K. Oschema (Hrsg.): Freundschaft oder "amitié"?

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Titel
Freundschaft oder "amitié"?. Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert)


Autor(en)
Oschema, Klaus
Reihe
Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 40
Erschienen
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Müller, Internationales Graduiertenkolleg "Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert", Universität Innsbruck

Der von Klaus Oschema herausgegebene Sammelband ist Ergebnis eines im Mai 2005 abgehaltenen Kolloquiums an der Universität Bern. Er versammelt neun Beiträge von HistorikerInnen aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland, von denen sich die meisten bereits durch einschlägige Arbeiten zum Thema „Freundschaft“ ausgezeichnet haben. Die Beiträge befassen sich überwiegend mit lateinisch-, französisch- und deutschsprachigen Quellen aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Schwerpunkte setzen diplomatische und hagiografische Überlieferungen sowie Schriften zur politischen Theorie. Damit vermittelt der Band ein umfassendes zeitgenössisches Verständnis von Freundschaft in politischer Praxis, Theorie und ideellem Anspruch. Mit dem Sammelband werden keine überraschenden Ergebnisse geliefert, er bestätigt vielmehr die grundlegenden Studien der jüngsten Forschung um Verena Epp, Claudia Garnier, Oschema und dem einschlägigen Sammelband von Luigi Cotteri. 1 Für die historische Forschung gewinnbringend ist der Versuch, einen semantischen Vergleich besonders deutsch- und französischsprachiger Texte zu geben, der über die Epochengrenzen hinweg Entwicklungslinien nachzuzeichnen vermag.

Freundschaft, darin treffen sich die Ergebnisse aller Beiträge, zählte zu einer wesentlichen Stütze des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens, über die sämtliche Stände der Gesellschaft verfügten, wobei ständische Kriterien durchaus Einfluss auf das Verständnis von Freundschaft hatten. Während der Neuzeit sei allerdings eine allmähliche Bedeutungsverschiebung zu verzeichnen, Freundschaft habe im öffentlichen Raum zugunsten des privaten Lebens an Relevanz verloren (Klaus van Eickels, S. 33), während die Freundschaftssemantik im Bereich der auswärtigen Beziehungen größere Kontinuität bewiesen habe. In van Eickels Beitrag zu Freundschaft im spätmittelalterlichen Europa werden die einschlägigen semantischen Felder – Liebe, Verwandtschaft, Ehe und (Lehns-) Treue – aber leider viel zu knapp aufgezählt und erläutert. Anschließend zeigt er anhand französischer und englischer Beispiele, dass Freundschaft in einer hierarchisierten Gesellschaft nicht von Gleichheit der Freunde geprägt sein musste, sondern auch ein Mittel sein konnte, über die ständischen Unterscheidungen hinweg ein einvernehmliches und wechselseitiges Verhältnis aufzubauen. Ebenfalls nur skizzenhaft entwirft van Eickels drei wesentliche Merkmale des Wandels im neuzeitlichen „Freundschaftsdiskurs“: die Entstehung von Neutralitätsvorstellungen im 15. Jahrhundert, der bereits angesprochene Bedeutungsverlust von Freundschaft im öffentlichen Raum sowie die „Verschiebung homosozialer Bindungen aus der Mitte der Gesellschaft an die ,borders of the illicit‘ um 1900“: An die Stelle der „moralischen Taxonomie“ sei die zuvor „unbekannte Dichotomie Homosexualität/Heterosexualität“ getreten (S. 32f.).

Der Beitrag von Claudia Garnier führt die Bedeutungen der semantischen Felder vornehmlich anhand der Bündnisse der rheinischen Kurfürsten des 13. und 14. Jahrhunderts näher aus. Sie untersucht gleichheitliche Fürsteneinungen, die von den Zeitgenossen auch „Freundschaften“ genannt wurden, die Kraft der Freundschaft beim königlichen Werben um neue Gefolgsleute und die Notwendigkeit von Freundschaftsverträgen, um Auseinandersetzungen innerhalb von Verwandtschaft und Bündnis durch Schiedsgerichte friedlich zu lösen. Der öffentlichen Demonstration von Freundschaft, vor allem durch eine stark emotional betonte Gestik, wendet Nicolas Offenstadt sich am Beispiel der englischen und französischen Friedensbemühungen im ausgehenden Mittelalter zu. Harmonie sei nach den Vorstellungen der „Agapé“, also nach einem Verständnis des Gebens ohne Erwartung einer Gegengabe, immer wieder eingefordert worden. Klaus Oschema schließlich widmet seinen Beitrag dem Neutralitätsgedanken vornehmlich in hagiografischen Texten des späten Mittelalters. Freundschaft und Feindschaft seien als strukturierende Konzepte personaler Beziehungen und politischer Bindungen verstanden worden (S. 82), das „Ergebnis eines Mangels war, indem nämlich eine ‚neutrale‘ dritte Option zunächst gar nicht zur Verfügung stand, und sich dann erst langsam als (immer noch defizitäre) Alternative entwickelte. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass es hier nicht nur um eine politisch-militärische Handlungsoption ging, sondern dass diese grundlegend mit den basalen Wertekategorien einer Gesellschaft verknüpft war, deren Maßstäbe weiterhin in einem stark adlige dominierten Diskursrahmen geprägt wurden“ (S. 105). Vertraglich zugesicherte Neutralität finde sich daher, wohl aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus, anfangs vor allem im bürgerlichen Milieu.

