B. Wasserstein: Barbarism and Civilization

Cover
Titel
Barbarism and Civilization. A History of Europe in Our Time


Autor(en)
Wasserstein, Bernard
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIII, 901 S.
Preis
$ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Klaus Patel, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Jetzt hat Oxford wieder eindeutig die Nase vorn. Auf vielen Feldern führt die Universität bekanntlich einen edlen Wettstreit mit „the other place“ im britischen Bildungssystem. Eine bisher übersehene Disziplin in diesem Rennen scheint darin zu bestehen, Historiker auszubilden, die später große Gesamtdarstellungen zur europäischen Geschichte verfassen. So wäre die Alte Welt um einige ihrer einflussreichsten historischen Analysen der letzten zehn Jahre ärmer, gäbe es nicht die beiden Kaderschmieden auf der Insel. Briten (in diesem Fall handelt es sich nicht um das grammatikalische Geschlecht) schreiben also europäische Geschichte – und zwar häufig auf der anderen Seite des Atlantiks. Nach Norman Davies’ (ursprünglich und jetzt wieder Oxford, nach einem gescheiterten Flirt mit Stanford) „Europe“ aus dem Jahre 1996, Mark Mazowers (Oxford, jetzt Columbia) „Dark Continent“ von 1998, Harold James’ (Cambridge, jetzt Princeton/EUI Florenz) „Europe Reborn“ von 2003, Tony Judts (Cambridge, jetzt New York University) „Postwar“ von 2005 und Tom Buchanans (Oxford) „Europe’s Troubled Peace“ von 2006 – um nur einige der wichtigsten Werke zu nennen – hat die Wirkungsstätte von H.A.L. Fisher, A.J.P. Taylor und anderen nachgelegt: Bernard Wasserstein, ausgebildet am Balliol College in Oxford und jetzt in Chicago tätig, reiht sich mit seinem „Barbarism and Civilization“ in eine ebenso lange wie beachtliche Reihe ähnlicher Werke ein.

Wie auch beim Gros der anderen Bücher steht bei „Barbarism and Civilization“ Politikgeschichte im Vordergrund, wird jedoch immer wieder um sozial-, wirtschafts- und kulturhistorische Ausführungen ergänzt. Das Werk teilt mit seinen Vorgängern auch das Ziel, dass es mehr sein will als eine Darstellung zu Westeuropa. Zudem wird selbst die allerjüngste Vergangenheit mit behandelt, zu der erst wenige solide historische Studien vorliegen. Alle drei Ansprüche löst Wasserstein in hervorragender Weise ein: Die politik-, diplomatie- und militärhistorischen Ausführungen überzeugen durch dichte Analysen, obwohl sie zumeist auf hohe Staatsaktionen und die entsprechenden Akteure beschränkt bleiben. Souverän setzt Wasserstein in elegantem Englisch schier unüberschaubare Literaturen miteinander in Beziehung und wägt sie zumeist in überzeugender Weise gegeneinander ab (soweit der Rezensent selbst in der Lage ist, dies zu beurteilen). Nur selten stützt er sich auf relativ fragwürdige Quellen wie etwa Alain Peyrefittes Wiedergaben von Äußerungen Charles de Gaulles.

Lesenswert machen das Buch auch die vielen überraschenden und liebevoll erzählten Details, gerade in den nicht-politikhistorischen Teilen. Das immens gelehrte Buch, das mit der Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs einsetzt, klärt über die Verwendung von Blutegeln für medizinische Zwecke in französischen Dörfern der Jahrhundertwende ebenso auf wie über Abwasserprobleme in Schweden, Verhütungspraktiken in Italien oder das Verkehrsaufkommen im Ostpolen der Zwischenkriegszeit. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass das Bildmaterial des Bandes wenig Überraschendes bietet: Politiker, im Porträt oder in der Gruppe, dominieren – und diese Fotos lassen das Buch konventioneller erscheinen, als es im Textteil ist. Wasserstein schreitet in Siebenmeilenstiefeln durch verschiedene europäische Regionen, wobei es ihm wie wenigen anderen gelingt, die bislang dominierende Fokussierung auf Westeuropa zu überwinden (obwohl in Fußnoten und Bibliographie bedauerlicherweise auch hier englischsprachige Werke überwiegen, immerhin ergänzt durch Studien auf Französisch und Deutsch). Auch die Ausführungen zu den Kriegen in Ex-Jugoslawien und andere Einblicke in die allerjüngste Vergangenheit überzeugen durch einen Blick für das Wesentliche sowie durch erhellende Miniaturen.

