P. Vologodskij: An der Macht und im Exil

Titel
An der Macht und im Exil/Vo vlasti i izganii. Das Tagebuch des Premierministers antibolschewistischer Regierungen und Emigranten in China (1918-1925)/Dnevnik prem'er-ministra antibol'ševistskich pravitel'stv i emigranta v Kitae (1918-1925 gg.)


Autor(en)
Vologodskij, Petr V.
Herausgeber
Wulff, Dietmar; Lyandres, Semion; Lar'kov, Nikolaj S.
Reihe
Forschungen und Dokumente zur neuesten Geschichte Russlands 9
Erschienen
Rjazan' 2006: NRIID
Anzahl Seiten
613 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolaus Katzer, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr

Neun Jahrzehnte nach seiner Entstehung erscheint das Tagebuch eines Hauptakteurs der antibolschewistischen politischen Opposition an der Ostfront des russischen Bürgerkrieges. Sein Verfasser, der Rechtsanwalt Pjotr W. Wologodski (1863-1925)1, gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des sibirischen Regionalismus. Ungeachtet seiner prominenten Stellung in der vorrevolutionären politischen Szenerie Sibiriens – Wologodski war Mitglied der städtischen Duma von Tomsk (1901 bis 1917) und Deputierter der II. Staatsduma – verschaffte ihm die kurze Amtszeit als Ministerpräsident unter dem diktatorischen Regime Admiral Koltschaks in Omsk im Jahre 1919 den zweifelhaften Ruf eines „pragmatischen Karrieristen“.2 Wohl nicht zuletzt deshalb geriet er nach seinem Tod rasch in Vergessenheit. Dabei lassen sich anhand seiner Biographie die hochgesteckten politischen Hoffnungen der Regionalisten (oblastniki) in der Revolutionsepoche studieren. Sie sahen in „ihrem“ Sibirien ein „Land der Freiheit“ und stellten sich vor, es zur Wiege eines erneuerten Russlands zu machen. Doch für Wologodski, den vormals entschiedenen Gegner der Todesstrafe, der als „Separatist“ unter Beobachtung der Geheimpolizei gestanden hatte, musste der Bürgerkrieg das Ende aller Träume von sibirischer Autonomie und föderalem Staat bedeuten.

Umso überraschender ist es, dass der Tagebuchschreiber dieses Trauma weitgehend unsentimental dokumentiert. Weder Erbitterung noch Larmoyanz bestimmen den Ton der Aufzeichnungen dieses Mannes, der beanspruchte, kein willfähriges Werkzeug eines Diktators zu sein. Allerdings fügte er sich ebenso klaglos (bzw. „zeitweilig“, wie er meinte) in die großrussischen Ambitionen Koltschaks und erwartete von diesem nach dem Staatsstreich im November 1918 nichts weniger als die „Rettung Russlands“ (S. 120). Dabei störte ihn nicht länger, dass den nicht ortsansässigen Militärs und Zivilisten Omsk lediglich als Durchgangsstation für den großen Marsch auf Moskau galt. Denn Wologodski ließ sich nun selbst vom Optimismus derer anstecken, die über dem Traum vom baldigen Einzug in den „Heiligen Kreml“ die unerledigten sozialen und politischen Probleme auf dem weiten Weg dorthin mit legalistischen Argumenten aufzuschieben bereit waren. Angesichts der untereinander zerstrittenen Regionalisten bedeutete die Rückbesinnung auf Russlands einstige Größe das Eingeständnis des Scheiterns der Peripherie.

Wologodskis Tagebuch steht am vorläufigen Ende einer langen Reihe von Selbstzeugnissen der Bürgerkriegsjahre, die seit Beginn der 1920er-Jahre publiziert wurden. Wenig Beachtung fand bisher, dass sie einen über Jahrzehnte hinweg nachwirkenden Erfahrungsschatz an Überlebensstrategien konservierten.3 Erst im Zuge der jüngeren sozial- und kulturhistorischen Blickerweiterung wurden die Selbstzeugnisse als wichtige Quelle für eine Gesellschaftsgeschichte des siebenjährigen Ausnahmezustands von 1914 bis 1921 entdeckt.4

