliierten Heere zu einem gefährlichen Harakiri machen?

Die Antworten auf solche Fragen, so sollte man meinen, würden der einschlägigen Militärhistorie nicht schwer fallen und wären dort problemlos nachzulesen. Schlägt man aber das ältere, lange Zeit maßgebende Standardwerk „1814“ von Henry Houssaye auf, so bemerkt man, dass zwischen dem Rückzug der französischen Armee hinter den Rhein und der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten zwischen Napoleon und den alliierten Streitkräften im Februar 1814 eine Lücke von etwa acht Wochen klafft. In diesem Zeitraum gelang es den Armeen der Verbündeten, weit ins französische Hinterland einzudringen und in einem Halbkreis von kaum 100 Kilometern um Paris zwischen Reims und Auxerre eine Stellung einzunehmen, von der sie Napoleon in der Folge nicht mehr vertreiben konnte. Was derweilen am Niederrhein und in Belgien geschah, ist – man höre und staune – im Überblick nie zusammenhängend dargestellt worden. Die Höhen-Historiografie machte hier einfach eine Pause und wartete, bis ihr Held wieder auf der Bildfläche erschien.

In diese Lücke ist nun also die opulente Studie von Leggiere hineingestoßen. Gewissermaßen mit Blücherschem Mut und Gneisenaus strategischem Geschick hat der Autor durch akribische Detailrecherchen die Vorgänge jener acht Wochen zu rekonstruieren vermocht. Es ist fast zwangsläufig, dass Leggiere dabei nicht durchweg chronologisch, sondern mit wechselndem regionalen Fokus vorgeht, denn erst aus der Zusammenschau vieler fast gleichzeitiger Details ergibt sich der erstaunliche Befund, dass die französischen Streitkräfte fast kampflos die Rheinlinie aufgaben und sich in das Mutterland zurückzogen. Auch wenn die Tatsache als solche nicht neu ist, so sind doch die Gründe, die für einen solchen folgenschweren Schritt ausschlaggebend waren, nie im Zusammenhang dargestellt worden. Sie lassen zum einen Rückschlüsse auf den tatsächlichen Zustand der französischen militärischen Infrastruktur zu. Hinter Floskeln wie der, dass Napoleon gezwungen gewesen sei, eilig „neue Armeen aus dem Boden zu stampfen“, wird der Grad der physischen und mentalen Erschöpfung des durch jahrelange menschliche Verausgabung ausgelaugten Landes erkennbar. Sie weisen aber auch auf die durchaus ambivalente Stimmungslage in den linksrheinischen Gebieten hin, wo die Bevölkerung zwischen Angst und Erwartung vor den „Befreiern“ hin und hergeworfen wurde. Die Spannbreite reichte von offenem Aufruhr wie in den Niederlanden über passive Widerstandshandlungen wie z.B. die massenhaften Desertionen deutscher Soldaten aus den sich zurückziehenden französischen Armeen bis zu der verbissenen Bereitschaft der elsässischen Bevölkerung, die Errungenschaften der Revolution notfalls durch eine levée en masse zu verteidigen – eine Bereitschaft, die sich weder die französischen Generäle noch Napoleon zunutze machen wollten.

Die auf den ersten Blick so überraschende Abstinenz der Historiker wird allerdings verständlicher, wenn man dem Autor durch das Dickicht der konkreten Detailabläufe folgt. Keine einzige Schlacht krönt diese Phase des Feldzugs, und die Charaktere der Handelnden sind, von Blücher abgesehen, durchaus biederen Zuschnitts, sowohl auf französischer Seite, wo Napoleon drei seiner Marschälle – Macdonald, Marmont und Victor – mit der Wacht am Rhein betraute, wie auch bei den Alliierten, wo der übervorsichtige Schwarzenberg von einem nach wie vor an einem Verhandlungsfrieden interessierten Metternich am Gängelband geführt wurde. So sind denn auch die Aktionen der einzelnen Armeen ungeachtet ihres Erfolgs im einzelnen wenig spektakulär: Während die Nordarmee von den günstigen Umständen – dem Aufstand der Holländer, dem freiwilligen Rückzug der Franzosen – mehr in die Invasion Brabants hineingezogen wurde, als dass sie diese bewusst geplant hätte, und sich eher tastend als zielgerichtet von der Iyssel über Lek, Waal und Maas hinwegschob, scheint der auf der Südfront operierende Schwarzenberg von dem Erfolg seiner durch die Schweiz und die Franche-Comté vorstoßenden Verbände mehr erschreckt als ermuntert worden zu sein. Er wartete auf das Erscheinen Napoleons wie das Kaninchen auf das der Schlange. In dieser Riege defensiv gestimmter Angreifer kommt allein Blücher und seinem Stabschef Gneisenau die Rolle echter Akteure zu. Mit ihrem Rheinübergang bei Kaub, der von einem gleichzeitigen Übergang russischer Verbände bei Koblenz und Mannheim begleitet war, ergriffen sie das Gesetz des Handelns und hätten den sich zügig zurückziehenden Franzosen mit etwas Glück sogar ein vorzeitiges Cannae in Lothringen bereitet.