Die vier Beiträge zum frühneuzeitlichen Verständnis von Freundschaft werden durch drei Schwerpunkte geprägt: 1. eine semantische Bestimmung des Freundschaftsbegriffs, 2. Funktionen der Freundschaftsverträge (Einungen) sowie 3. die theoretische Durchdringung der gesellschaftlichen Vorstellungen von Freundschaften im Verhältnis zur administrativen Durchdringung von Herrschaft und Staat. Jérémie Foa analysiert die bisher wenig beachteten städtischen Freundschaftsverträge während der französischen Religionskriege unter der Herrschaft Karls IX. von Frankreich (1560-74). Sie seien innerhalb der Kommunen von der konfessionell gespalteten Bürgerschaft geschlossen worden, um durch eine „vertragliche“ Einheit die Sicherheit der Städte zu gewährleisten. Vorbilder, zumindest auf sprachlicher Ebene, seien die königlichen Befriedungsedikte des 16. Jahrhunderts gewesen. Michael Jucker befasst sich ebenfalls mit städtischen Verträgen, allerdings mit den eidgenössischen, die nicht innerhalb der Bürgerschaft geschlossen wurden, sondern von den Städten untereinander oder mit den Nachbarherrschaften. Besonderes Augenmerk legt Jucker auf den allmählichen Eingang der Begriffe „Freundschaft“ und „Brüderlichkeit“ in die Kanzleisprache der Eidgenossen, der um die Mitte des 14. respektive in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stattfand, sowie deren Fortschreibung in den ausgefertigten Urkunden. Während „Freundschaft“ auf Wechselseitigkeit beruhe, auf vergangene Traditionen und auf Künftiges verweise, betone „Brüderlichkeit“ das Verhältnis der Partner wesentlich mehr. Der Studie fehlen allerdings die notwendigen Vergleiche mit Kanzleien außerhalb der Schweiz und mit den zeitgenössischen Formelbüchern. Auch der Begriff „Brüderlichkeit“ sollte eingehender untersucht werden, fand er doch nicht nur im Formular geistlicher Würdenträger Anwendung, wie Jucker anmerkt, sondern konnte auch konkrete (vertragliche) Beziehungs- und Rechtsverhältnisse anzeigen, zum Beispiel in Erbeinungen und Erbverbrüderungen. Letztlich sollte auch danach gefragt werden, wie die Prozesse bei der Einführung neuer Begrifflichkeiten in ein Freundschaftsverhältnis verliefen, welches Verständnis man voraussetzen und welche „Mehrbelegungen“ der semantischen Felder daraus erfolgen konnten.

Die beiden letzten Beiträge von Andrea Iseli und Andreas Würgler beruhen auf verschiedenen Quellengrundlagen, kommen aber zu einem annähernd gleichen Ergebnis. Während Iseli an den Schriften von Jean Bodin, Johannes Althusius, Samuel von Pufendorf und Jacques Rousseau herausarbeiten kann, dass Freundschaft in den Augen der Theoretiker ihren bisherigen Stellenwert für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft insofern verlor, als sie eine „vor-staatliche Notwendigkeit“ gewesen sei, für die „Beziehungen zwischen den staatlichen Gemeinschaften“ aber noch ein erhebliches Maß an Einfluss besaß (S. 157), untersucht Würgler einerseits die diplomatischen Verbindungen der Eidgenossen zu Frankreich, andererseits die Kommunikation innerhalb der Eidgenossenschaft. Der Begriff „Freundschaft“ habe keine rechtliche Bedeutung gehabt, er sei flexibel und bedeutungsoffen gewesen. Daher habe er sich für diplomatische Zwecke, in denen hierarchische und kulturelle Hürden zu nehmen waren, besonders angeboten.

Insgesamt entwirft der Sammelband ein weitgefächertes Bild der Freundschaft als grundlegendes Bindemittel der mittelalterlichen Gesellschaft und Politik. Die Beiträge zeichnen gemeinsame Zielvorstellungen aus, so dass sich Entwicklungstendenzen in Mittelalter und Neuzeit nachvollziehen lassen. Oschema verschenkt allerdings die Gelegenheit, die Ergebnisse ertragreich zusammenzufassen, etwa die Entwicklung der Freundschaftsverträge, die theoretischen Auseinandersetzungen über Freundschaft oder deren gesellschaftliche Funktionen. Weitgehend ungeklärt bleibt auch die Titelfrage: „Freundschaft oder amitié?“ Einen tatsächlichen zwischensprachlichen Vergleich geben allein Oschema und Würgler. Ungeachtet dessen bereichert der Sammelband die Forschungen zu Freundschaften aus historischer Sicht durch seine Detailstudien und seinen epochenübergreifenden Ansatz.

Anmerkung:
1 Cotteri, Luigi (Hrsg.), Il concetto di amicizia nella storia della cultura europea, Merano 1995; Epp, Verena, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter, Stuttgart 1999; Garnier, Claudia, Amicus amicis, inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert, Stuttgart 2000 und Oschema, Klaus, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution, Köln 2006.

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