Wologodskis Tagebuch gehört zweifellos zur Kategorie erstrangiger Dokumente der Umbruchsepoche von Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg, Nachkriegszeit und Exil, wenngleich der erste Eintrag vom 24. Mai (1. Juni) 1918 die Erschütterungen der Jahre 1914 bis 1917 stillschweigend voraussetzt. Wologodski ist entschiedener Gegner der Sowjetherrschaft, ohne sie beständig zu dämonisieren und zu karikieren. Er stellt sich in die Tradition der vorrevolutionären Bildungsschichten, ringt mit der regelmäßigen Aufzeichnung um Selbstvergewisserung und um Rechtfertigung seiner politischen Tätigkeit. Wologodski beginnt seine Notizen zwar im Bewusstsein, Zeuge einer historischen Zäsur zu sein. Dennoch signalisiert bereits der erste Satz, dass er nicht die Emphase, sondern die Lakonie bevorzugt: „Ich habe beschlossen, Tagebuch zu führen.“ (S. 56) Dies bedeutet für ihn, Sitzungen der Regionalduma oder des Ministerkabinetts zu resümieren, Reden ausführlich zu zitieren, Gesetzesvorhaben zu erläutern und nicht zuletzt Gespräche von Akteuren des inneren zivilen und militärischen Machtzirkels an unterschiedlichen Schauplätzen in Sibirien und im Fernen Osten zu rekapitulieren. Gerade von der Qualität des Personals und von den persönlichen Beziehungen der Hauptakteure hängt nach Wologodski das Gelingen der Politik ab. Dahinter treten die Bindungen an Parteien, Programme und Ideologien zurück.

Während der Bürgerkriegsjahre überwiegt bei Wologodski trotz aller Rückschläge eine erstaunliche Zuversicht. Allerdings war er kränklich, ließ sich immer wieder vom Dienst beurlauben und neigte in solchen Phasen bei der Niederschrift seiner Gedanken zur Langatmigkeit. Dabei stilisiert er seine Erlebnisse stellenweise zu historischen Sternstunden. So berichtet er am 24. Juni 1919 von einer Sitzung des Ministerrates der Omsker Regierung, die er als „großen parlamentarischen Tag“ verbucht und unbedingt vor dem Vergessen bewahren will. Während die offiziellen Protokolle „einer Katastrophe“ zum Opfer fallen könnten, bewahre sein Zeugnis das Ereignis für die Nachwelt. Das Tagebuch wird zur staatsmännischen Pflicht (S. 176-179). In der Emigration in China gerät der Optimismus in scharfen Kontrast zu dem ungewohnt kärglichen äußeren Dasein, auf das er zurückgeworfen wird. Dies mag erklären, warum er das zuvor nahezu vollständig ausgeblendete Familiäre oder Auskünfte über persönliche Interessen, Vorlieben und Überzeugungen nicht mehr konsequent aus dem Tagebuch fernzuhalten vermochte. Der Chronikstil wird indessen beibehalten. Wenn schon die äußeren Umstände Größe und Erhabenheit vermissen ließen, spendeten wenigstens die regelmäßigen Schreibübungen im gehobenen Stil oder ein Blick in die Vergangenheit Trost. Warum die Gegenregierungen durch die breite Bevölkerung so wenig Unterstützung fanden, kann Wologodski nicht so recht erklären. Er gesteht „Hilflosigkeit“ in der Agrarfrage auch noch nach dem Ende des Bürgerkrieges ein. Zu komplex erschien ihm die Mentalität der Bauern, um seiner Phantasie mehr als eine Gesetzesregelung durch eine künftige Konstituierende Versammlung abringen zu können (S.197f.).

Von den Geschehnissen in Sowjetrussland war Wologodski seit Anfang 1920 nahezu vollständig abgeschnitten. In Charbin musste er sein Informationsbedürfnis meist vom Hörensagen und über Gerüchte befriedigen. Wenigstens von der internationalen Politik gegenüber den Siegern des Bürgerkrieges erfuhr er aus der Presse. Aus dem Spieler auf der vermeintlich großen politischen Bühne war ein namenloser Bittsteller in einem fremden Land geworden. Er musste sogar um die bescheidene Anstellung bei der Chinesischen Ostbahn bangen. In den vermehrten Phasen der Niedergeschlagenheit klammerte er sich an die Vision einer wundersamen Rückkehr in ein „befreites Russland“. Sowjetischer Staatsbürger wollte er hingegen keinesfalls werden (S. 349). In der Emigrationsgesellschaft Fuß zu fassen, fiel nicht nur aus materiellen Gründen schwer. Nostalgische Trägheit breitete sich unter den Flüchtlingen aus. So feierte die russische Kolonie die traditionellen Festtage weiterhin nach dem alten Kalender. Sie scherte sich so wenig um die Kalenderreform der Bolschewiki wie um die Reformen der Provisorischen Regierung oder Koltschaks (S. 336). Im letzten Tagebucheintrag vom 7. August 1925, etwa zweieinhalb Monate vor seinem Tod am 19. Oktober 1925, sorgte sich der inzwischen seiner Staatsbürgerschaft beraubte Emigrant um einen neuen Broterwerb und um den Schulbesuch seiner Tochter Sinaida (S. 493 f.). Das zukunftsfroh begonnene Tagebuch versiegt in den Niederungen eines zermürbenden Exilalltags. Der nach dem Ethnographen Grigori N. Potanin (1835-1920) zweite Ehrenbürger Sibiriens starb im Armenhospital des Roten Kreuzes von Charbin.