Zwei gravierende Probleme bleiben. Zum einen gibt es nur dünne übergreifende Fäden, welche die Vielzahl narrativer Läufe auf den knapp 1.000 Seiten zusammenhalten. Angelehnt an Walter Benjamin betont Wasserstein zwar, dass er Zivilisation und Barbarei als miteinander verschränkte Phänomene versteht. Die Art dieses Nexus bleibt jedoch vage, ebenso wie die Antwort auf die Frage, was an diesem Verhältnis nun für Europa oder das 20. Jahrhundert charakteristisch sein soll. Mazower zum Beispiel verstand in seinem „Dark Continent“ Gewalt als Schattenseite und intrinsischen Teil der europäischen Moderne. So gelang ihm vor zehn Jahren ein interpretatorisch deutlich kohärenterer, ein ebenso pointierter wie provokanter Wurf. Durch konzeptionelle Abstinenz überwiegt bei Wasserstein dagegen letztlich ein recht konventionelles Fortschrittsnarrativ. Besonders deutlich zeigt sich dies an seinen Ausführungen zum Zweiten Weltkrieg: Hohe Politik und Militärgeschichte dominieren; der Holocaust wird in ein recht kurzes Unterkapitel abgeschoben. Wie Genozid und Weltkrieg, Massentötung und Moderne, Gewalt und Zivilisation zusammenhängen, bleibt unklar. Die Brisanz von Nationalsozialismus, Faschismus oder Stalinismus wird dadurch entschärft, dass sie einseitig dem Bereich der Barbarei zugeschlagen werden, anstatt sie auch als Teil „europäischer Zivilisation“ zu verstehen.

Zum anderen bleibt Wassersteins Begriff von Europa vage. In überpointierter Weise betont er zu Beginn, dass Europa während der längsten Zeit des 20. Jahrhunderts eigentlich eine „fiction“ gewesen sei, da es als Bezugspunkt von Loyalität oder auch nur als bedeutsame Kategorie für die meisten Europäer nicht bestanden habe (S. VIII). Wenn dem so ist, wie kann man dann eine europäische Geschichte schreiben? Wasserstein eskamotiert das Problem leider sofort wieder, legt sich auf ein geographisches Europa fest (inklusive der europäischen Teile der Türkei und Russlands – eine unreflektierte Tautologie!) und erzählt munter darauflos. So entsteht ein erstaunlich eurozentrisches Narrativ. Dass etwa die beiden Weltkriege globale Ereignisse waren, wird weitgehend marginalisiert. Freilich erwähnt Wasserstein Pearl Harbor oder die Dekolonisation. Diese Passagen bleiben jedoch knapp und konventionell. Das in vielen Passagen so anregende Buch vermittelt zum Beispiel kein Gespür dafür, dass im Ersten Weltkrieg auf Flanderns Feldern mehr Inder als Belgier fielen oder dass die Weltwirtschaftskrise ein globales Wirkungsgefüge war. Der relative Ort Europas auf der Welt – und das wechselnde Verständnis dessen, was überhaupt als Europa verstanden wurde – werden nicht ausgelotet. Europäische Geschichte bleibt vielmehr auf sich selbst reduziert: Sie konstituiert sich aus sich heraus und genügt sich selbst. Angesichts dessen ist es ungewollt ironisch, dass sich das bei Oxford University Press erschienene Buch an die amerikanische und nicht an die britische Rechtschreibung hält. Offensichtlich lässt sich in Zeiten globaler Märkte eine parochiale Position letztlich doch nicht durchhalten.

Zusammengefasst: Ein Buch, an dem man künftig nicht vorbeikommen wird. Und eines, an dem sich nicht nur die nächste Autorenkohorte aus Oxford oder Cambridge kritisch abarbeiten sollte.

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