Diese ihrerseits waren der ihnen von Napoleon anvertrauten Aufgabe, den Rhein so lange zu halten, bis er selber im Frühjahr mit neuen Verstärkungen wieder in den Kampf eingreifen würde, zu keinem Zeitpunkt gewachsen. Macdonald, Marmont und Victor waren in den zwanzig Jahren andauernder Kämpfe ergraute und erschlaffte Routiniers, die alle ihre Energie darauf verwendeten, ihre zahlenmäßig den Alliierten weit unterlegenen Truppen keiner Gefahr weiterer Verluste auszusetzen, und die den Rückzug antraten, sobald sie Gefahr liefen, durch die zwischen ihren dünnen Linien hindurchstoßenden Gegner voneinander getrennt zu werden. Dadurch retteten sie zwar Napoleon seine letzten noch im Feld stehenden Truppen, aber, so argumentiert Leggiere, mit ihrem Rückzug opferten sie Raum für Zeit und übersahen dabei, dass das scheinbar kampflose Vordringen der Alliierten auf den Boden des alten Frankreich die Moral der Bevölkerung weiter unterminierte und Napoleon allein durch den Wegfall mehrerer Provinzen Ressourcen raubte, die er für die Rückgewinnung der Initiative dringend gebraucht hätte.

Alles dies schildert Leggerie mit der Akribie eines Stabsoffiziers, der für den Leser quasi an einer riesigen Karte die Abläufe koordiniert und seine Fähnchen steckt. Zahlreiche Einzelkarten im Text verlisten überdies die fast tägliche Veränderung der militärischen Lage im Laufe des Januar 1814 in einer Übersichtlichkeit, wie sie den Akteuren selbst so gar nicht bewusst gewesen sein konnte. Dennoch und bei aller Umsicht erfordert es die höchste Präsenz seitens des Lesers, alle die verschiedenen Züge der Truppen, die Namen der Einheiten, die zeitliche Staffelung der Ereignisse im Auge zu behalten. Wären nicht die einzelne Kapitel abrundenden Übersichten und Zusammenfassungen, man verlöre innerhalb der Dynamik der sich entfaltenden Abläufe leicht den Überblick.

Wahrscheinlich muss Militärgeschichte so genau sein, um hinter der in den Überblicksdarstellungen so gern gepflegten Illusion einer zielgenauen Planung und Durchführung militärischer Abläufe eine Vorstellung von der tatsächlichen Chaotik, der allgegenwärtigen und sich beständig erneuernden Kontingenz der Entwicklungen entstehen zu lassen. Dies ist Leggiere in imponierender Weise gelungen. Dennoch erzeugt die Lektüre einen gewissen Überdruss und auch einen Rest von Skepsis. Wo bleibt hinter all den Namen der Befehlenden, hinter den Orten und Entfernungen, der Dauer der Märsche von a nach b usw. der einfache Soldat oder der Einwohner einer der eroberten Städtchen und Dörfer? Wie muss man sich die Realität dieses Winterkrieges vorstellen? Zwar liefert Leggiere sehr feine und pointierte Porträts der Generäle, die Einzelschicksale der vielen Ungenannten aber muss man sich hinter den Zahlen der „casualities“ und der Verwundeten, die vor und hinter der Front liegen blieben, selber ausmalen.

Wahrscheinlich kann Militärgeschichte gar nicht anders geschrieben werden als so, denn eine Kriegsgeschichte ‚von unten’ ist mit den Erfordernissen einer am Fortgang der Ereignisse ausgerichteten Erzählung letztlich nicht zu vermitteln. Vielleicht hätte aber ein einzelnes, allgemeiner gehaltenes Kapitel diese Lücke doch in geeigneterer Weise füllen können. So muss sich der Leser die alltägliche Realität des Krieges in eingestreuten Hinweisen zusammensuchen, eine Aufgabe, die angesichts der Fülle der Informationen allerdings nicht allzu schwer fällt. Mag sein, dass der Autor diese andere Sichtweise ja noch in seinem zweiten Band nachliefert. Dieser soll freilich nicht vor 2011 erscheinen.

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