Die Edition des Tagebuchs ist das Ergebnis einer langjährigen gemeinschaftlichen Forschungsleistung und aller Ehren wert. Nach einer zweibändigen, in Amerika erschienenen Ausgabe von 20025 haben Semion Lyandres und Dietmar Wulff für die Neuausgabe Nikolai S. Larkow als dritten Herausgeber gewonnen. Text und Kommentare wurden kritisch durchgesehen, aber nicht wesentlich verändert. Die Einleitung von etwa fünfzig Seiten führt gründlich in die Werkgeschichte ein und bietet wertvolle biographische Angaben. Insbesondere aber wird das Tagebuch Wologodskis in den Kontext der verstreuten Selbstzeugnisse der Bürgerkriegsepoche gestellt. Die konzisen Anmerkungen, eine ausführliche Bibliographie, ein umfängliches Namensregister, ein Verzeichnis der geographischen Bezeichnungen, eine kleine Auswahl photographischer Zeugnisse und eine Faltkarte des asiatischen Teils Russlands weisen die Herausgeber als ebenso sorgfältige wie kundige Spezialisten aus. Neben den Beständen der Hoover Institution, denen das Original entstammt, wurden für die Kommentierung zahlreiche Nachlässe in weiteren Archiven Amerikas, Russlands, den Niederlanden und Australiens befragt. Wologodskis politisches Weltbild erschließt sich auf diese Weise trotz seiner kargen Selbstauskünfte. Es gewinnt vor dem Horizont der politischen Ideen, der Parteiprogramme und der Staatsbildungsprojekte der Revolutionsepoche an Konturen. Wologodski steht dabei für eine Generation politischer Akteure, die inmitten des institutionellen Chaos, der alltäglichen Gewalt und der Fragmentierung der noch jungen Parteienlandschaft dem „überparteilichen“ Ideal einer renovatio imperii durch Einrichtung einer liberalen und föderalen Ordnung anhing.

Anmerkung:
1 Die Umschrift russischer Begriffe und Eigennamen im Text folgte der Duden-Transkription. Die Literaturangaben in den Anmerkungen erfolgen zur eindeutigen Identifizierbarkeit dagegen nach der wissenschaftlichen Transliteration.
2 Pereira, Norman, White Siberia. The Politics of Civil War, Montreal 1996, S. 77. Zur Geschichte Sibiriens im Bürgerkrieg siehe Smele, Jonathan, Civil War in Siberia. The Anti-Bolshevik Government of Admiral Kolchak, 1918-1920, Cambridge 1996; Petroff, Serge, Remembering a Forgotten War. Civil War in Eastern European Russia and Siberia, 1918-1920, Boulder 2000. Als Parallellektüre zu Wologodskis Tagebuch sind insbesondere die früh erschienenen Memoiren des Weggenossen Georgi K. Gins (1887-1971) aufschlussreich (Sibir’, sojuzniki i Kolčak. Povorotnyj moment russkoj istorii. 1918-1920 gg. Bd. I-II, Peking 1921).
3 Nützliche bibliographische Orientierung bieten Arans, David, How we lost the Civil War. Bibliography of the Russian Emigre Memoirs on the Russian Revolution, 1917-1921, Newtonville 1988; Drobižev, V. Z. (Hrsg.), Sovetskoe obščestvo v vospominanijach i dnevnikach. Annotirovannyj ukazatel’ knig, publikacij v sbornikach i žurnalach, Bd. 1-4, Moskau 1987-2000; Tartakovskij, Andrej G., Terence Emmons und Oleg V. Budnickij (Hrsg.), Rossija i rossijskaja emigracija v vospominanijach i dnevnikach. Annotirovannyj ukazatel’ knig, žurnal’nych i gazetnych publikacij, izdannych za rubežom v 1917-1991 gg., Bd. 1-4, Moskau 2003-2006.
4 Vgl. dazu grundlegend Schulze, Winfried, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996; Micheev, Michail, Dnevnik kak ego-tekst. (Rossija, XIX-XX v.), Moskau 2007.
5 A Chronicle of the Civil War in Siberia and Exile in China: The Diaries of Peter Vasil’evich Vologodskii, 1918-1925. Vol. 1-2. Compiled, edited, and introduced by Semion Lyandres and Dietmar Wulff, Stanford 2002. Die Einführung zu dieser Ausgabe ist in englischer Sprache verfasst. Tagebuch und Kommentare sind in Russisch.

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